Foto des Programmfolders © Tobias Witzgall
Das fliegende Klassenzimmer
Erich Kästner / Katrin Schweiger
Salzburger Landestheater
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Es war der Kultroman meiner reiferen Kindheit zwischen neun und elf Jahren. Am Anfang ein Vorgeschmack auf das Gymnasium, mindestens fünfmal gelesen und als Erwachsener drei Verfilmungen zuletzt gemeinsam mit meiner Frau gesehen. Paul Dahlke als Klassenvorstand „Justus“ sehen wir lebendig vor uns. Im Gedächtnis eingeprägt ist mir der Ärger des Autors Erich Kästner in seinem Vorwort – ein bei Kinderbüchern ungewöhnlicher Einstieg – bei seiner Lektüre eines Psychologen, der die Kindheit als eine Zeit ohne Sorgen sieht. Das beflügelte ihn in seinem Roman von einer anderen Welt der Kinder zu erzählen.
Der Roman lässt die Zeit vor Weihnachten und den Ferien (dazu viel Schnee) mit seiner knisternden Spannung aufleben, deshalb wundert es uns, dass das Salzburger Landestheater mit dem Musical erst Mitte Jänner herausrückt.
Je näher der Aufführungsnachmittag sich näherte, desto mehr Zweifel befielen uns, ob in knappen eineinhalb Stunden wirklich die von Marco Dott textlich gestaltete und von ihm auf die Bühne gebrachte Musicalfassung mit dem Roman Erich Kästners übereinstimmen kann. Von den Filmen her wussten wir, dass dies funktionierte. Wenn auch einmal die Rivalitäten zwischen Gymnasium und Realschule als Mobbing zwischen Externen und Internen einer Internatsschule modifiziert wurden. Ein Musical hat doch mit seinen Gesangsnummern ein eigenes inneres Ordnungsprinzip. Skeptisch machten dazu noch urheberrechtlich begründbare Wendungen wie „basierend auf“ oder „nach“ Erich Kästners Roman.
Am Ende der Vorstellung konnten wir dann beglückt feststellen: Wie einst beim Lesen waren wir von vielen Dingen genauso berührt. Die darstellende Kunst hat gegenüber der erzählenden Literatur den Vorzug, nicht an Zeitabläufe gebunden zu sein. Wir erleben das Sich-Wiederfinden der Freunde, des Lehrers und des durch Schicksalsschläge zum Sonderling gewordenen ehemaligen Arztes, und gleichzeitig im Hintergrund die Wiedersehensfreude der Eltern, dass sie ihre Tochter doch noch am Heiligen Abend in die Arme schließen können. Zwei Szenen werden zum Quintett. Was durch die Ver-Dichtung entfällt, das Bangen, ob ihr erwachsener Freund, den die Kinder im Wald in seinem ausrangierten Eisenbahnwaggon immer wieder besuchen, wirklich der verloren gegangene Freund ist, von dem ihr Lieblingslehrer ihnen erzählte.
Wenn sie dann ihren geliebten Lehrer als Weihnachtsüberraschung zu dem versteckten Ort führen, fällt ihnen (und den Lesern) ein Stein vom Herzen, als sie die beiden wiedergefundenen Freunde sich umarmen sehen.
Der neunjährige Enkel Aeneas fragte uns in der Pause, warum der Freund der Kinder den Spitznamen „Der Nichtraucher“ trägt. Der Eisenbahnwaggon wird nur von außen gezeigt und bei einem heutigen generellen Rauchverbot gibt es keine Raucher- und Nichtraucherabteile mehr. Eine zweite Frage in der Pause: Wann fliegt das Klassenzimmer? Eine weitere Spannung vor Weihnachten, fällt also weg: die Proben für das von den Schülern inszenierte Theaterstück mit dem Requisit eines Flugzeugs, damit die Schulklasse nicht im engen Raum eines Klassenzimmers, sondern die Welt vor Ort (kennen) lernen soll. Doch Moment! Ist das umweltfreundlich? In der Fantasie beginnen die Schüler selbst zu fliegen, als Sinnbild für neue Ideen, und erleben so ihre Erde, die es zu schützen gilt.
