„Der Flüchtige Augenblick“ brennt doch so tief und dauerhaft in der Seele

Der Flüchtige Augenblick, Tanzabend von Edvin Revazov, Antoine Jully und Kristina Paulin  Oper Kiel, 6. April 2024 Premiere

Kintsugi – Leon Gurvitch (Klavier), Baikhadam Tungatarov und Virginia Tomarchio © Olaf Struck

Vier Choreografien und eine musikalische Uraufführung begeistern im Opernhaus in Kiel

von Patrik Klein

Am Anfang blieb die Bühne leer und beinahe dunkel. Die Konturen eines Flügels waren schemenhaft im Bühnenbild zu erkennen. Über den Flügel gebeugt saß der schwarz gekleidete Pianist, von dem nur der Rücken zu sehen war. Auf dem geschlossenen Flügeldeckel  lag eine Tänzerin in strahlendem Weiß gekleidet. Mit Beginn des sehr zarten  Klavierspiels kam Bewegung in die Szene – die Tänzerin nahm Kontakt zum Pianisten auf und  bewegte sich dann vom Flügel weg;  der Pianist streckte sich und erhob sein Haupt. Ein weiterer Tänzer  öffnete den Deckel des Flügels und stellte dem Pianisten das Notenpult auf den Flügel – ein intensives Ensembletanzerlebnis, bei dem der Flügel, die Musik und der Tanz zu einer geschlossenen Einheit verschmolz, nahm seinen Lauf…

Die Choreografen Edvin Revazov, Antoine Jully und Kristina Paulin zauberten am Opernhaus in Kiel mit dem Viererabend „Der Flüchtige Augenblick“ großes Tanztheater auf die Bühne der Landeshauptstadt. Die berührenden Tanzstücke KintsugiThe Dying PoetIs This It?und Gilded Reveriezeigten ausdrucksstarkes, modernes Ballett mit vielen Facetten.

Edvin Revazov, Erster Solist beim Hamburg Ballett und künstlerischer Leiter des Hamburger Kammerballetts, kreierte für den Tanzabend erstmalig ein Stück am Ballett Kiel. Es trägt den spannenden Titel Kintsugi. Kintsugi steht für eine japanische Handwerkskunst, bei der Bruchstücke von Keramik mit einem goldfarbenen Lack wieder zusammengeklebt werden und die Bruchlinien dekorativ verbleiben. So entsteht eine völlig neue Schönheit und Wertschätzung des ursprünglichen Objekts. Diese Kunst stellte Edvin Revazov als Vergleich mit unserer heutigen Wegwerfgesellschaft dar und bezog sich dabei auf Beziehungen, die nach einem Streit eher auseinandergehen, als wieder harmonisiert zu werden. Das gemeinsam mit den Tänzern der Kompanie entwickelte Stück zeigte dann sehr eindringlich, ganz wie der Name prophezeite, dass es oft wertvoller und schöner ist, nach einem menschlichen Zerwürfnis mit neuem Schwung zusammenzukommen und die Beziehung unter neuen Aspekten fortzuführen.

Mit den Choreografien eng verwoben, für sich alleine gesehen bereits ein solistisches Meisterwerk, waren dann die Kompositionen von Leon Gurvitch, die vom Komponisten am Premierenabend selbst gespielt wurden. Der Flügel wurde dabei variabel auf der Bühne verschoben und mit der Choreografie zu einer Einheit verwoben. Die Musik war lebendig, oft gegensätzlich und voller Kontraste. Sie geriet stürmisch,  bäumte sich auf und schrie, oder sie beruhigte, rührte zu Tränen und stimmte nachdenklich, was dem Publikum ausdrucksstark durch das Ballettensemble Kiel  vermittelt wurde.

Neben fünf von den insgesamt sieben Musikstücken der Musique Mélancholie erklangen noch zwei weitere musikalische Leckerbissen, das furiose Stück Force Majeur aus dem Jahr 2020 und der Female Dance, der eigens für den Premierenabend komponiert wurde.

