Elbphilharmonie © Ralph Larmann
Die Autorinnen und Autoren von klassik-begeistert.de besuchen mehr als 1000 Konzerte und Opern im Jahr. Europaweit! Als Klassik-Reporter sind sie ganz nah dran am Geschehen. Sie schreiben nicht über alte Kamellen, sondern bieten den Leserinnen und Lesern Stoffe aus den besten Opern- und Konzerthäusern der Welt. Was haben sie gehört, gespürt, gesehen, gefühlt, gerochen?
Ich danke allen Klassik-Reportern von klassik-begeistert für die Begeisterung, mit der sie ihrem Handwerk nachgehen. Nur durch Euer Engagement, Euer Wissen, Euer Gehör und vor allem durch Eure Schreibkunst ist klassik-begeistert.de zum größten deutschsprachigen Blog in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgestiegen. Und das ohne Pause seit 2018.
Ich wünsche allen Autorinnen und Autoren sowie allen Leserinnen und Lesern einen geschmeidigen Flug ins hoffentlich friedvollere Jahr 2024.
Herzlich,
Andreas Schmidt, Herausgeber
Alle Konzerte und Opern waren zusammen sehr schön
Mein „schönstes Konzerterlebnis“ – das weiß ich nicht. Alles zusammen war schön, ich habe zusätzlich zu dem, was ich schon aufgeschrieben habe, kein Mitteilungsbedürfnis… wenn etwas herausragte und besonders berührte, dann die Zugabe des Cellisten Gaultier Capuçon.
Sandra Grohmann, Berlin
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Die Magie des unausprechlich Unvorstellbaren
So gern würde ich magisch denken, mir den Moment zurückholen, es jetzt erleben. Die immerwährende Veränderung durch den Fluss der Zeit trotzig aufhalten, überwinden für diese Aufführung von IL RITORNO / DAS JAHR DES MAGISCHEN DENKENS im Cuvilliés-Theater in München. Wie Joan Didion es magisch vordenkt, so will ich diesen Moment festhalten, der in meiner Vorstellung verheißungsvoll absolut ist: in diesem Moment existierte außer diesem kein weiteres Verlangen in mir. Eine so tiefe Lebendigkeit und so schmerzende Schönheit haben die Künstler in mir angerührt am siebten Mai 2023.
Frank Heublein, München
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Grandiose Klangfarben neu orchestriert
Statt aus den größtenteils sehr guten bis herausragenden 76 Konzerten, die ich im Jahr 2023 erleben durfte, eines herauszupicken, möchte ich lieber einen Abend der Kategorie „unerwarteter Volltreffer“ erwähnen. Die Kölner Philharmonie hatte nämlich allen Abonnenten der Klavierreihe „Piano“ – im Dezember gab Nathalia Milstein ihr phänomenales Debüt in Köln – je zwei Karten fürs Konzert des von Peter Rundel geleiteten „Remix Ensemble Casa da Música“ am Sonntag, 8. Oktober 2023, geschenkt. (Das Wort „je“ ist für Loriot-Kenner wichtig, denn sie denken naturgemäß an Salamo-Bratfett.) Vor nicht einmal 150 Menschen wurden zwei zeitgenössische Werke von Brice Pauset und Jörg Widmann geboten, beide mit Schumann-Bezügen.
Pausets Kinderszenen mit Robert Schumann (2003) boten eine zunächst stark verfremdete Fassung des op. 15 für Kammerensemble, doch schon bald schienen die vertrauten Stücke durch, teils mit Klavier aus dem Off. Eine „komponierte Neuinterpretation“, so der Komponist. Matthias Goerne war dann der Solist im zweiten Teil des Abends, Jörg Widmanns Schumannliebe (2023), in dem der Komponist den Liedzyklus in grandiosen Klangfarben neu orchestriert. In jedem Lied spürt man die unbändige Verehrung Widmanns für Schumann. Ein großer Abend, ein unerwarteter Volltreffer, Goernes Bariton klang hinreißend. Ich habe noch kein Stück von Widmann gehört, das mir nicht gefallen hätte.
Dr. Brian Cooper, Bonn
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Wenn einem so viel Gutes widerfährt…
Wenn einem so viel Gutes widerfährt, dann ist die Auswahl stark erschwert! Wem bei der ersten, hier leicht abgeänderten Zeile dieses Reims eine Fernsehwerbung aus den 50ern einfällt, der liegt ganz richtig. Ähnlich muggelig wie in der Variante aus den 70ern lehnen wir uns also mit einem guten Schluck im Schwenker zurück und erinnern uns auf den letzten Metern des Jahres am knisternden Kamin, was uns 2023 musikalisch besonders beeindruckt, angerührt oder aufgewühlt hat.
Zweimal fällt die Wahl auf Hamburg und das Lieblingskonzert ist die Aufführung von Gustav Mahlers 2. Symphonie in der „Elphi“ unter Klaus Mäkelä am 19. März. Dirigent, Solistinnen (allen voran Wiebke Lehmkuhl), Orchester und Chor haben die „Auferstehungssymphonie“ als ebendas überragende Heiligtum, das dieses Werk darstellt, zelebriert. Es sei an dieser Stelle wiederholt: Wenn es einen Gott gibt, dann spricht er durch Gustav Mahler.
