Meine Lieblingsmusik 2024
Glücksklee oxalis deppei iron cross © Benes Oeller, blog.imgarten.at
Die Autorinnen und Autoren von klassik-begeistert.de besuchen mehr als 1000 Konzerte und Opern im Jahr. Europaweit! Als Klassik-Reporter sind sie ganz nah dran am Geschehen. Sie schreiben nicht über alte Kamellen, sondern bieten den Leserinnen und Lesern Stoffe aus den besten Opern- und Konzerthäusern der Welt. Was haben sie gehört, gespürt, gesehen, gefühlt, gerochen?
Ich danke allen Klassik-Reportern von klassik-begeistert für die Begeisterung, mit der sie ihrem Handwerk nachgehen. Nur durch Euer Engagement, Euer Wissen, Euer Gehör und vor allem durch Eure Schreibkunst ist klassik-begeistert.de zum größten deutschsprachigen Klassik-Blog in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgestiegen. Und das ohne Pause seit 2018.
Ich wünsche allen Autorinnen und Autoren sowie allen Leserinnen und Lesern einen geschmeidigen Flug ins hoffentlich friedvollere Jahr 2025.
Herzlich,
Andreas Schmidt, Herausgeber
Mahlers 8. Symphonie: „Das Unbeschreibliche, hier ist’s getan“
Es gab so viel wunderbare Musik in diesem Jahr, dass es mir schwerfällt, nur ein Erlebnis als das schönste auszuzeichnen. Zwei absolute Höhepunkte waren jedenfalls Schönbergs „Gurre-Lieder“ unter Popelka im Musikverein und Mahlers „Achte Symphonie“ unter Jordan im Konzerthaus. Beide Werke sprengen die traditionellen Formen des Oratoriums bzw. der Symphonie und überwältigen durch den schieren Aufwand an Orchester- und Gesangsstimmen. Wenn am Beginn der „Achten“ von Mahler die große Orgel des Konzerthauses in Es-Dur einsetzt, erwarten den Zuhörer achtzig Minuten Ekstase, achtzig Minuten kaum zu beschreibender Emotionen. Oder in den Worten des in Mahlers Vertonung überirdisch schönen Chorus Mysticus: „Das Unbeschreibliche, hier ist’s getan“.
Auch die „Gurre-Lieder“ sind überreich an wunderbaren musikalischen Einfällen. Der schönste Moment jedoch ist für mich der Übergang der wilden Jagd von Waldemars Mannen in die wilde Jagd des Sommerwinds, die Auflösung menschlicher Konflikte und menschlichen Leids in den ewigen Kreislauf der Natur. Und wenn dann im Schlusschor die Sonne in Strahlenlockenpracht aufgeht, ist auch hier das Unbeschreibliche getan, ein großer Bogen gespannt vom Untergang der Sonne am Beginn zu ihrer Auferstehung in strahlendem C-Dur am Ende.
Dr. Rudi Frühwirth, Wien
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Bruno de Sá pocht auf Samba statt auf Breakdance
Das schönste und zugleich aufbauende musikalische Erlebnis war für mich das Konzert von Bruno de Sá bei dem diesjährigen Bayreuth Baroque Opera Festival am 6. September 2024. Der männliche Sopran hat mit der Begleitung des italienischen Ensembles Il Pomo d’Oro anstelle von Jakub Józef Orliński gesungen, der seinen Auftritt aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen musste. Zum Schluss hat Bruno eine rührende Videobotschaft für Orliński mit Genesungswünschen aufgezeichnet. Er hat sowohl die Musiker als auch das Publikum ermutigt, diese Wünsche mit Applaus zu betonen. De Sá hat verkündet, dass er im Gegensatz zu seinem polnischen Kollegen mit Breakdance nicht vertraut ist, hat aber bei der dritten Zugabe Samba getanzt.
Ich denke, dieses Beispiel der gegenseitigen Unterstützung und Inspiration sollte uns allen zu denken geben. Wenn die gegenseitige Stimulation statt Konkurrenz in beruflichen (nicht nur künstlerischen) Kontakten zum Ausdruck käme, wie viele großartige und erbauliche Projekte könnte man dann verwirklichen!
Jolanta Łada-Zielke, Hamburg
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Schöner sterben in Dresden…
„Tristan und Isolde“, 21. Januar 2024, Semperoper Dresden! Absolut perfekt! Christian Thielemann am Pult, Klaus Florian Vogt in seinem Rollendebüt als Tristan und Camilla Nylund als Isolde harmonierten und brillierten als Liebespaar. Nylund war herrlich zornig im I. Aufzug, Vogt höflich distanziert, im II. Aufzug lieferten sie so ein wunderbar weiches Liebesduett und dann steigerten sich beide im III. Aufzug – Wahnsinn! Dieser letzte Aufzug hat mich lange bewegt und Sterben hat auf einmal etwas Schönes erhalten. Wenn eine Opernaufführung so etwas vermag… Wie passend für mich, was Wagner zu diesem Aufzug geschrieben hat: „Dieser ‚Tristan‘ wird was Furchtbares! Dieser letzte Akt!!! – Ich fürchte, die Oper wird verboten – falls durch schlechte Aufführung nicht das ganze parodiert wird –: nur mittelmäßige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen, – und ich kann mir’s nicht anders denken.“
Diese Aufführung war „vollständig gut“! Dank Solisten (neben Vogt und Nylund ebenfalls ein Ereignis: Georg Zeppenfeld als Marke! Dazu Martin Gantner als Kurwenal, Tanja Ariane Baumgartner als Brangäne, Sebastian Wartig als Melot, Attilio Glaser als Hirt/Seemann und Lawson Anderson als Steuermann), dank stimmiger Regiearbeit von Marco Arturo Marelli und einer herrlichen Farbgebung und natürlich Thielemann und sein Dresdner Orchester und Chor! Und erst als der Meister die Partitur zugeschlagen hat, die er niemals benutzt hat, da erhob sich der Applaus. Da war fast eine Minute ergriffene Andacht, Schweigen über das Wunder, das wir erleben durften.
