Michael Francis und sein Orchester verwandeln diesen Abend in ein flammendes Erlebnis

Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Michael Francis  VILCO, Bad Vilbel, 27. September 2025

Dirigent, Orchester © Felix Broede

Die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und Michael Francis verwandeln Schubert, Sibelius und Beethoven in ein flammendes Erlebnis

Franz Schubert
Sinfonie h-Moll, D 759 „Unvollendete“

Jean Sibelius
Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 105

Ludwig van Beethoven
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c-Moll, op. 37

Nuron Mukumi, Klavier

Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz
Michael Francis, musikalische Leitung

VILCO, Bad Vilbel, 27. September 2025

von Dirk Schauß

Ein besonderes Konzert in Bad Vilbels formidabler Stadthalle VILCO gab es am 27. September zu bestaunen. Michael Francis und die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz stellten ein Programm vor, das mit seiner überraschenden Abfolge nicht provozierte, sondern schlicht überzeugte. Denn in einer Zeit, in der Repertoiregrenzen längst eingerissen sind, löst die Platzierung zweier Sinfonien vor einem Klavierkonzert höchstens ein Schmunzeln aus. Wirklich überraschend war vielmehr, wie klug die Werke aufeinander folgten und wie tief die Musiker in ihre jeweilige Eigenart eindrangen.

Interessant war dabei, dass die beiden Sinfonien – Schuberts h-Moll und Sibelius’ Siebte – einen auffällig ähnlichen Beginn teilen: Die Kontrabässe eröffnen jeweils mit geheimnisvollem Raunen, woraufhin die Celli ein kantables Thema anstimmen. Ein roter Faden, der sich wie ein geheimer Dialog durch den Abend zog.

Franz Schuberts „Unvollendete“ bleibt seit jeher ein Rätsel. Zwei Sätze, die zugleich vollständig und fragmentarisch wirken, als ob der Komponist bewusst eine Tür offenstehen ließ. Schon im ersten Satz baute sich eine Atmosphäre von bedrängender Dunkelheit auf, durchzogen von jenen lyrischen Phrasen, die bei Schubert so plötzlich in den Abgrund kippen können. Die tiefen Streicher eröffneten tief grundiert, über dem sich die Holzbläser zu schwebenden Klängen erhoben. Und dann dieses berühmte Kantabile der Celli: Bei Michael Francis erklang es ganz zurückgenommen, zart, beinahe wie ein inniges Lied – weit entfernt von der üppigen Zuckersoße, die man an dieser Stelle so oft hört.

Dadurch wurde die Melodie zu einem stillen Bekenntnis, einem intimen Flüstern, das unter die Haut ging. Francis ließ die Spannung nie ins Beliebige entgleiten, sondern formte Kontraste mit feiner Hand: Zartheit gegen Drängen, Abgrund gegen Trost. Ein Schubert, der stürmte und klagte, rauh und dann ebenso zärtlich. Die Luft brannte geradezu. Auffällig war, wie die Staatsphilharmonie diese Ambivalenz zum Leuchten brachte, gerade so, als würde sie Schuberts innere Zerrissenheit nachzeichnen. Besonders eindrücklich: das Duett zwischen Klarinette und Oboe im zweiten Satz, das derart berührend und emotional dicht klang, dass es körperlich schmerzte.

Man hörte in jedem Takt ein Versprechen, das nicht eingelöst wird – ein unerträgliches Schön, das den Kern dieser „Unvollendeten“ ausmacht. Das Publikum blieb atemlos und wartete lange mit dem Applaus. Das Gehörte klang deutlich nach.

Dirigent, Orchester © Felix Broede

Ganz anders Jean Sibelius. Seine siebte Sinfonie, ein in sich geschlossener Ein-Satz-Kosmos, wirkt wie das Gegenstück zu Schuberts Fragment. Wo Schubert abbricht, führt Sibelius alles zusammen. Die Musik beginnt unscheinbar, dann erhebt sich jene Posaune, majestätisch und einsam, als Stimme, die aus einer anderen Sphäre ruft. Francis ließ diesen Moment strahlen, ohne Pathos, aber mit einer Ruhe, die deutlich machte: hier hebt etwas Größeres an. Das Werk entfaltet sich als eine Art organischer Fluss. Themen entstehen, vergehen, tauchen verwandelt wieder auf.

Übergänge statt Brüche, Metamorphosen statt architektonischer Blöcke. Immer wieder bäumt sich das Orchester auf, um gleich darauf in Schwebezustände zurückzufallen. Die Philharmoniker zeigten in dieser Musik ihre ganze Bandbreite: ein warmer, süffiger und zugleich präziser Streicherklang, der gerade Sibelius zugutekommt, der seine Streicher gnadenlos fordert. Darüber funkelnde Holzbläser, herrlich golden intonierende Blechbläser und eine Pauke, die mit subtilen wie scharfen Akzenten das Fundament in Bewegung hielt. Diese Pauke war kein Nebendarsteller, sondern Impulsgeber, der das Orchester immer wieder in neue Richtungen schob.