Die mitreißendste Opernaufführung war „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach in der zauberhaften Inszenierung von Daniele Finzi Pasca mit einer Weltstar-Besetzung, nämlich Pretty Yende, Matthew Polenzani und Erwin Schrott in der Staatsoper. Die gesanglichen Leistungen ergaben mit einem bühnenbildnerischen Meisterwerk eine phantastische Reise in das Innere des romantischen Dichters, der, ebenso wie die Frauenfiguren in seinem Leben, letztlich auch eine traumbildhafte Erfindung des Komponisten ist.
Das dritte herausragende Konzerterlebnis widerfuhr uns am 6. Februar in der Königin und Mutter aller Hansestädte. Die Lübecker durften Sergei Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 mit Nikolai Lugansky am Klavier und Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Symphonie Nr. 6 unter der Leitung von Stefan Vladar in der Musik- und Kongresshalle als tief emotionale musikalische Sternstunde erleben. Glücklich schätzte sich, wer das hören konnte!
Dres. Regina und Andreas Ströbl, Hansestadt Lübeck
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Vor dem Komponisten verantwortbar
Mein schönstes Opernerlebnis 2023? Es ist in dem Fall kein gutes Zeichen, dass ich darauf nicht spontan antworten kann, und es liegt nicht an der Mehrzahl bewegender Opernerlebnisse. Für das Kalenderjahr 2022 war es eindeutig „Der Tod in Venedig“ in der Wiener Volksoper, worüber meine Frau und ich in Klassik begeistert referierten. Ich erlaube mir das Eigenschaftswort im Superlativ in „interessantestes“ zu ändern.
Jetzt meine knappe Antwort für dieses Jahr 2023: „Aida.“ Aber nicht die am 18. Januar in der Wiener Staatsoper mit der hoheitsvollen Amneris Elīna Garanča und der sinnlichen Aida Anna Netrebko. Der Regisseur Andreas Gergen und die neue Musiktheaterdramaturgin des Salzburger Landestheaters Vinda Miguna machen es in ihrer Produktion spannend. Ein Manager in einem Großkonzern will vor dem beruflichen Leistungsdruck und aus seiner Ehe fliehen. Er taucht in die Fantasiewelt des alten Ägyptens ein und sein Chef und Schwiegervater wird zum Pharao und seine Frau zur Prinzessin Amneris. Wenn man/frau die ernüchternde Werkgeschichte nachliest, dann wirkt eine solche fantasievolle Überarbeitung belebend und vor dem Komponisten verantwortbar.
Lothar Schweitzer, Wien
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Neun Mal gab ich in der Staatsoper Hamburg die Note 10 / 10 Punkten
Der Rückblick auf das ablaufende Opernjahr ergibt für die Hamburgische Staatsoper ein ausgesprochen positives Ergebnis, welches vom Nachfolger des derzeitigen Intendanten Georges Delnon erst einmal eingestellt werden sollte. Von den 19 im Jahre 2023 von mir gesehenen Aufführungen erreichten 9 eine (von mir seit Jahrzehnten intern vergebene) Bewertung von 10/10 Punkten, entsprechend 47%, im Mittel eine solche von 8,9 Punkten. Solch hohe Werte liegen Jahrzehnte zurück und kennzeichneten eher die goldene Ära zwischen Everding (42%), Dohnanyi (45%) und Liebermann (41%), und zwar in dieser Reihenfolge. Denn während der ersten Ära Liebermann gab es zwar immer wieder hochkarätige Aufführungen, aber mehr in der Spitze als in der Breite (18%).
Dieses tolle Ergebnis für 2023 lag nicht nur an herausragenden gesanglichen Leistungen einzelner Stars wie Pretty Yende in Hoffmanns Erzählungen, Catherine Foster als Turandot oder Asmik Grigorian als Salome, sondern vor allem an durchgehend herausragenden Besetzungen. Deswegen wähle ich als bemerkenswerteste Aufführung des Jahres 2023 eine weitgehend mit Ensemblemitgliedern besetzte Repertoirevorstellung von Puccinis La Bohème im Januar dieses Jahres als bemerkenswerteste Aufführung: Es sangen mit hoher musikalischer Sensibilität Elbenita Kajtazi die Mimì, Katharina Konradi die Musetta, Kartal Karagedik Marcello sowie Hubert Kowalczyk Colline und, als einziger Gast, Tomislav Mužek Rodolfo, die musikalische Leitung hatte Paolo Arrivabeni.
Dr. Ralf Wegner, Hamburg
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The Philadelphia Orchestra in Hamburg: ein wahrer Rausch der Gefühle
Ich musste dann doch etwas länger darüber nachdenken, was mich in diesem Jahr am meisten angefixt hatte: Seit 2017 ist die Elbphilharmonie offen – weit mehr als 300 Konzerte sind mir schon durch meine Hirnwindungen gerauscht – Orchester aus Chicago, die Wiener, die Berliner, Oslo, die 3 Londoner, MusicAeterna, Concertgebouw, Maggio Musicale, Staatskapelle Dresden, Kammerphilharmonie Bremen oder Mahler Chamber, um die wichtigsten zu nennen. Irgendwie wusste man, wusste ich, was in etwa auf mich zukam. Beim Doppelkonzert des The Philadelphia Orchestra hatte ich nicht damit gerechnet!
