Justin Doyle © Oliver Look
„Faszinierende Chorklänge“
Programm:
Magnus Lindberg Graffiti
Zoltán Kodály
Marosszéki Táncok
Missa Brevis
Justin Doyle Dirigent
RIAS Kammerchor Berlin
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Bremer Konzerthaus Die Glocke, 14. November 2025
von Dr. Gerd Klingeberg
Es klingt nach einer ziemlich schrägen Idee: Da sucht sich der finnlandschwedische Komponist Magnus Lindberg aus unzähligen Wandinschriften der vor knapp 2000 Jahren durch einen Vulkanausbruch untergegangenen italienischen Stadt Pompeji scheinbar wahllos etliche heraus. Und vertont diese so unterschiedlichen „Graffiti“.
Was dabei herausgekommen ist, ist ein ungemein pompöses, zudem in seiner üppigen Klangfülle wahrhaft überwältigendes Werk. Vor allem dann, wenn es unter der energischen Stabführung des erfahrenen Dirigenten Justin Doyle von zwei Top-Ensembles wie dem RIAS Kammerchor Berlin und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen dargeboten wird, die sich gemeinsam in ihrer Ausdrucksdichte nicht nur addieren, sondern geradezu potenzieren.
Die tiefen dumpfen Eingangsklänge muten an wie das präeruptive Grummeln des Vesuvs. Donnernde Pauken und scheppernde Blechbläser markieren seinen gewaltigen Ausbruch anno 79 n.Chr.; beim nachfolgenden, zunehmend turbulenten Tohuwabohu drängen sich Bilder totaler Zerstörung wie auch des erfolglosen Überlebenskampfes der Bevölkerung einer dereinst blühenden Metropole unmittelbar auf. Das zuvor völlig ahnungslose Treiben der Bewohner lässt sich indes mittels der erhaltenen Inschriften ausnehmend gut nachvollziehen.
Pompejis Alltagsleben in chorischer Darbietung
Der Chor intoniert stimmgewaltig die altlateinischen Worte: Ein bronzener Krug sei aus der Taverne entschwunden und möge bitte gegen Finderlohn zurückgebracht werden. Sprüche wie „Du bist tot, du bist nichts“ oder „Glück dem Liebenden“ folgen. Sie vermitteln Eindrücke von Menschen, die sich in ihrer Denk- und Handlungsweise gar nicht sonderlich von denen der Gegenwart unterscheiden.
Die Vertonung erklingt über die Maßen kraftvoll. Die starken Stimmen des Chores erstellen gemeinsam mit dem agil aufspielenden Orchester satt ölfarbige Klangbilder immenser Ausmaße. Manches erinnert an Orffs „Carmina burana“, anderes an packende Filmmusik zu Monumentalfilmen aus früheren Hollywood-Zeiten. Die Texte samt Übersetzung liegen zwar dem Programmheft bei, sind aber streckenweise trotz guter Artikulation schwer nachzuverfolgen. Ist aber auch nicht zwingend erforderlich, zumal sich die jeweiligen, oft banalen Aussagen nur teilweise in der außerordentlich komplex ausgelegten Musik widerzuspiegeln scheinen.
Wohl aber das pralle pulsierende Leben, das aufgeregte Debattieren über die letzten Gladiatorenkämpfe, die angeregten Dispute, die hellen Rufe und das Gewusel einer belebten Straße im damaligen Pompeji.
Ob dabei im vielstimmig dröhnenden Tutti oder in durchdringenden Solopartien: Der Chor überzeugt mit durchweg präzisen Ausführungen, selbst bei lateinischen Zungenbrechern („Barbara barbaribus barbabant barbara barbis“), die gleichermaßen mit Impetus dargeboten werden wie einige eindeutig zweideutige Wandinschriften oder palindromische Wortspiele.
Einige kurze Intermezzi strukturieren die inhaltlich nur lose zusammenhängenden Sprüche; sie bringen zumindest zeitweise etwas Ruhe ins Geschehen. Aquarellös zarte Partien finden sich kaum, sie passen auch schwerlich zur ungestümen Vehemenz dieses phänomenalen, aus vielerlei exzeptionellen Motiven zusammengefügten Kaleidoskops. Eine fulminante Steigerung erfolgt kurz vor dem Ende, passend zur Wandinschrift „Ich staune, Wand, dass du nicht eingestürzt bist, obwohl du so viel Schreiber-Geschwätz erträgst!“ Die Ironie des Schicksals wird im heftigen Fortissimo-Getöse einer umfassenden Zerstörung ohrenfällig, dann entschwindet die grandiose Klanginszenierung in fast schon mystischem Morendo al niente.

