Musikalisch nicht ganz jugendfrei: Drei glutvolle Stücke elektrisieren in Lübeck

Debussy, Schmitt, Strawinsky  1. Symphoniekonzert in der Lübecker Musik- und Kongresshalle, 12. September 2022

Photo: 1. Symphonisches Konzert, LMK,  © Jan Philip Welchering

1. Symphoniekonzert in der Lübecker Musik- und Kongresshalle,
12. September 2022


Claude Debussy, Jeux
Florent Schmitt, La Tragédie de Salomé
Igor Strawinsky, Le Sacre du Printemps

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Stefan Vladar, Dirigent

von Dr. Andreas Ströbl

Wer Ohren hatte zu hören, dem wurden sie mitunter rot, als beim 1. Symphoniekonzert in der Lübecker Musik- und Kongresshalle am 12. September 2022 drei triebhaft aufgeladene Stücke der klassischen Moderne mit entschiedener Leidenschaft aufgeführt wurden. GMD Stefan Vladar und das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck präsentierten ein klug und emotional stimmig zusammengestelltes Programm – stimmig einerseits, weil die drei Werke von Debussy, Schmitt und Strawinsky bereits 1913 vom berühmten Impresario Sergej Diaghilev innerhalb kürzester Zeit in Paris auf die Bühne gebracht wurden. Andererseits, weil sie von der vermittelten Stimmung und den Inhalten her verwandt sind. Es geht jedesmal um basale Triebkräfte, einmal scheinbar artifiziell gezähmt, dann in Gestalt pervertierten Begehrens und schließlich in der Form des Opfers, um ein archaisches Fruchtbarkeitsritual mit tödlichem Ausgang zu zelebrieren.

Debussys „Jeux“ malen mit der für ihn typischen Klangsprache aus pointillistischem Flirren, sanften, rasch aufgelösten Dissonanzen, gekonnt eingesetzten Schlagwerk-Akzenten und goldenen Harfen-Arpeggien eine schwüle Atmosphäre, in der sich zwei Mädchen und ein Junge auf dem Tennisplatz begegnen und in einen Reigen gleiten, sich necken, küssen, tanzen und tändeln, wozu Becken und Zimbelklänge eine geheimnisvolle Tiefe entwerfen. Das Stück kommt leicht daher, die komplexe Instrumentierung entwirft reiche, sommerabendwarme Klangbilder. Durch Tempo- und Rhythmuswechsel entsteht eine erotische Spannung und verbliebe das Stück nicht durch Titel und Programmatik zumindest nach außen hin auf dem Tennisplatz, so hätte es auch „Danse érotique – un ménage à trois“ heißen können. Dann aber hätte es den Skandal gegeben, denn Strawinsky für sein „Sacre“ verbuchen durfte.

Das musikalisch anspruchsvolle Stück endet nach eindeutigen Steigerungen und beständigem Vorwärtsstreben ganz bewusst humorvoll und harmlos mit einem auf den Platz geworfenen Ball – Plopp! War doch nur ein Spiel! Oder?

Vor dem Hintergrund des drohenden windigen Lübecker Herbstes zauberten Vladar und das Orchester so das wunderbar warme spätsommerliche Klanggemälde eines viel zu selten aufgeführten Stückes.

Dies gilt ebenso für die „Tragédie de Salomé“ des Elsässers Florent Schmitt. Man mag sich gar nicht vorstellen, dass dieser Komponist ein ausgemachter Faschist und Hitler-Anhänger war, denn seine Musik integriert mit Hingabe und Empathie sanfte orientalische Klänge nach anfangs drohenden Klängen aus Celli, Bässen und tiefgründigem Blech beim Vorspiel sowie mit ahnungsschwerem Kontrafagott beim Hauptteil des Tanzstücks. Man ist an die Gemälde aus dem späten 19. Jahrhundert erinnert, die mit laszivem Pathos Harems-Interieurs entwerfen und Exotismus wie eine schmackhafte orientalische Süßigkeit servieren.

Auch dieses Stück bezaubert mit Steigerungen und fein eingesetztem Schlagwerk, wobei Reduktionen der Impulse neckisch-reizvoll wirken, so wie das Spiel aus Näherung und Verzögerung im Flirt, aus dem dann irgendwann mehr wird. Die Grundstimmung ist nervös und erwartungsvoll; tatsächlich endet die Geschichte bei Schmitt anders als in der biblischen Vorlage und bei Richard Strauss, denn Johannes ist hier eher ein Opfer von Herodias, also Salomes Mutter, und das Mädchen empfindet tiefe Schuld.