Diese zwei Abende waren ein wahrer Rausch der Gefühle!!! Für mich ein unendliches Glück!
Ein Orchester zum Niederknien – ein Dämon an den Tasten (Daniel Trifonov) , der eine Dynamikbandbreite ablieferte, die ich noch nie so hörte – und ein Meister am Taktstock (Yannick Nézet-Séguin) , der sein Orchester geradezu beflügelte Weltklasse abzuliefern – die Hütte stand schon nach wenigen Sekunden, nachdem der letzte Ton verhallte – eine Gänsehaut raffte die nächste – ich war im Doppelpack der Glückseligkeit – auch der zweite Abend ließ keinen Zweifel daran, dass man hier einem der besten Klangkörper der Welt lauschen durfte – wenn 80 Menschen klingen wie EIN Instrument, wenn Streicherflächen zart samten zusammen flimmern und flirren, wenn Posaunen einen erzittern lassen, der Klang der Hörner Tränen in die Augen schießen lässt, Flöten, Klarinetten, Oboen und Fagotte zarte Tupfen malen und Melodien pfeifen und ein Meister am Pult und an den Tasten sein Bestes gibt – alles scheinbar mühelos – mit einer unfassbaren Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, dann hat man großartige Musik mit allen Sinnen wahrgenommen – hoffentlich kommt dieses Orchester alsbald wieder nach Hamburg – unfassbar und atemberaubend!
Ein herrlicher Doppelabend mit Werken von Sergej Rachmaninow.
Patrik Klein, Hamburg
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Alles wurde mit großen Augen und Herzen bestaunt und beklatscht
Welches Konzert, welche Oper mich besonders beeindruckt hat…? …ich denke nach…. Und komme, ehrlich gesagt, erst nach geraumer Zeit, zu der Erkenntnis, dass ich die veroperte Geschichte „Alice im Wunderland“ sehr erbaulich fand. Erleben durfte ich sie, zusammen mit meiner Enkelin, im Opernhaus Zürich.
Erlebe ich sonst an diesem Ort eine eher sehr gediegene Atmosphäre, flirrte an jenem Tag das altehrwürdige Haus vor lauter Aufregung und Vorfreude. Viele Kinder kamen, dem Anlass angemessen, todschick gekleidet und trugen ihre Garderobe voller Stolz. Auch die Inszenierung, einschließlich Bühnenbild und Kostüme, ließ kaum Wünsche offen; sie war schräg, bunt, verrückt, lustig und zauberhaft, genau wie die Vorlage, sprich die Geschichte. Was den Besuch so besonders machte, war die außergewöhnliche Begeisterung des jungen Publikums. Nichts war selbstverständlich, alles wurde mit großen Augen und Herzen bestaunt und beklatscht.
Was die Großmutter sehr erbaulich fand, war die Tatsache, dass alle Beteiligten auf der Bühne mit sichtlicher Freude und großem Können ihre Rollen spielten und sangen. Und, das möchte ich noch erwähnen, die Aufmerksamkeit des Publikums war vorbildlich. Von Altershusten und Plaudereien während der Oper keine Spur. Meine Enkelin begleitet mich seit jenem Besuch von Zeit zu Zeit und voller Freude zu geeigneten klassischen Konzerten. Auch das findet die Großmutter sehr erbaulich! Haben Sie ein glückliches neues Jahr,
Kathrin Beyer, Lahr
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Anna Netrebko singt in einer anderen Liga auf ihrem Olymp
Meine schönsten Konzert- und Opernerlebnisse 2023 sind ohne Wenn und Aber die 5 Abende mit Anna Netrebko, 52, der mit Abstand ! besten Sängerin der Welt: In Wiesbaden (Nabucco), in Baden-Baden (Gala Konzert mit Yusif Eyvazov) , im Wiener Konzerthaus (Verdis „La Traviata“ mit Yusif Eyvazov) sowie in der Wiener Staatsoper (russischer Liederabend / Puccinis Manon Lescaut). Kein anderer klassischer Sänger kann solche Farbenvielfalt, solche Nuancen, solchen Feinheiten, solche Verzierungen und Verzückungen kredenzen wie die Austro-Russin. Technisch und von der Anmutung her reicht ihr (noch) niemand das Wasser. Wer einen Sopran auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft erleben möchte, sollte sehr bald die Gunst der Stunde nutzen.
Andreas Schmidt, Herausgeber, Hamburg
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Christian Thielemann: Diesmal kam er tatsächlich… und signierte
Ganze sechs Mal haben die Wiener Musikverein-Fans Thielemann noch auf die Bühne geholt. Die Philharmoniker waren längst gegangen, doch das Publikum wollte nicht aufhören zu klatschen. Zu Recht, so eine herausragende Bruckner 8 hört man wirklich nicht alle Tage. Jeder einzelne Trugschluss mit viel Liebe zu Ende gespielt, im äußerst wilden Schlusssatz schien der Goldene Saal fast aus allen Nähten zu platzen. Das hat einen richtig durchgeschüttelt und mitgenommen… und dabei war es doch nur ein ganz gewöhnlicher Sonntagmorgen.