Dr. Bianca M. Gerlich, Cremlingen bei Braunschweig
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Ich genieße meinen Kultursommer in Österreich
Zu meinen Highlights im Jahr 2024 zähle ich eine phänomenale konzertante Aufführung von Ambroise Thomas’ selten aufgeführter Oper Hamlet bei den Salzburger Festspielen, die unter der Leitung von Bertrand de Billy ein wahres Theaterereignis präsentierte. Stéphane Degout beeindruckte als Hamlet mit kraftvoller und zugleich nuancierter Darstellung. Lisette Oropesa glänzte als Ophélie mit einer brillanten und technisch versierten Stimme. Im August entdeckte ich das Kammermusikfestival Schubertiade in Österreich. Im malerischen Bregenzer Wald erlebte ich hochkarätige Konzerte mit der renommierten Pianistin Elisabeth Leonskaja und der aufstrebenden Sopranistin Golda Schultz, begleitet von Jonathan Ware. Das Festival besticht durch außergewöhnliche musikalische Qualität und vielfältige Besetzung. Bemerkenswert ist das Fehlen von Werbung und Sponsoren; es finanziert sich ausschließlich durch Einnahmen, mit inhaltlichen Fokus auf Kunst und KünstlerInnen.
Das Jahr wird durch zwei beeindruckende Neuproduktionen am Bremer Theater abgerundet: Lohengrin und La Bohème. Beide Aufführungen zeichneten sich durch ein hohes musikalisches Niveau und ein exzellentes, größtenteils hausinternes Sängerensemble aus, darunter Elias Gyungseok Han, Hidenori Inoue, Adèle Lorenzi und Oliver Sewell. Als Gaststar in Lohengrin erwies sich der 33-jährige amerikanische Tenor Christopher Sokolowski als wahre Entdeckung. Er überzeugte nicht nur durch seine darstellerische Leistung, sondern auch durch seine schöne, gut platzierte und dynamisch ausgewogene Tenorstimme, die sowohl Legati als auch Piani und Messa di Voce meisterhaft beherrscht.
Oxana Arkaeva, Bremen
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Kirill Serebrennikovs Parsifal beeindruckt als Symbolakt der Freiheit
Was hat uns an Kirill Serebrennikovs Parsifal-Inszenierung beeindruckt? Dass die Forderung den Gral zu zeigen nicht zum Leuchten des Grals, sondern zum Öffnen der Türen führt. Wir persönlich sahen darin nicht nur einen Symbolakt der Freiheit, sondern ein Zeichen, dass jede Abendmahlsfeier dazu auffordert als neue, verwandelte Menschen hinaus ins Leben zu treten.
Als Spiel der Erinnerungen in Szene gesetzt wurde Parsifal von ihnen eingeholt, verirrte sich in ihnen und entdeckte Verdrängtes. Richard Wagners verzaubernde Musik konnte sich mit dieser Idee harmonisch verbinden.
Lothar und Sylvia Schweitzer, Wien
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Michael Spyres glänzt als Lohengrin in Strasbourg
Wagner-Tenöre waren, sind und werden auch in Zukunft eine rare Spezies sein und bleiben. Wenn sich ein Sänger, der bereits in gänzlich verschiedenen Stilen und Repertoire sehr erfolgreich unterwegs war, an Wagners Partien wagt, so verdient und erhält sein Debüt internationale Aufmerksamkeit. So geschehen im März am Opernhaus von Strasbourg.
Der Debütant Michael Spyres betrat die Bühne nicht nur als Befreier Elsas, seine sieghafte Attitüde dominierte die gesamte Aufführung. Spyres, dessen Weg im Belcanto-Fach begann, hat sich über die Jahre zu einem der vielseitigsten, vor allem wissenden Sänger entwickelt. Klug und überlegt hat er seinen Einstieg in die Rollen Wagners vorbereitet und organisch aufgebaut. Nun kann er beginnen, die Ernte einzufahren. Gute Wagner-Tenöre waren zu allen Zeiten Mangelware, mit seinem ersten Lohengrin hat Spyres die erste Stufe zum Thron erfolgreich genommen. Sein schönes Timbre mit samtenem baritonalem Kern bietet ihm die Basis für die strahlend ausgeführten Höhen der Partie, sein perfektes Legato rundet seine Leistung ab. Die Welt hat einen neuen Lohengrin!
Inzwischen hat der Baritenor auch sein Bayreuth-Debüt als Siegmund erfolgreich absolviert, 2025 folgt sein erster Stolzing auf dem Grünen Hügel. Es scheint als würde er den dort zeitweilig als Platzhirsch gesetzten blässlichen Kollegen ablösen, und den Wagner-Partien wieder ihren baritonal grundierten Charakter zurückgeben.
Peter Sommeregger, Berlin
Die Klassik- und Opern-Favoriten 2024, Teil 1 klassik-begeistert.de, 29. Dezember 2024