Wohl keines seiner Ballette dringt so tief in die Seelen der Bühnenfiguren vor wie John Neumeiers Glasmenagerie

Die Glasmenagerie, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams  Staatsoper Hamburg, 12. Juli 2024

John Neumeier umarmt seine Muse Alina Cojocaru (Foto: RW)

49. Hamburger Ballett-Tage:

John Neumeier hört bei uns auf, das Publikum tobt immer wilder. Es bleibt ihm nicht mehr möglich, unbemerkt auf seinen Platz in der ersten Reihe rechts zu huschen. Einer fängt mit dem Klatschen an und schließlich erhebt sich das ganze Haus. Das Einfühlungsvermögen von Neumeier in die Bühnenfiguren ist unglaublich, und die Gefühle in Ausdruck und Tanz umzusetzen schlichtweg so genial, dass Neumeier als Ballett-Genie für alle anderen und die meisten früheren Choreographen der Mount Everest unter den Hügeln der westlichen Welt bleibt. Und sie werden ihn nie besteigen können.

Die Glasmenagerie
Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams

Choreographie, Bühnenbild, Licht und Kostüme: John Neumeier
Musik: Charles Ives, Philip Glass, Ned Rorem

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Leitung Luciano Di Martino

27. Vorstellung, Staatsoper Hamburg, 12. Juli 2024

von Dr. Ralf Wegner

In gewisser Weise ist Neumeiers Ballett Die Glasmenagerie eine Schwester seiner Kameliendame. Letztere spielt im großbürgerlichen Milieu der früheren Welthauptstadt Paris, erstere im damals noch eher provinziellen St. Louis im US-Bundesstaat Missouri.

In der Kameliendame verzichtet die Titelfigur aus Liebe auf ihren einer anderen Gesellschaftsschicht angehörenden Geliebten, in der Glasmenagerie erträumt sich die gehbehinderte Laura ein Leben voller Freude und Glückseligkeit, scheitert aber an den Gegebenheiten und zieht sich in ihre Traumwelt zurück.
Während in der Kameliendame vorwiegend die Seelenlage Marguerites bloßgelegt wird, dringt Neumeier in der Glasmenagerie mit choreographischen Mitteln viel tiefer in die emotionalen Befindlichkeiten der gehbehinderten Laura Wingfield, ihrem seine Homosexualität entdeckenden Bruder Tom Wingfield und vor allem auch beider Mutter ein. Es ist die ehemalige Südstaatenschönheit Amanda Wingfield, die, früher angehimmelt, dann verlassen wurde und jetzt versucht, sich und ihre beiden für das praktische Leben wenig geeigneten Kindern über Wasser zu halten.

Patricia Friza nimmt emotional berührt den Jubel des Publikums für ihre Rolle als Amanda Wingfield entgegen (Foto: RW)

Tennessee Williams Glasmenagerie hat viele Bezüge zu seiner eigenen Autobiographie. Der Vater kam offenbar nur schlecht für den Familienunterhalt auf und seine ältere, behinderte Schwester wurde einer damals von Neurologen propagierten Lobotomie unterzogen. Krass gesagt, man öffnete das Gehirn und rührte die Partien zu Brei, in denen man den Ursprung des geistigen Übels vermutete. So richtig aufgeklärt sind diese damaligen Medizinverbrechen wohl immer noch nicht. Auch eine Schwester John F. Kennedys wurde lobotomiert. Wie es heißt, um der lebenslustigen und dem Verkehr mit Männern nicht abgeneigten jungen Frau die sexuelle Lust zu nehmen, was damals wegen der Folgen vermutlich Kennedys Präsidentschaft gefährdet hätte.

Tennessee Williams hat sich dieser Thematik in seinem Stück Plötzlich im letzten Sommer angenommen, in dem eine Mutter ihre Schwiegertochter in spe lobotomieren lassen will, da diese den sadistischen Mord an ihrem homosexuellen Sohn miterlebt hatte (1959 verfilmt von Joseph L. Mankiewicz mit Katherine Hepburn als Mutter und Elizabeth Taylor als Freundin des Sohnes; mit Montgomery Clift als Arzt, der dieses letztlich verhindert).

Die Continental Schuhfabrik (Videostills Arte Concert)

Alessandro Frola war ein außerordentlicher Gewinn für die Rolle des Tom Wingfield. Wie er unter der Last des in der Familie verbliebenen Mannes schier zusammenbricht und sich in seine Zeichenleidenschaft flüchtet oder wie er seine Aggressionen gegenüber der ihn immer noch liebevoll zum Geradesitzen auffordernden Mutter äußert und gleichzeitig seine Schwester Laura mit Bedacht tröstet, ist darstellerisch hochklassig. Ebenso beeindruckt Frola neben der von ihm bekannten tänzerischen Perfektion mit der Ausdeutung seiner Annäherung an den Arbeitskollegen Jim O’Connors sowie der Faszination, die sein späterer Besuch in Malvolios Magic Bar bei ihm auslöst. Dennoch, er entzieht sich am Ende des Stücks jeder Verantwortung für Mutter und Schwester und, man kann es nicht anders beschreiben, haut ab; wie sein Vater vor ihm. Edvin Revazov als Alter Ego Tennessee beobachtet diese Szene mit der gebührenden Trauer, die sich wohl auch später bei dem Dichter Tennessee Williams eingestellt hat.

Patricia Friza ist Amanda Wingfield, die ehemals von den Männern heißbegehrte und jetzt immer wieder mit sozialer Not konfrontierte Mutter der gehbehinderten Laura. Was Friza, die ja im letzten Jahr ihren Bühnenabschied beim Hamburg Ballett nahm, mit ihren jetzt wohl 44 Jahren immer noch technisch leistet, ist phänomenal. Ihre Sprungkraft und ihr hoher Spielbein-Spagat haben nicht nachgelassen, und ihre Rolleninterpretation ist nach wie vor über jeden Zweifel erhaben.