Nach dem Konzert bin ich dann noch zum Bühneneingang gegangen, habe mich mit drei, vier anderen wartenden Gästen darüber ausgetauscht, wie ich erst im vergangenen Dezember in Berlin eine Stunde erfolglos auf ein Thielemann-Autogramm gewartet hatte. Diesmal kam er tatsächlich – und gegen einige Grüße von der Bayreuther Orchesterwarte hatte meine Bruckner-8-Partitur eine Signatur. Nun steckt die Bruckner-Bibel jeden Mittwoch in meinem Uni-Rucksack… ja, solche Stücke stehen auch auf dem Probenplan unseres Studentenorchesters.
Johannes Fischer, Hamburg
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Einfach fantastisch, wie ausgeglichen die Stimme dieses Baritons klingt
An diesem tristen, kalten und nassen Novembertag im Kammermusiksaal der Philharmonie in Luxemburg erwärmten Gerald Finley und Julius Drake, sein Begleiter am Klavier, mir nicht nur das Herz. Nein, sie schossen sich in knapp 90 Minuten an die Spitze der Hitparade meiner schönsten Opern- und Konzerterlebnisse des Jahres 2023. Schumann (Lieder und Balladen) und Schubert (Ausschnitte aus “Schwanengesang”) im ersten Teil, dann, nach der Pause, Lieder von Henri Duparc sowie von verschieden englischen und amerikanischen Komponisten (Britten, Peel, Ives, Porter), bescherten den Zuhörern einen abwechslungsreichen und unvergesslichen Abend.
Einfach fantastisch wie ausgeglichen die Stimme des kanadischen Baritons an diesem 22. November 2023 über ihre ganze Lage hinweg klingt: da gibt es keine Brüche zwischen Höhen und Tiefen, zwischen Piano und Forte. Auch gestalterisch weiss Finley stets den richtigen Ton und Stil zu treffen: mal dramatisch wie in Schumanns Belsatzar oder seinen Balladen Die beiden Grenadiere und Die feindlichen Brüder, mal verträumt romantisch wie in Duparcs Sérénade, mal spielerisch und ironisch wie in dem Trinklied aus Ravels Lieder des Don Quichotte, das Finley als Zugabe kredenzte. Die Diktion ist dabei immer perfekt: egal ob Deutsch, Französisch oder Englisch, der Zuhörer versteht jedes Wort. Julius Drake am Klavier ist ihm dabei ein perfekter Partner, so dass es an diesem Abend nichts zu bemäkeln gibt, es sei denn, der Fakt, dass der Liederabend nicht total ausverkauft ist! Aber wie das französische Sprichwort schon immer sagt: “Les absents ont toujours tort” (Die Abwesenden haben immer Unrecht)!
Jean-Nico Schambourg, Luxemburg
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Wir feiern Walpurgisnacht mit dem „Tannhäuser“ in Berlin
Die Inszenierung des „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ von Sasha Waltz begeistert uns, weil sie modern und trotzdem werktreu interpretiert, unterhaltsam und trotzdem bedeutsam daherkommt. Genial und schlicht Waltz’ Einfall, Tänzerinnen und Tänzer aus einem offenen Halbrund auf die Bühne gebären zu lassen! Die Tänzerinnen und Tänzer fügen sich immer selbstverständlich, natürlich und sinnvoll in die Handlung ein. Das Ballett hat hier keine schmückende, sondern eine tragende Rolle, wodurch sich die Inszenierung von anderen bedeutend abhebt.
Gleich die ersten Takte berauschen uns am 30. April 2023, so lebhaft und schön spielt das Orchester der Staatsoper Unter den Linden. Sebastian Weigle führt das Orchester exzellent, lässt es zur Geltung kommen, wenn es passt, und schafft zugleich ein Wohlfühlambiente für die Sänger. Marina Prudenskaya singt und spielt die Venus überzeugend. Als am Ende des ersten Aufzugs die Hörner der Jagdgesellschaft oben auf der Bühne tönen, fallen uns die Kinnladen herab. So perfekt haben wir das noch nicht hören und sehen dürfen!
Zweiter Aufzug, Auftritt: Lise Davidsen. Was für eine Erscheinung: Bühnenpräsenz pur, und dann diese Stimme: Scheinbar mühelos füllt ihr warmer Sopran die heilige Halle. Sie überstrahlt das Orchester, ohne je angestrengt, scharf oder gepresst zu klingen. Ob klare Höhe, dunkle Tiefe, stets bleibt sie exzellent verständlich. Herzzerreißend, wie Waltz Davidsen im dritten Aufzug einsam in Sorge um Tannhäuser über die Bühne schreiten lässt. In ihrem Gesang meint man die Sterne des Himmels, unter dem sie die heilige Jungfrau anruft, funkeln zu sehen. Wir sind hin und weg und tanzen in den Mai. Kein Zweifel: Das war ein besonderer Opernabend. Das war unser musikalischer Höhepunkt im Jahr 2023.
Petra und Dr. Guido Grass, Köln
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Das Festival d’Aix-en-Provence ist eine Konkurrenz für Salzburg
Mein schönstes Opernerlebnis des Jahres 2023 war eindeutig die Aufführung von Mozarts Oper „Così fan tutte“ bei dem Festival in Aix-en-Provence im Juli. Dmitri Tcherniakov inszenierte die bitterböse, zynische Komödie Mozarts im Hof des barocken Erzbischöflichen Palais, am gleichen Ort war das renommierte Festival 75 Jahre zuvor mit der gleichen Oper begründet worden. Ich erinnere mich noch gut an die Inszenierung Patrice Chereaus, die ich 2005 am gleichen Ort erlebte.