Handlung und Empfindungen gibt Schmitt durch ausgefeilte Rhythmik und eine schillernde Instrumentierung wieder. Der Leidenschaft der Musik entsprechend engagiert war Vladars Dirigat, der sich zwischen den beiden Teilen den Schweiß von der Stirn wischen musste. Bevor die Stimmung völlig zerklatscht werden konnte, nahmen er und das Orchester den morbiden Tanz rasch wieder auf; die Violinen entwarfen tremolierend eine feuchtwarme Stimmung, hier schuf das Tambourin eine zauberische Morgenland-Atmosphäre und da lag die Assoziation zu Strauss nicht allzu fern. Becken, Pauke und Blech ließen ein dramatisches Ende ahnen und in aufgeladener Steigerung mit kurzen Abbrüchen und überraschenden Wechseln in Instrumentierung und Stimmung wurde das Gefühlschaos der Protagonistin erlebbar.

Auch hier hatte man den Eindruck, dass dieser Musik eigentlich Erotik und wilde Aufgejagtheit thematisch zugrunde liegen; schließlich schimmern auch bei moralisierenden europäischen Darstellungen solcher von Gefühl gesteuerten Geschichten in der Zeit des Fin de siècle immer die Faszination des Fremden und ein Voyeurismus auf eine entfesselte, exotische Weiblichkeit hindurch.

Die Lübecker hatten in jüngster Zeit zweimal die Möglichkeit sich dem Größten, was Strawinsky je geschaffen hat, nämlich seinem „Sacre du Printemps“, hinzugeben. Am 22. Juli hatte am gleichen Ort Krzysztof Urbański im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals diese ungestüme Beschwörung archaischer Triebhaftigkeit aufgeführt. Bei aller Bewunderung für diesen großartigen Dirigenten – sein „Sacre“ geriet fast zu schön. Diese Szenenfolge aus dem heidnischen Russland, die mit dem Opfertod eines jungen Mädchens zur Besänftigung der uralten Mächte endet, muss heftig, brutal und schonungslos sein. Verwirrende Polytonalität und kaum berechenbar erscheinende Polyrhythmik müssen die Zuhörer in die Sessel drücken, ja reglos machen mit der Kraft eines sibirischen Schamanen, der ohne Berührung, nur durch seine Trommel und seine spirituelle Autorität diejenigen bannt, die er als Opfer ausersehen hat, um dann wieder durch die mitreißenden Rhythmen jede und jeden so aufzuheizen, dass diese sich zusammenreißen müssen, um nicht auch vom Taumel gepackt zu werden und tanzend aufzuspringen.

Das schafften Vladar und das Lübecker Orchester und bereits zu Beginn überzog Gänsehaut die Leiber derer, die sich der mythischen Urgewalt hingaben. Die harten, stakkatohaften Streicher-Striche hatten „Psycho“-Qualität und wie Hiebe ließ Vladar den Taktstock durch die Luft sausen. Ein erneutes Mal wurde hörbar, was für hervorragende Solistinnen und Solisten dieses Orchester in allen Instrumentengruppen hat, die diesem extrem schwer aufzuführenden Werk glänzend gerecht wurden.

Der Beginn des zweiten Teils – musikalisch neben den später folgenden, urtümlich hämmernden Paukenschlägen sicher das Beeindruckendste, was dieses Stück zu bieten hat – ergießt sich wie eine unwiderstehliche Macht über diejenigen, die dafür empfänglich sind. Unruhige eigene Herzschläge sind nicht mehr von den wilden Takten zu unterscheiden und so gibt sich das Opfer mit satter Lust am Entschwinden in höchster Ekstase hin. Der Finalschlag ist tödlich, es ist der letzte Sprung und das Zusammensinken des Mädchens. Das Uralte hat gesiegt, der Tod dient dem Leben und der Frühling hat seinen Tribut erhalten.

Erschlagen war das Lübecker Publikum, das gerne hätte zahlreicher erscheinen dürfen, glücklicherweise nur von der exzellenten Darbietung und zollte langanhaltenden Beifall. Eine wahre Klang-Lust mit großartiger sinnlicher Steigerung!

Dr. Andreas Ströbl, 13. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals Lübeck, Musik- und Kongresshalle, 22. Juli 2022

Schleswig-Holstein Musik Festival, Martin Grubinger Musik-und Kongresshalle Lübeck, 7. Juli 2022

9. Symphoniekonzert in der Lübecker Musik- und Kongresshalle 27. Juni 2022

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