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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Skrjabin – eine jener tragischen und viel zu früh verstorbenen Komponistenpersönlichkeiten, die nur kurz im Rampenlicht standen. Was stand dem gerade einmal 43-jährigen doch die Welt offen. Bis heute ist er für seine Fähigkeit bekannt, Musik in Farben sehen zu können. Es verwundert daher nicht, dass seine Kompositionen auch stets ein ganz besonderes, sinnliches Erlebnis mit sich bringen. Und trotzdem wird er in den Konzertsälen der Welt selten gespielt. Zu selten! Damit sich das ändert, soll heute einmal der Blick auf eine seiner beeindruckendsten Kompositionen geworfen werden: Das (zu Deutsch) „Gedicht der Ekstase“.
„Le Poème de l’Ecstase“, wie dieses Werk im Original heißt, ist nicht die letzte Komposition, die Skrjabin hinterließ, bevor er 1915 an einer Blutvergiftung verstarb. Aber es ist eine seiner ergreifendsten. Mit der Uraufführung 1908 in New York leitete diese Musik einen Siegeszug des Komponisten ein, der bis zu seinem Tod anhalten und ihm großen Ruhm bescheren sollte.
Dabei ist dieses Werk selbst nichts Geringeres, als ein Mysterium. Zeit seines Lebens wurde Skrjabin eine Nähe zum „Mysterium“ nachgesagt, das auch immer wieder in seine Musik hineingedeutet wird. Tatsächlich beschäftigte er sich mit sinnübergreifenden Klangerlebnissen und zog auch Licht- und Farbexperimente in seine Aufführungen mit ein. Etwas, was für uns heutzutage selbstverständlich ist, damals aber Aufsehen erregte. Sicherlich beflügelt durch seine synästhetische Veranlagung sowie seinen Auseinandersetzungen mit Symbolismus und Kontakten zu Theosophen, wird ihm bis heute eine gewisse Aura nachgesagt. Er selbst hatte wohl die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsstufe bringen wollen.
So gesehen kann man „Le Poème de l’Ecstase“ durchaus als Sinnesexperiment und Selbsterfahrung verstehen. Geradezu lieblich ist der Einstieg durch ein Flötenmotiv und zierliche Figuren im hohen Holz. Skrjabin soll diesen Beginn als „Thema der Sehnsucht“ bezeichnet haben. Wie eine musikalische Wurzel flechtet sich dieses Thema in den ersten zwei Minuten durch raffinierte Begleitfiguren, die fast schon impressionistischen Charakter haben.
Und ganz, wie im musikalischen Impressionismus geht es auch hier um den Wechsel der Klangfarben und musikalischen Figuren zueinander. Denn schon bald kippt die Stimmung und auf den wohligen Beginn kommen schärfere Klänge aus der Trompete. Deren „Thema der Selbstbehauptung“, nimmt im Verlauf des gesamten Werks eine Schlüsselposition ein und stößt immer wieder aus den lyrischen Gegenparts heraus. Ein Wechsel, der sich häufiger in diesem Stück vollzieht – wenn auch mit unterschiedlichen Themen. Immer wieder brodelt die Musik auf, kapituliert dann wieder vor dem nächsten Ausbruch und fällt in sich zusammen.
Eine bemerkenswerte Eigenschaft dieser Komposition ist dabei, dass sie lange keine echte Auflösung erlebt. Vor allem alterierte Akkorde prägen hier das Kompositionsbild. In Folge bleibt stets ein Gefühl der Unbeharrlichkeit zurück… ein gewisser Eindruck der Unbefriedigung und des inneren Aufruhrs stellt sich ein – gerade auch, weil die Themen selbst nicht immer plastisch erscheinen. Was aber bleibt ist ein vollständiger Eindruck der Ergriffenheit: Diese Musik zieht in ihren Bann, sie berauscht geradezu.
Faszinierend ist auch, wie Skrjabin das ständige Auf und Ab der Stimmungen gestaltet hat. Immer wieder ist es, als würde die Musik auf ihr kataklystisches Ende zusteuern, nur um dann wieder durch eine neue Episode voller Lieblichkeit abgelöst zu werden. Einen gewissen Fetischismus könnte man hier schon hineininterpretieren. Doch das Wichtige ist die Wirksamkeit und hier möchte ich doch festhalten: Es ist gut, was gefällt. Und bei Skrjabin gefällt die Musik!
Heraus sticht dieses Werk zuletzt aber insbesondere durch sein Finale. Hier kann man gar nicht anders, als es dem Titel entsprechend als eine Eruption der Ekstase zu bezeichnen. Ein gewaltiger, fast schon brutaler Ausbruch von Klangmassen, der sich schließlich in einem C-Dur Finalakkord entläd und hier auch seine Entspannung erlebt. Geballte 20 Minuten Anspannung und Rasen, die hier wohl eine der beeindruckendsten musikalischen Auflösungen bereiten, die jemals komponiert wurde.
Wer den Konzertbesuch also als ein Erlebnis für die Sinne begreift… wer ergriffen, begeistert, ja regelrecht betört werden will, der wird in Skrjabins „Gedicht der Ekstase“ einen wahren Schatz finden. Klar, es darf nicht verheimlicht werden, dass diese Komposition ein überaus großes Orchester verlangt und enorme Anforderungen an die Musiker und Zuhörer stellt. Das ist schon Anstrengung pur, die da auf alle Beteiligten zukommt. Doch es ist eine lohnenswerte Erfahrung, die jeder einmal gemacht haben sollte. In dem Sinne also: Lasst es uns wagen und uns der Ekstase hingeben!
Daniel Janz, 6. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
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Ohne Zweifel ein herausragendes Werk! Vor wenigen Jahren habe ich es mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz gehört, der allerdings für die dargebotene Klangfülle viel zu klein war.
Dr. Lorenz Kerscher