Ein ausgezeichnetes internationales Sängerensemble führte die Aufführung unter Thomas Hengelbrock zu einem Triumph, aber eine Attraktion der dortigen Vorstellungen ist auch immer die überwältigend schöne barocke Altstadt von Aix, der Hauptstadt des früheren Königreiches der Provence. Das Festival ist über die Jahre an Bedeutung und Umfang gewachsen, inzwischen ist es zur ernsthaften Konkurrenz für die Salzburger Festspiele geworden. Für mich sind Besuche in Aix auch immer mit Familienbesuchen verbunden, meine Schwester und ein Neffe leben dort ganz in der Nähe.
Peter Sommeregger, Berlin
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Im Jahr 2023 lebte das „Bayreuth des Nordens“ auf
Meine Konzerterlebnisse des Jahres 2023 waren vor allem solche, an denen ich selbst mit dem CPE-Bach-Chor Hamburg gesungen habe. Dafür saß ich in Opernhäusern öfter im Publikum. Für das wichtigste und beispiellose musikalische Ereignis des vergangenen Jahres halte ich das I Baltic Opera Festival in Gdańsk und Sopot. Dies ist eine Reaktivierung der sommerlichen Opernfestspiele, die von 1909 bis 1944 in der Zoppoter Waldoper stattfanden. In diesem Naturtheater führte man ab 1922 hauptsächlich – und ab 1934 ausschließlich – die Opern von Richard Wagner auf. Deshalb erhielt die Bühne den Namen „Bayreuth des Nordens“.
Dank der dreijährigen Bemühungen des berühmten Wagner-Bassbaritons Tomasz Konieczny kehrte der Bayreuther Meister nach fast 80 Jahren auf die Bühne der Zoppoter Waldoper zurück. Auch der Direktor des Festivals Rafał Kokot hat hier einen großen Beitrag geleistet. Nach allen organisatorischen „Gewittern und Stürmen“ führte man „Der fliegende Holländer“ in Sopot unter der künstlerischen Betreuung von Konieczny auf. Das Bühnenbild von Boris Kudlička mit einer dunklen Wand des echten Waldes sowie das wohlüberlegte Lichtspiel versetzten den Zuschauer in eine unheimliche Stimmung. Vor dem Zoppoter Publikum traten polnische und deutsche Solisten auf: Andrzej Dobber in der Titelrolle, Ricarda Merbeth als Senta, der hervorragende Dominik Sutowicz (Steuermann), Małgorzata Walewska (Mary), Stefan Vinke (Eric) und der Wagner-Veteran Franz Havlata in der Rolle von Daland. Der Chor und das Orchester der Opera Bałtycka unter der Leitung von Maestro Marek Janowski vervollständigten diese Aufführung. Sowohl Einheimische als auch geladene Gäste begrüßten die Inszenierung. Dieses Projekt ist ein Meilenstein in der deutsch-polnischen Kulturzusammenarbeit.
Jolanta Łada-Zielke, Hamburg
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Bei Bruckner 8 herrscht absolute Ruhe im Wiener Konzerthaus
Mein schönstes Orchesterkonzert des Jahres 2023 war sicher die Aufführung der 8. Symphonie von Anton Bruckner im Wiener Konzerthaus. Angesichts ihrer Riesenmaße steht die Symphonie nicht allzu oft auf dem Spielplan. Ich höre immer wieder Aufnahmen auf CD an, aber selbst die beste Tonaufnahme hat nicht die einzigartige Wirkung einer Live-Wiedergabe. Zu Bruckners Achter finden sich nur Kenner ein, die dem Werk mit der gebührenden Konzentration und dem gebührenden Respekt begegnen. Da herrscht absolute Ruhe im Konzertsaal, da werden keine geflüsterten Kommentare abgegeben, da werden auch in den Pausen zwischen den Sätzen keine Mobiltelefone hervorgeholt. Ich konnte mich also ungestört auf den musikalischen Kosmos konzentrieren, den die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Manfred Honeck großartig entfalteten. Worte können nur schwer beschreiben, wie reichhaltig dieser Kosmos ist, wie abwechslungsreich und doch in sich geschlossen die Gesamtarchitektur, wie faszinierend die Details des Orchestersatzes, wie überwältigend die Apotheose zum Schluss. Ja, dieses Werk kann einen wahrlich in eine bessre Welt entrücken. Ich habe, nachdem der Applaus verklungen war, noch lange gebraucht, um wieder auf den Boden der alltäglichen Realität zurückzufinden.
Dr. Rudi Frühwirth, Wien
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Riccardo Muti überzeugt mit superben Musikern in Ravenna
Hier ließ sich mit Norma tatsächlich mit einmal eine Bellini-Oper im besten Belcanto erleben, was bedeutet: Legatogesang, richtige Phrasierung in den Rezitativen und entsprechender dramatischer Theatralik. Das gesamte Team samt Luigi Cherubini Orchestra und Stadttheaterchor von Piacenza musizierten und sangen superb. Der Nabucco stand dieser Einstudierung ins Nichts nach, hier gelang allen voran dem Chor eine faszinierende Wiedergabe.
