Foto: Der Sturm © Marie-Laure Briane
Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 25. Mai 2022, PREMIERE
Der Sturm
Ballett von Ina Christel Johannessen
Musik von Georg Friedrich Händel, Frédéric Chopin, Luc Ferrari, Sofia Gubaidulina, Tommy Jansen und Alfred Schnittke
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz
von Frank Heublein
An diesem Abend hat im Gärtnerplatztheater das Ballett „Der Sturm“ Premiere. Die Inszenierung der Norwegerin Ina Christel Johannessen ist assoziativ. Sie nimmt einzelne Handlungselemente aus Shakespeares Theaterstück auf. Etwa Schmerz, Kampf, Vertreibung, vergebliche Suche, das Zurechtfinden in einer unwirtlichen Welt. Das Stück wird nicht als Handlungsballett auf die Bühne gebracht. Vielmehr wird die Verbindung von Musik mit modernem emotionalem Tanz zelebriert. Viel besser verstehe ich all das, was ich heute sehe, weil ich vorab das Programmheft studiert habe.
Anfangs könnte ich denken, es wird die Handlung dargestellt. Denn auch diese Inszenierung beginnt wie Shakespeares Stück mit Sturm. Der eiserne Vorhang noch herabgelassen, gewitterumtostes aufgewühltes Meer sehe ich videoprojiziert. Ein Streicherkammerensemble spielt verborgen durch eine golden braune lichtdurchlässige Umfassung. Vier Tänzer und Tänzerinnen wogen im Sturm, prallen ineinander, versuchen sich zu halten, leiden, kämpfen an gegen das Wasser, den Wind.Der eiserne Vorhang öffnet sich, ich sehe einen hohen Steg. Darunter Menschen, die wohl angelandet sind. Die videoeingespielte Szenerie ist trockene Wüstenei, sehe ich Feuer lodern? In diesem Abschnitt gewinne ich den Eindruck vergeblichen Suchens, nach Wasser? Gruppen, Paare, einzelne Tänzer und Tänzerinnen irren umher. Ein mich choreografisch beeindruckendes Detail sind die Menschenknäule, Tänzer umfangen sich zu fünft, vertanzen sich ineinander, tanzen durcheinander hindurch, nur um die verknotete Formation in anderer Form zu erneuern.
In einem weiteren Abschnitt spielen Klavier und Violine ein etwa zehnminütiges Crescendo. Lange vernehme ich nur einzelne Töne. Tänzer formieren sich zu in ständiger Wiederholung abgehackt miteinander kämpfenden Paaren, Niederwerfen. Aufstehen. Beieinanderstehen. Niederwerfen. Das Klavier explodiert, rastet aus, die Spielerin setzt Unterarme ein, schlägt auf die Tasten des Instruments ein. Die Turbulenz spiegelt sich in wild umher hetzenden Tänzern, die zusammengebundene Plastikkanister, Eimer, Säcke orientierungslos hin- und hertragen, schleudern.
Danach dann ein innehaltendes Solo für Bajan (Knopfakkordeon). Die Gruppe verteilt sich, setzt sich auf die Eimer. Erschöpft. Schlapp. Ich höre es tief atmen. Eine Dreiergruppe tanzt in der Mitte der Bühne. Die Frau lässt sich tragen, schwingen und versucht doch immer wieder zu entkommen. Ein starker Moment, in dem Tanz und Musik in mir ganz eins werden.
Eine mich überwältigende Szene gegen Ende des Abends wird musikalisch durch zwei Schlagwerker getragen. Zwei Männer Sitzen auf dem Steg auf Eimern und nutzen umgedrehte Eimer als Trommeln, die sie in einem rhythmischen Exzess mit ihren Drumsticks bearbeiten. Sie werden im Stockwerk darunter unterstützt durch einige Tänzer und Tänzerinnen, die, wenn sie nicht tanzen, mit einem Drumstick, den Händen, den Füßen den dreitönigen Grundrhythmus mitschlagen. Es umtost mich nicht nur musikalisch. Der Rhythmus wird kongenial tänzerisch umgesetzt. Tanz verschmilzt in mir mit den Tönen.
Der Kampf der Menschen mit den extremen Gezeiten. Die Auseinandersetzung untereinander. Der Kampf um das zu Wenige. In der zuletzt genannten Szene lese ich Zweifaches heraus. Zum einen die untrennbare harmonisch fließende Verbindung zwischen Menschen und ihrer Umgebung. Die trommelnde Musik spielt, ist die Natur. Zum anderen die Explosivität, die Dramatik, der seidene Faden, an dem diese Verbindung hängt.
Neunzig Minuten ist die Compagnie des Balletts des Staatstheaters am Gärtnerplatz durchgehend auf der Bühne. Diese Kraftanstrengung verstehe ich als Aussage: wir alle müssen uns anstrengen, den seidenen Faden zu bewahren, der uns mit der Natur verbindet. Es ist für mich ein expressiv beeindruckendes Erlebnis des modernen Tanzes, der inhaltlich relevant sein will in einer Welt, die ich an vielen Enden für verrückt und gegen alle Vernunft handelnd wahrnehme. Was das alles mit Shakespeares Sturm zu tun hat: handlungstechnisch praktisch nichts. Hier an diesem Abend ist Emotion alles. Das ist viel.
Frank Heublein, 26. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung
Musikalische Leitung Michael Brandstätter
Regie und Choreografie Ina Christel Johannessen
Choreografische Assistenz Patrick Teschner
Bühne Kristin Torp
Kostüme Bregje van Balen
Licht Peter Hörtner
Video Meike Ebert / Raphael Kurig
Dramaturgie András Borbély T.