Musik und getanzte Szenen anfangs fragmententarisch und „zerbrochen“ verschmolzen auf der Bühne zu einer  an- und aufregenden optischen und akustischen Traumwelt. Sie erzählten in bewegenden Bildern und Figuren  über die gesamte Bandbreite menschlicher Empfindungen und Beziehungen. „Kintsugi“ – Die Bruchstücke waren wieder zusammengefügt und erhielten einen neuen, tieferen und schöneren Glanz. Am Ende schlich dann die weiße Tänzerin zurück zum Pianisten, nahm neben ihm Platz auf dem Klavierstuhl und schloss den Kreis der getanzten Choreografie.

Immense Ausdruckskraft und Einfallsreichtum wurde dann bei den abseits des Mainstreams der Tanzszene einzuordnenden Choreografien The Dying Poet und Is This It? von Antoine Jully, Chefchoreograf und Ballettdirektor der Ballettkompanie Oldenburg,  mehr als deutlich. Ein klassisches und ein modernes Duett standen sich diametral gegenüber.

The Dying Poet Baikhadam Tungatarov und Gulzira Zhantemir © Olaf Struck

The Dying Poet kam als komplett neue Choreografie auf die Kieler Bühne. Ähnlich wie bei Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater war es dem Kompaniechef wichtig, die Eigenheiten und Tagesstimmungen der Tänzer mit in die Kreationen einfließen zu lassen. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass es hierbei um ein Duett über klassisches Ballett ging. Figuren, Linien und das harmonische Zusammenspiel der Partner standen im Fokus der Interpretation, die von der klassischen Komposition des gleichnamigen Klavierstücks des amerikanischen Komponisten Louis Moreau Gottschalk begleitet wurde. Komponiert wurde das Stück zu Zeiten des amerikanischen Bürgerkriegs. Es schilderte in bedrückender Weise die damalige Melancholie, die Sehnsüchte und Zerrissenheit. Die Solisten Gulzira Zhantemir und Baikhadam Tungatarov zeigten ihr überragendes tänzerisches Können.

Beinahe attacca kam dann das zweite Stück des Choreografen Is This It?, bei dem es wieder modern wurde. Musikalische Grundlage war die Musik des israelischen Folk-Rock-Musikers Asaf Avidan, aus dessem Album Different Pulses drei Stücke erklangen. Hier ging es um die Beziehungen zwischen Mann und Frau, die gegenseitigen Erwartungshaltungen, die Suche nach Nähe oder Abstand. Zwei Seiten einer Person waren auf der Suche nach sich selbst, wo Mut und Resignation eng beieinander lagen.

Es brauchte nur einen Stuhl als Ausstattung, um den einzigen sicheren Ort und das zu Hause zu symbolisieren. Die beiden großartigen Tänzer Virginia Tomarchio und Ricardo Urbina erzählten das Stück in einer Tanzsprache, die beim Betrachter wortlose Saiten zum Erklingen brachten.

Is this it? Virginia Tomarchio  und Ricardo Urbina © Olaf Struck

Kristina Paulin, freischaffende Choreografin, stellte sich bereits 2022 bei den Kieler Jungen Choreografen vor. In dem Stück Gilded Reverie, entwickelt für das Ballett in Kiel, drehte sich schließlich alles um das Leben und Werk des berühmten österreichischen Malers Gustav Klimt. Die Musik dazu komponierte der kanadische Tänzer und Sounddesigner für Bühnenproduktionen Davidson Jaconello, der in seinem Stück Gilded Reverie Werke von Mozart, Arvo Pärt und Edvard Grieg erkennen ließ.

Als visuelle und emotionale Hommage an Gustav Klimts gesamtes Leben mit seiner rätselhaften und tiefgründigen Gedankenwelt, die er in typischen Bildern zum Ausdruck brachte, geriet diese getanzte Interpretation zu einer energiegeladenen Abfolge in fünf Teilen. Ausgangspunkt der Choreografie war sein berühmtes Bild Der Kuss. Die Verwendung seines Werkstoffs Blattgold, seine glühende Beziehung zu Emilie Flöge interpretiert und tänzerisch hervorragend dargestellt durch Leisa Martínez Santana, die abstrakte Darstellung seiner Werke, über sein Leben und den Tod sowie seinen ikonischen Stil  wurden durch unberechenbare und fragmentierte Bewegungen der Tänzer der überragenden Kieler Ballettkompagnie plastisch in Bilder auf der Bühne gegossen. Das Ensemble agierte beinahe wie lebende Leinwände des Malers.  Der Kampf des Künstlers mit der eigenen Sterblichkeit mündete schließlich in einem furiosen Finale als bleibendes Vermächtnis. Ausdruckstark tänzerisch gestaltet wurde  die Figur des Malers durch Ricardo Urbina und  seine „innere Stimme“ durch Filippo Valmorbida.