Mahlers Dritte mit berührt subtil unter Thielemann und Currentzis
Nacheinander berührten Christian Thielemann und Teodor Currentzis gleichermaßen mit packenden Interpretationen dieser Sinfonie. Ob mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden oder dem Utopia Ensemble: Beide Orchester musizierten unter ihren Dirigenten hochmotiviert mit großer Leidenschaft, beide Dirigenten dynamisierten aufs Subtilste und bestachen mit Wiedergaben, die gleichermaßen dramatisch, lyrisch und schwermütig tönten.
Kirsten Liese, Berlin
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Gute glühende Kunst strahlt wie ein Leuchtturm in die Gesellschaft hinein
Es ist kein Geheimnis, dass Richard Wagners große Liebesoper Tristan und Isolde einen ungemeinen, gar gefährlichen Zauber besitzt. Erschlagend und beseelend zugleich ist die Sehnsucht, die in den Noten dieses Werks niedergeschrieben ist. Was aber passiert nun, wenn sich ein kleines Mehrspartenhaus an diesen Giganten der Opernliteratur herangewagt? Dieses Jahr widmete sich das Staatstheater Cottbus einer Neuinszenierung dieses hinreißenden Werks und brachte dabei den Jugendstil-Bau zum Glühen: Ein Blick in die Foyers hat ausgereicht, um zu bestätigen, dass das ganze Haus auf Hochtouren lief. Kann sowas glücken?
Mit Sicherheit, wenn man sich dem Werk mit einer solch leidenschaftlichen Hingabe, die heute immer seltener wird, widmet, wie in Cottbus. Inspiriert und inspirierend zugleich waren die Ergebnisse des Abends: Ein Dirigat, das trotz kleinem Orchester die unendliche Melodie der Liebesnacht zum Schweben brachte, dazu eine Inszenierung, die frisch und neu, doch dabei stets ernsthaft und berauschend die zeitlose Liebesgeschichte auf die Bühne brachte, allem voran natürlich Catherine Fosters umwerfend zarte Isolde. Es gibt sie also noch, die großen Musiktheaterabende außerhalb der Hauptstädte, die es schaffen, ein riesiges Publikum in die Niederlausitz zu locken und damit zeigen, dass gute Kunst wie ein Leuchtturm in die Gesellschaft hinein strahlen kann.
Leander Bull, Heidelberg
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„Auch das Schöne muss sterben!“
Schon Schiller notierte tiefsinnig: „Auch das Schöne muss sterben!“ Nun endet in Dresden das letzte vollständige Jahr der Ära Thielemann. Sarkastisch könnte man sich wünschen, der preußische Kapellmeister würde dem Dresdner Publikum den Abschied mit etwas ausklingendem Mittelmaß leicht machen. Diese hoffentlich von niemandem ernsthaft gehegte Hoffnung hat sich freilich ohnehin schon im Februar zerschlagen: Thielemanns letzter Ring in Dresden war erneut das absolute Highlight des Dresdner Musikjahres. Hochgradig feinsinnig, stets den großen Bogen schaffend gelang mit hervorragenden Sängern und in der schön-bewährten Decker-Inszenierung ein so herrlicher Ring, wie in Dresden womöglich auf viele Jahre nicht mehr bekommen wird. Es waren jene Abende, in denen die Opernwelt nach Dresden schaute – und das vornehmlich wegen Thielemann. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Staatskapelle und die Semperoper ohne ihn entwickeln wird. Sicher ist: Es wird wieder Neues und auf Zeit Gelingendes entstehen – ganz sicherlich in Berlin und bestimmt auch in Dresden. Das hat uns, in seiner universellen Aussage über Ende und Neubeginn, jener Ring im Februar 2023 wieder eindrucksvoll vor Augen geführt.
Willi Patzelt, München / Dresden
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Zu Wotans Abschied kullern die Tränen
Der Auftritt von Tomasz Konieczny als Wotan an der Wiener Staatsoper… Ganz knapp, aber doch, vor dem „Salome“-Dirigat von Philippe Jordan. Nicht nur, weil es so etwas wie die lang ersehnte Heimkehr zu seinen Wurzeln war. An der Wiener Staatsoper hat Kammersänger Tomasz Konieczny über Jahre seine Hand über Walhall gehalten. Unter Dominique Meyer ist er zu DEM Wotan gereift, der er heute ist: in puncto Ausdruck, Kraft und Energie – unantastbar. Sondern auch, weil er den Walkürenwotan sowas von auf die Bühne genagelt hat, dass einem bereits beim ersten Szeneauftritt fast die Freudentränen in die Augen schossen. Beim gigantischen Wotan-Monolog glitt seine unverwechselbare Bassbariton-Stimme dann auf einer Legatokultur dahin, die ihresgleichen sucht. Zu Wotans Abschied kullerten die Reihe hinter mir dann die Tränen.
Ein besonderer Abend für alle. Für Konieczny selbst, der alle Strapazen auf sich nehmen würde, um in seiner „Lebensaufgabe“, wie er den Wotan nennt, an der Wiener Staatsoper zu singen. Für alle Opernfreunde, die sich zur Musik von Richard Wagner hingezogen fühlen. Und für das Wiener Publikum, das Tomasz Konieczny fest in seine Herzen geschlossen hat: Am Ende stand das Haus auf dem Kopf.