Am Ende löste sich die Dichte in eine Art großes Ausatmen auf, ein musikalisches Atemholen, das so befreiend wirkte, dass man für einen Augenblick alles andere vergessen konnte. Keine finalen Hammerschläge, sondern ein leiser Schluss, der dennoch endgültig wirkt: Sibelius hat wirklich alles gesagt. Michael Francis und die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz entfalteten einen Sog und eine Leuchtkraft, die nicht von dieser Welt schienen. Das Publikum blieb einen Moment lang reglos sitzen, als müsse es selbst erst Luft holen und seine Fassung finden.

Nach diesem emotionsdichten Vortrag brauchte es Mut, Beethoven zu bringen. Sein Klavierkonzert Nr. 3 in c-Moll wirkt in dieser Konstellation wie eine Rückkehr in vertrautes Gelände, aber gerade dadurch gewann es eine neue Leuchtkraft.

Nuron Mukumi © Nikolaj Lund

Der Pianist Nuron Mukumi betrat den Flügel nicht als Virtuose im Schaufenster, sondern als großer Lyriker mit beseeltem Spiel. Schon im ersten Satz überzeugte er mit einem klaren, differenzierten Anschlag: niemals polternd, niemals manieriert, sondern durchzogen von innerer Glut. Francis und das Orchester antworteten schlank, transparent und doch auch knackig in der Akzentuierung, sodass der Eindruck eines Gesprächs entstand, in dem beide Seiten sich gegenseitig antreiben. In der Kadenz zeigte Mukumi seine technische Souveränität, aber immer im Dienst des Ausdrucks – er ließ die Läufe nicht als Fingerübung stehen, sondern verwandelte sie in Dramatik.

Das Largo entwickelte sich zum poetischen Kern des Abends: Mukumi spielte mit einer Ruhe, die nicht Stillstand, sondern innere Bewegung bedeutete. Jeder Akkord schien ein Innehalten, ein Lauschen in die Tiefe. Die Holzbläser legten darüber eine leuchtende Aura, wie eine unsichtbare Chorkrone. Auffällig war hier das charakteristische Fagott, das eine besondere Farbigkeit verlieh. In diesen Minuten des langsamen Satzes wirkte der Konzertsaal entrückt, als habe man die Zeit ausgehängt. Hier offenbarte sich Mukumis Fähigkeit, selbst die einfachsten harmonischen Wendungen mit Bedeutung aufzuladen. Und wie Francis das Orchester dazu brachte, nicht zu begleiten, sondern zu kommentieren, verlieh dem Satz eine zusätzliche Dimension. Das Largo wirkte wie ein Traum, der einen nur ungern entlässt.

Mit dem Finale brach dann ein energiegeladenes Spiel aus, das gleichsam zurück auf den Boden führte. Mukumi spielte mit Witz und rhythmischer Schärfe, das Orchester konterte mit Spielfreude – wie in einer großen Kammermusik. Die Themen sprangen von einer Stimme zur anderen, ohne je den Faden zu verlieren. Besonders das Tänzerische hob Mukumi hervor: kein heroischer Gestus, sondern ein kantiges, schrulliges Spiel mit Formen.

Am Ende stand kein Monument, sondern ein Stück Musik, das vor Vitalität funkelte. Der Jubel des Publikums war entsprechend ausgelassen, und man hatte den Eindruck, dass diese Mischung aus Brillanz und Spielfreude besonders überzeugt hatte. Zwei brillante pianistische Zugaben beruhigten das tobende Auditorium erst allmählich.

Die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz erwies sich an diesem Abend als herausragender Klangkörper, faszinierend gut auf seinen Chefdirigenten eingespielt. Die Streichergruppe spielte opulent und süffig, aber zugleich hochpräzise in der Artikulation. Die Holzbläser musizierten meisterlich, die Blechbläser golden und intonationssicher. Vor allem die Pauke erwies sich als heimlicher Motor, der differenziert akzentuierte und manchen akustischen Wirbelwind erzeugte.

Michael Francis selbst war die große Entdeckung des Abends: souverän in der Zeichengebung, motivierte er sein Orchester zu hingebungsvollem Spiel mit Risiko und Emotionalität. Schubert stürmte und schmerzte mit einer Intensität, die tatsächlich an Carlos Kleiber erinnerte – ein Vergleich, der kühn klingt, aber hier gerechtfertigt war. Sibelius entfaltete eine Wucht, die einen regelrecht hineinzog und nicht mehr losließ, und Beethoven hatte alles, was der große Meister braucht. Francis erwies sich dabei nicht nur als formstarker Interpret, sondern auch als idealer Begleiter für seinen Solisten.

So war der Abend eine Abfolge spannender Geschichten. Schuberts rätselhaftes Fragment, Sibelius’ monumentales Atemholen und Beethovens funkelndes Klavierkonzert verbanden sich zu einer Dramaturgie, die auf Resonanz setzte. Michael Francis zeigte, wie man aus scheinbar disparaten Werken einen inneren Bogen schlägt, und die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz bewies ihre Wandlungsfähigkeit auf höchstem Niveau.

Man verließ den Saal mit dem Gefühl, dass hier ein Abend zu Ende ging, der in seiner Balance aus Geheimnis, Verdichtung und Funkenschlag lange nachwirken wird.

Dirk Schauß, 28. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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