Gilded Reverie Ballettensemble Kiel © Olaf Struck

Nachdem der Vorhang fiel dann verdienter, enthusiastischer Jubel des Publikums, das zum großen Teil aus erfreulich jungen, bunten Besuchern und Freunden des Tanztheaters bestand.

Patrik Klein, 7. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

Besetzung:

»Kintsugi« 

Choreografie Edvin Revazov

Musik Leon Gurvitch
Ausstattung Verena Hemmerlein
Lichtgestaltung Matthias Hillebrandt
Klavier Leon Gurvitch / Da Yun Choi

Tanz Erika Asai, Sabina Faskhi, Marina Kadyrkulova, Emma Francesca Lucibello, Leisa Martínez Santana, Julia Savchenko, Virginia Tomarchio, Mariia Yaloma, Keito Yamamoto, Gulzira Zhantemir, Christopher Carduck, Jean Marc Cordero, Henri Frey, Alexey Irmatov, Vitalii Netrunenko, Rauan Orazbayev, Didar Sarsembayev, Baikhadam Tungatarov, Ricardo Urbina, Filippo Valmorbida

 

»The Dying Poet«

Choreografie Antoine Jully
Musik Louis Moreau Gottschalk
Ausstattung Antoine Jully
Lichtgestaltung Matthias Hillebrandt

Tanz Gulzira Zhantemir,  Keito Yamamoto, Baikhadam Tungatarov,  Vitalii Netrunenko


»Is This It?«

Choreografie Antoine Jully
Musik Asaf Avidan
Ausstattung Antoine Jully
Lichtgestaltung Matthias Hillebrandt

Tanz Virginia Tomarchio , Erika Asai , Julia Savchenko, Ricardo Urbina , Henri Frey , Vitalii Netrunenko

 

»Gilded Reverie«

Choreografie Kristina Paulin
Musik Davidson Jaconello
Ausstattung Verena Hemmerlein
Lichtgestaltung Matthias Hillebrandt
Gustav Klimt Ricardo Urbina / Henri Frey
Emilie Flöge Leisa Martínez Santana / Gulzira Zhantemir
Innere Stimme Filippo Valmorbida / Jean Marc Cordero

Ensemble Erika Asai, Sabina Faskhi, Marina Kadyrkulova, Emma Francesca Lucibello, Leisa Martínez Santana, Julia Savchenko, Virginia Tomarchio, Mariia Yaloma, Keito Yamamoto, Gulzira Zhantemir, Jean Marc Cordero, Henri Frey, Alexey Irmatov, Vitalii Netrunenko, Rauan Orazbayev, Didar Sarsembayev, Baikhadam Tungatarov, Ricardo Urbina, Filippo Valmorbida

Dramaturgie Dr. Ruth Seehaber
Ballettmeister Heather Jurgensen, Amilcar Moret Gonzalez
Ballettrepetitorin Da Yun Choi
Bühnenbildassistenz Kira Carstensen
Kostümassistenz Johanna Burfeind
Inspizienz Marina Hewig, Mascha Leuenhagen

Ton- und Videotechnik Julian Jetter
Video Frank Böttcher
Technische Leitung Klaus Buchholz Technische Einrichtung Julian Röhring Leitung
Ausstattungsatelier Nina Sievers Beleuchtung Burkard Schmidt Damenschneiderei
Anita Gaffke Herrenschneiderei Moritz Vollmers Maske Kerstin Zühlke Requisite
Marko Scheel Malsaal Rainer Kühn Tischlerei Tobias Schauhoff Schlosserei
Horatio Himstedt Polsterei Dieter Harder Bühnenplastik Peter-Michael Krohn
Maschinentechnik Martin Nowak

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