Jürgen Pathy, Wien
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Ich goutierte in Hamburg Vorstellungen auf hohem künstlerischen Niveau
Das Jahr 2023 neigt sich dem Ende zu. Es hat erneut gezeigt, dass Kunst und Kultur im Allgemeinen und Musik im Speziellen Zufluchtstätten der Seele sind, ohne die wir menschlich verarmen würden. Wie gut zu wissen, das uns dieser Rückzugraum nicht genommen werden kann.
Meine persönlichen Erfahrungen im jetzt ausklingenden Jahr 2023 (das ja konzertmäßig noch nicht ganz vorüber ist) belegen den überraschenden Umstand, dass zahlreiche Aufführungstermine nur mäßig besucht waren und es noch jede Menge Karten an der Abendkasse gab. Ist dieses ein Hinweis darauf, dass im Großraum Hamburg, über den ich zumeist berichte, sich das klassikversierte Stammpublikum auf dem Rückzug befindet? In der Elbphilharmonie gibt es noch immer zahlreiche Besuchergruppen, die eher an der Elbphilharmonie selbst denn an der dort erklingenden Musik interessiert sind. Aber an der Hamburgischen Staatsoper und in der Laeiszhalle Hamburg überwiegt eher das fachkundige Publikum, und dieses will durch attraktive Programme, interessante Inszenierungen und herausragende Besetzungen zum Besuch motiviert werden. Fehlt es etwa an attraktiven Premieren, Inszenierungen und Besetzungen, oder liegt es an der Programmauswahl? Die von mir besuchten Vorstellungen waren überwiegend auf hohem künstlerischen Niveau und konnten somit nicht als Erklärung herhalten. Oder sind es etwa die zunehmenden Livestream-Angebote, die den Konzertbesuch nach Hause verlagern? Auf alle Fälle bin ich sehr gespannt auf die kommende Spielzeit und die möglichen Auswirkungen des anstehenden Intendanzwechsels in Oper und Ballett.
Meine persönlichen Favoriten (Oper und Konzert) waren 2023:
Oper: Nach dem ungeheuren Erfolg von Richard Strauss’ „Salome“ in Salzburg war für mich eigentlich klar gewesen, dass man dieses Opernerlebnis nicht würde „toppen“ können. Doch da musste ich mich korrigieren: Die Hamburger „Salome“ (Inszenierung: Dmitri Tcherniakov) war besser, und das lag nicht nur an der überragenden Asmik Grigorian.
Konzert: Das Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters unter der Leitung von Herbert Blomstedt (Johannes Brahms: Konzert für Violine und Orchester, D-Dur op. 77, Solist: Leonidas Kavakos, Carl Nielsen: Symphonie No. 5 op. 50) war in der Hamburger Elbphilharmonie lange vor Termin ausverkauft, weshalb ich nach Lübeck auswich und es in der MUK Lübeck erleben durfte, wobei ich auf jede Menge leerer Sitzreihen und Rangplätze blicken konnte. Das Konzert war ein absolutes Highlight, doch wurde es in meiner persönlichen Jahreswertung doch noch überholt von dem erst kürzlich stattgefundenen Konzert der Symphoniker Hamburg (Ludwig van Beethoven: Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61, Solist: Gil Shaham, Sergej Rachmaninow: Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27, Han-Na Chang, Dirigentin).
Dr. Holger Voigt, Kaltenkirchen bei Hamburg
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Die Elbphilharmonie am Hafen ist mein Füllhorn – wie schön!
Ein Füllhorn tut sich auf! Der Donnerblick des echten Lords, der in Rang 15 rechts einschlägt, Sir John Eliot Gardiner blitzt bei Brahms, der Anschlag der Ushida, die Bogenführung Bells, ja – aber das Schönste sind die Menschen dort: Meine tätowierte Perle an der Abendkasse, „Ich hab hier was für Dich!“ – Richard, der Barmann, „Harald, ist das nicht Dein Wein?“ – „Wenn Du das sagst?“ – der gertenschlanke Saalmanager, „schön, Sie wiederzusehen.“ Die herzlich-interessierten Gespräche mit Kosmopoliten in Deutsch, Englisch und manchmal auch Französisch – „wunderschön“, „beautiful“, „magnifique“, Beethoven, Britten, Berlioz. Dass jeder Abend ein Erlebnis ist. Und dass man Anlass hat, seine Hemden zu bügeln und passende Krawatten zu finden, die Schuhe werden im Entrée des Hotels Westin Grand an der Maschine poliert – und dann beginnt das Schöne wieder von vorn!
Harald Nicolas Stazol, Hamburg
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Hochgenuss zwischen Musik, Tanz und Architektur in Jerewan
Frühling im Kaukasus. Ein Ausflug von Tbilisi nach Jerewan war für mich mit dem Besuch des ikonischen Opernhauses der armenischen Hauptstadt verbunden. Aram Khatchaturians Werke sind, genauso wie das konzentrische Stadtbild Jerewans, Höhenflüge der sowjetischen Moderne. In Deutschland nur selten gespielt, stehen sie in Armenien beinahe wöchentlich auf dem Programm. Das Ballett Masquerade, nach dem Stück von Lermontow, stellt eine tragische Liebesgeschichte dar und lebt vom fragilen Glanz des imperialen St. Petersburgs. Trotz des Repertoirecharakters der Aufführung spielten und tanzten alle Beteiligten mit sinnlicher Hingabe. Der Ballettabend wurde somit zu einem unvergesslichen Hochgenuss zwischen Musik, Tanz und Architektur.