Transsilvanische Tänze in packender Klangdichte
Die ungeahnte energische Dichte der Musik ist auch nach der Pause in unverminderter Intensität zu erleben. Etwas Zeit zum Durchatmen bieten indes die schwungvollen Marosszéki Táncok (Marosszéker Tänze), mitreißende, auf ausgeprägte Rhythmik setzende ungarisch-transsilvanische Folklore, die Zoltán Kodály in seiner Orchester-Komposition in veredelter Form verarbeitet hat. Vom Orchester erfordern sie höchste Virtuosität. Und sind damit bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen bestens aufgehoben, die sie mit kontrastreichem, zwischen schierer Ausgelassenheit und teils melancholisch eingefärbt changierendem Spiel überzeugend darbietet.
In seiner kompositorischen Struktur scheint Kodálys Missa Brevis durchaus einige Ähnlichkeiten mit den ausgelassenen Tänzen aufzuweisen. Aber allein der Entstehungszeitpunkt während der Weltkriegswirren Anfang 1945, als die Bevölkerung der Stadt Budapest wochenlang in Kellerbunkern zubringen musste, lässt weit mehr an Tiefgang erwarten. Das verdeutlicht bereits der orchestrale Introitus, bei dem aus gewaltig tosenden Auftaktgedröhn eine einsame klangvolle Oboenstimme aufblüht. Das Kyrie startet verhalten, das Gloria imponiert mit überschäumendem Jubelgesang, der im Quoniam noch weiter anschwillt und von einem Fortissimo-Amen bekräftigt wird. Einen wahren Gänsehautmoment vermittelt das vom Chor im Credo feinsinnig pianissimo intonierte „Et incarnatus est“; wie zutiefst erstaunend wirkt der subtil begleitete Gesang angesichts der unfassbaren Menschwerdung Christi. Schmerzlich hart dagegen erfolgt die Schilderung der Kreuzigung, düster die Grablegung, während sich die Auferstehung in überschäumender Freude ausdrückt.
Expressiv ausgelotete Bedeutungsinhalte des Missa-Textes
Doyles Interpretation setzt auf große Spannungsbögen und markante Kontrastierung, aber auch auf nuanciert am Text orientierte Ausgestaltung; die chorische, solistische und orchestrale Umsetzung gerät durchgehend perfekt, der geradezu symbiotische Gesamtklang ist exzellent, so dass die Missa-Worte in ihrer ganzen Bedeutungstiefe expressiv (und auch noch verständlicher als bei Graffiti) zur Geltung kommen.

Mit großer Bestimmtheit, so als solle auch nicht der Hauch eines Zweifels entstehen, wird die Auferstehungshoffnung zum Ausdruck gebracht. Klangschön folgen Sanctus und Benedictus. Was indes am stärksten zu Herzen geht, ist das Agnus Dei mit seinen wie verzweifelt anmutenden, etliche Male in unterschiedlicher Intensität wiederholten Rufen nach Frieden „Dona nobis pacem“ – was nach einer scheinbar resignierenden Generalpause noch einmal in ambitioniertem Tutti bekräftigt wird. Direkter lässt sich ein Bezug zu gegenwärtigen Unruhen in der Welt schwerlich finden. Kodály hat noch einen Segen, ein „Ite, missa est“ („Gehet hin in Frieden“) angefügt, der sich harmonisch fulminant aufschaukelt, bis alles in einem ergebenen, dann noch einmal mit Inbrunst geäußerten „Amen“ machtvoll ausklingt.
Der Saal verharrt Momente lang in tiefer Stille, dann bricht frenetischer Jubel los: Die im Konzert-Motto angekündigten „Faszinierenden Chorklänge“ erweisen sich im Rückblick als allenfalls andeutungsweise Beschreibung einer Darbietung von unglaublich emotionaler Wucht, die die Ausführenden in optimaler Zusammenarbeit an diesem überwältigenden Konzertabend präsentiert und damit die Zuhörer zutiefst berührt haben.
Dr. Gerd Klingeberg, 15. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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