Schon aus der Vorschau mit ihren Werbebildern haben wir entnommen, dass im Musical auch Mädchen in Hauptrollen mitspielen. Von unsrer Schulzeit her in den Fünfzigerjahren wissen wir, dass in den gemischten Klassen in dem gezeigten Alter die Interessensschwerpunkte noch ziemlich parallel liefen. Interessant fanden wir daher wie hier Mädchen und Buben schon in dem jüngeren Gymnasialalter an einem Strang ziehen. Dies scheint auch der Grund zu sein, dass der Entscheidungskampf der zwei Stärksten der beiden rivalisierenden Schulen nicht in eine rohe Rauferei ausartet, wie auf dem Cover des Buchs zu sehen ist, sondern eine Kraftprobe ist entscheidend.
Ulis Mutprobe lässt vor allem uns Großeltern ratlos stehen. Im Original klettert der Mut beweisen wollende Uli eine Turnleiter im Freien hinauf und glaubt mit einem aufzuspannenden Regenschirm als Fallschirm springen und landen zu können. Doch der Schirm kippt und Uli stürzt im freien Fall. Vielleicht wollten die MusicalautorInnen angesichts der jungen BesucherInnen eine Nachahmung verhindern, aber ein Sprung von einer hohen Mauer stellt ebenfalls ein Problem dar.
Das alles trägt die bewährte Handschrift hinsichtlich Text und Regie von Marco Dott, durch Bühne und Kostüme realisiert von Manuela Weilguni. Katrin Schweigers Komposition zeigt mehr Reichtum und Fantasie als so manches Musical, das um die Welt ging. Und zur Musik der tolle Rhythmus! Bei unsrer Aufführung leitete nicht die Komponistin persönlich, sondern der ebenfalls junge und dynamische Manuel Lauerer das Orchester des Landestheaters, das hier besser als Band zu bezeichnen ist. Josef Vesely und Kate Watson zeigen ihr darstellerisches und choreografisches Können, wenn sie uns eine Unterrichtsstunde mit aufgeweckten Kindern miterleben lassen.
Alexander Sichel als Der Nichtraucher mit beeindruckendem Einführungssong und Thomas Wegscheider als einfühlsamer Lehrer, der durch ein einschneidendes Jugenderlebnis ein Lehrer werden wollte, zu dem die Kinder Vertrauen gewinnen können, merkt man die große Musicalerfahrung an. Der sehr produktive Schauspieler und Kabarettist Edi Jäger kann dem überstrengen Typ eines Lehrers, den wir selbst nur mehr aus den Erzählungen unsrer Eltern kennen, nur wenige skurrile Züge verleihen.
Für einen erfolgreichen Abend ist vieles wichtig und entscheidend. Aber das, was das größte Staunen und die hellste Begeisterung auslöste, war der „Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor“, dessen Mitglieder teilweise auch alternierend solistisch auftreten. Man bedenke neben ihrem Beruf als SchülerInnen, wo wenig Routine und dafür eine große Bereitschaft immer wieder Neues zu lernen den Alltag bestimmt, parallel dazu der Gang zu den vielen Proben! Wir haben nachgedacht, ob wir gerade die an unsrem Nachmittag als Matthias, Uli, Martina… Auftretenden namentlich anführen sollen. Es soll das Selbstwertgefühl und die Freude genügen zum Team des Landestheaters zu gehören.
Wir haben schon Erfahrungen mit Dramatisierungen. Manchmal war unser Resümee, dass der Sinn eines solchen Unternehmens allein darin lag, den Roman selbst in die Hand zu nehmen. Sicher ist das den Jugendlichen auch hier zu empfehlen. Aber Katrin Schweiger und Marco Dott haben hier etwas geschaffen, das Eigenwert besitzt. Wieder einmal hat das Salzburger Landestheater seine ausgezeichnete Qualität bewiesen.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 3. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at