Erwähnt sei die berührende Szene vor Jims letzten Besuch im Hause Wingfield. Amanda will den Tisch mit einer Häkeldecke verschönern, schwingt diese über den Tisch, bedeckt damit aber die daneben stehende Laura. Sie hebt die Decke zum Kopf hoch und sieht in ihrer Tochter unvermittelt die angehende Braut, was sie ihr so sehr wünscht. Mit welcher inneren Empfindung Friza hier die liebende Mutter spielt und auch ihrer Tochter ein wenig Hoffnung auf ein anderes Leben gibt, ist tief bewegend dargestellt. Zum Glück wurde Neumeiers Glasmenagerie vor kurzem mit Friza als Amanda Wingfield verfilmt (zur Zeit noch in der ARTE-Mediathek zu sehen).

Wird Laura mal heiraten? Patricia Friza und Alina Cojocaru als Amanda und Laura Wingfield (Videostills Arte Concert)

Auch Alina Cojocaru ist mit der für sie von John Neumeier kreierten Rolle der gehbehinderten Laura Wingfield so verwachsen, dass dieser Part ohne sie kaum vorstellbar ist. Tänzerisch ist sie nach wie vor phänomenal. Im Ausdruck bleibt sie stets das nette freundliche Mädchen, das niemandem Wehtun möchte. Wenn sie sich in ihre Träume steigert, sei es leidenschaftlich mit Jim als Liebhaber oder mehr elegisch mit dem zum Leben erweckten Einhorn (Jacopo Bellussi), überzeugt sie in den Pas de deux mit schönstem und anmutigem Tanz.

Jim wird von Christopher Evans getanzt. Er ist der Sonny-Boy, der jeder zwischenmenschlichen Beziehung gewachsen ist, sei es um die von Tom ausgehende Leidenschaft ihm gegenüber zu zügeln oder Laura ein wenig Glück zu vergönnen. Der Kuss am Ende ist eher seinem Verschulden bei der Zerstörung des gläsernen Einhorns zu verdanken und kann allenfalls als Freundschafts-, aber nicht als Liebesbeweis interpretiert werden. Laura erkennt das, und lässt ihn mit seiner plötzlich auftauchenden Freundin Betty (Olivia Betteridge) ziehen; ohne im Inneren zu verzweifeln. Sie hat ja noch ihre Glasmenagerie. Und ein Teil von Jim wird in ihr beim Betrachten der Figuren in Erinnerung bleiben.

Das Ende ist traurig, aber eher für uns Zuschauer als wohl für Laura, die innerlich stabiler ist, als wir uns das anfangs vorgestellt haben.

Es gäbe noch so viel zu sagen. Neumeier zeigt nicht nur für die Choreographie verantwortlich, sondern auch für Bühnenbild, Licht und Kostüme. Es gibt da nichts zu bekritteln, und Williams’ Glasmenagerie wird wohl von keinem anderen Choreographen jemals zu toppen sein. Das gilt auch für das für Neumeier typische, dynamisch an- und abschwellende Ineinandergleiten der insgesamt 19 Szenen.

Und vieles bleibt schon beim ersten Sehen in Erinnerung, wie der Schreibmaschinenkurs (Rubican’s Business College), an dem Laura mit 8 anderen Tänzerinnen unter der Aufsicht von Yun-Su Park teilnimmt oder die Szene in der Continental Schuhfabrik, in der Tom mit dreizehn Arbeitskollegen Schuhe verpackt und daran scheitert, genauso wie seine Schwester an der Schreibmaschine.

Am eindrucksvollsten gelingen Neumeier aber die Familienszenen im Hause Wingfield. Wenn Laura, Tom, Tennessee und Amanda am Tisch versammelt ihren Pas de quatre beginnen, bleibt wohl jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer wenn nicht das Herz, jedoch zumindest zeitweilig der Atem stocken. Solche oder ähnliche Szenen kennen wir alle aus unseren eigenen Familien, die einen mehr, die anderen weniger.

Patricia Friza (Amanda Wingfield), Christopher Evans (Jim O’Connor), Alina Cojocaru (Laura Rose Wingfield), Alessandro Frola (Tom Wingfield), Edvin Revazov (Tennessee), Jacopo Bellussi (Das Einhorn); in der zweiten Reihe Ana Torrequebrada (Ensemble Paradies Tanzlokal), von Patricia Friza verdeckt Yun-Su Park (Lehrerin für das Fach Schreibmaschine), Olivia Betteridge (Betty, Jims neue Freundin), Andrej Urban (Tom als Kind), Stacey Denham (Ozzie, ein Kindermädchen) und teilverdeckt Lisa Schneider (Laura als Kind) (Foto: RW)

Jetzt, wo Neumeier geht, steigert sich der Jubel um ihn fast ins Unermessliche. Es bliebt ihm nicht mehr möglich, unbemerkt auf seinen Platz in der ersten Reihe rechts zu huschen. Einer fängt mit dem Klatschen an und schließlich erhebt sich das ganze Haus. Hanseatisch ist das eher nicht, aber es sind ja nicht nur Hanseaten im Publikum.

Am Ende flogen die Blumensträuße nur so, am meisten für Patricia Friza. Und auch der Schlussjubel wollte kein Ende nehmen.

John Neumeier ist offenbar zur Ikone geworden, aber er lebt doch noch und wird uns hoffentlich auch zukünftig mit seinen durchdachten, tief in die Seelen vordringenden Choreographien beglücken.

Dr. Ralf Wegner, 13. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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