Quelle: https://www.srf.ch/audio/kontext/eine-komponistin-dem-vergessen-entrissen-charlotte-sohy
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Die Wende ins 20. Jahrhundert leitete in Jahrzehnte voller Spannungen, politischer Auseinandersetzungen und kriegerischer Konflikte ein. Dass dies auch Auswirkungen auf Kunst und Musik hatte, dürfte bekannt sein. In dem Zusammenhang springt mit Gustav Mahlers neunten Sinfonie vor allem ein Werk ins Auge, das anekdotisch gerne als Vorwegnahme des ersten Weltkriegs bezeichnet wird. Eine zerrissene Tonsprache und die lange unaufgelösten Konflikte in Mahlers „Abschiedssinfonie“ dürften Ursache dafür sein – alles Aspekte, die in einem anderen Werk ebenfalls vorhanden sind, das lange Zeit zwar vergessen war, jedoch viel besser im Bezug zum ersten Weltkrieg steht: Die Sinfonie von Charlotte Sohy.
Charlotte Sohys Sinfonie in cis-Moll – einer sehr selten verwendeten Tonart – ist bereits aufgrund ihrer Entstehung äußerst spannend. Vermutet wird, dass der Tod von Albéric Magnard 1913, einem engen Freund von Sohy und ihrem Ehemann, Anlass zur Komposition dieses Werks war, da es dieselbe Tonart trägt, wie Magnards letzte Sinfonie. Tragisch ist auch, dass Charlotte Sohy diese Sinfonie nie im Konzert miterleben durfte, denn die Uraufführung fand erst 2019 – über 60 Jahre nach ihrem Tod – statt.
Stark deutet dieses zwischen 1914 und 1917 entstandene Werk darüber hinaus den Bezug zum Ersten Weltkrieg an. Der Titel „Grande Guerre“ (zu Deutsch „Großer Krieg“ – synonym zum Ersten Weltkrieg zu verstehen) stammt zwar nicht von der Komponistin selbst. Die Tatsache aber, dass Sohys Ehemann selbst einberufen wurde, während sie an diesem Werk schrieb, und man ihn in den Verwirrungen um den Kampf von Verdun erst für Tod erklärte, bevor er eine Woche später lebend aufgefunden wurde, lässt mindestens eine thematische Nähe annehmen. So soll auch der erste Satz diese durch Schriftwechsel festgehaltenen Ereignisse widerspiegeln.
Tatsächlich macht eine düstere, von Streichern geführte Einleitung den Beginn. Zu dieser brechen immer wieder Lichtblicke mit Harfenklängen und Akzenten der Holzbläser durch, wobei diese Phase vor allem von aufstrebenden Seufzer-Motiven getragen wird. Diese gießen sich schließlich in einen Strom aus bebenden Klangfiguren wieder ins Hauptmotiv, das sich jedoch nicht recht gegen das Aufwühlen im Orchester behaupten kann. Bereits hier entstehen Assoziationen an Mahlers neunte Sinfonie. Ein steter Wechsel von hoffnungsvoll schmachtenden und durch die Tonarten gleitenden Ausblicken mit dem von Düsterheit getragenen Hauptthema ist auch hier die Folge, was einen Satz voller Farben und Abwechslung ergibt.
Sohy beweist dabei eine meisterhafte Fertigkeit im Wechsel der Orchesterfarben. So oft, wie sie Klangfarben und Tonarten durchmischt, entsteht ein geradezu natürlich wirkender Fluss. Dadurch wird zwar das Hauptthema ab und an verwässert – diese Gefahr besteht aber auch bei anderen Komponisten, die sich mehr auf den expressionistischen Aspekt von Musik anstatt aufs Handwerk konzentrieren.
Auf der anderen Seite bedeutet dies, dass ihre Musik zum mehrmaligen Hören einlädt. Denn auch beim zweiten, fünften oder zehnten Mal ist man überrascht, wo man doch wieder das Hauptmotiv versteckt in einer der Nebenstimmen entdeckt. Ganz so, wie eben auch bei den „großen Meistern“.
Der zweite Satz stellt in fast kammermusikalischer Akzentuierung sein Tanzmotiv vor, bevor die Streicher einsetzen. Nie verlässt er den sensiblen Klang eines musikalischen Kleinods, auch wenn sich zur Mitte hin ein dramatischer Umschwung einstellt. Zarte Flöten- und Harfenklänge fangen diesen jedoch auf und führen ihn zurück in eine gesangliche Sehnsuchtspassage. Noch öfter, als im ersten Satz, fühlt man sich hier an die farbigen Wechsel in Mahlers neunten erinnert, in der der Komponist auch zwischen verklärender Entrückung und innerer Zerrissenheit schwebt.
Während bei Mahler am Ende die Einkehr in friedliche Stille siegt, kehrt Sohy in ihrem letzten Satz jedoch wieder in das düstere Aufwühlen des ersten Satzes zurück. Eine klare Form mag sich hier lange Zeit nicht einstellen. Eher überwiegen ziellos umherirrende Wellenbewegungen, die immer wieder in Momenten von Pathos enden und wieder abebben. Man merkt, der Satz steuert auf ein erlösendes Finale zu, vor dem er jedoch kapituliert und stattdessen in einem wehmütigen Ausklang mündet. Ein vollauf dramatisches Werk, das wie im Krieg keinen echten Sieg kennt.
Nun bleibt die Frage offen, ob Charlotte Sohy Mahlers neunte Sinfonie gekannt oder sich sogar bewusst daran orientiert hat. Kern von Kolumnen, wie dieser, ist dabei immer eine auf persönlichen Eindrücken beruhende Meinung. Wenn ich also Sohys Sinfonie mit Mahlers Neunten gleichsetze, dann vor allem wegen meines Eindrucks. Sowohl die innere Zerrissenheit als auch das oft überraschende Tonartenspiel der Motive charakterisieren sowohl Sohys „Weltkriegssinfonie“, als auch Mahlers „Abschiedssinfonie“. Die Klangsprache beider Werke scheint mir so ähnlich, dass sie miteinander verwandt sein könnten. Beweise habe ich dafür allerdings keine gefunden.
Um Fragen wie diese aufzudecken, wäre neben weiterer Forschung vor allem auch mehr Spielpraxis wünschenswert. Denn wie hoffentlich auch mein Vergleich schon zeigt, braucht Sohys Werk sich nicht hinter anderen Sinfonien zu verstecken, sondern könnte durchaus mit ihnen konkurrieren. Ob diese Komposition sich auch als Klassiker durchsetzt, ist natürlich auch eine Frage ans Publikum. Mich aber hat dieses Werk als großartige, mögliche Ergänzung für unsere Konzertlandschaft restlos überzeugt. Wer also neue Ideen für den Spielbetrieb sucht: Hier ist ein weiteres Beispiel für Stücke, die gerne mal in unsere Konzertsäle finden dürfen.
Daniel Janz, 17. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ am Sonntag!
Daniels vergessene Klassiker Nr. 34: José Pablo Moncayos klassik-begeistert.de, 3. März 2024