Lukas Baake, Brüssel
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Dieser großartige Abend in Stuttgart hätte ein volles Haus verdient
Der Anreiz zum Besuch von Verdis Falstaff in der der Staatsoper Stuttgart im September 2023 war, dass mit Selene Zanetti als Alice Ford und Slávka Zámečníková als Nannetta zwei von mir hochgeschätzte Rising Stars mitwirkten. Und dann erlebte ich einen Opernabend, die noch weit mehr Pluspunkte vorweisen konnte als den schönen Gesang und das überzeugende Spiel der beiden inzwischen international begehrten jungen Damen. Verdis Komödie war flott, aber keinesfalls überdreht inszeniert, das Bühnenbild war einladend und gut bespielbar, Kostüme entsprachen in unaufdringlicher Weise unserer Zeit und an der Klangkultur und Präzision des Orchesters unter Cornelius Meister gab es nichts auszusetzen. Selene Zanetti und Slávka Zámečníková überzeugten als selbstbewusstes Mutter-Tochter-Paar. Doch auch die Männerriege konnte Pluspunkte sammeln. Lucio Gallo gab mit energiegeladener und fokussierter Stimme einen Falstaff, der zu allem entschlossen ist. Paweł Konik als Mr. Ford lieferte in derselben Qualität ein Duell auf Augenhöhe. Vielleicht hätten die Stimmen etwas unterschiedlicher sein können, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Ebenfalls überzeugend und bestens ins Ensemble passend war Mingjie Lei als Fenton, und die übrigen Rollen trugen zum positiven Gesamteindruck noch einiges an musikalischer Substanz wie auch komödiantischer Würze bei. Schade war nur, dass so viele Plätze leer blieben, denn dieser großartige Abend hätte unbedingt ein volles Haus verdient!
Dr. Lorenz Kerscher, Penzberg / Oberbayern
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Die Musik Daniel Catáns ist ein einziger Rausch
Florencia en el Amazonas an der Metropolitan Opera New York Oper in zwei Akten aus dem Jahr 1996
Komponist: Daniel Catán
Obwohl ich moderne Opern grundsätzlich nicht mag, hat mich Daniel Catáns kompositorisches Juwel “Florencia en el Amazonas” tief berührt. Es entführt den Zuhörer in eine fantasievolle Klangwelt, auf eine Reise tief in das Dickicht des Amazonas und in die menschlichen Sehnsüchte hinein.
Die Musik Catáns ist ein einziger Rausch, ausufernd, farbenreich und lichtdurchflutet: Eine tonpoetische Hommage an das faszinierend unberechenbare und zugleich mysteriöse Wesen der Natur. Leidenschaftlich und mit ganz großen Gefühlen interpretiert die US-amerikanische Sopranistin Ailyn Pérez die Protagonistin Florencia Grimaldi. Eine umwerfend schöne Oper.
Dirigent: Yannick Nézet-Séguin
Florencia: Ailyn Pérez, Rosalba: Gabriella Reyes, Paula: Nancy Fabiola Herrera, Riolobo: Mattia Olivieri, Arcadio: Mario Chang, Captain: Greer Grimsley, Álvaro: Michael Chioldi
Nicole Hacke, Hamburg
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Privligiert im Palazzo am Canal Grande in Venedig
Das schönste Opernerlebnis 2023? Eine schwierige Aufgabe – denn das abgelaufene Jahr bescherte uns zahlreiche Opern-Höhepunkte quer durch Europa: Von „Macbeth“ in einer imposanten Burg am Blackwater-Festival in Irland, musikalische Höhepunkte am Rossini-Festival in Pesaro, großartige Inszenierungen im atemberaubenden Freilichttheater von Macearta, die grandiosen Aufführungen in der Arena von Verona, die fantastische „Butterfly“ in Bregenz, eine musikalisch hervorragende „Lucia“ am Donizetti-Festival Bergamo und die fulminante, hoch originelle Inszenierung der Contes d’Hoffmann im Fenice, sowie beeindruckende Aufführungen an der Londoner Royal Opera, der English National Opera und selbstverständlich der
Wiener Staatsoper.
Aber die schönsten Opernerlebnisse wurden nicht in einem Opernhaus und schon gar nicht auf einer Freilichtbühne geboten, sondern in einem prachtvoll patinierten venezianischen Palast am Canal Grande. Es handelt sich um den Palazzo Barbarigo Minotto, ein Kleinod aus dem 15 Jahrhundert. Seit dem Jahr 2005 präsentiert in den edlen Räumen dieses herrschaftlichen Gebäudes eine Gruppe enthusiastischer Musiker drei Opern in kunstvoll reduzierter Form – klein aber sehr fein: Rigoletto, Barbier von Sevilla und Traviata, die ja nicht allzu weit von hier, im Teatro La Fenice 1853 ihre Uraufführung erlebte.
Hier lebt der „Salotto Musicale“ des 19. Jahrhunderts auf, die Salonkonzerte des Adels im kleinen, ausgewählten Kreis. Klein ist auch die Anzahl Zuschauer, die sich hier Abend für Abend versammeln – fast immer sind die Vorstellungen ausverkauft. Das Abenteuer beginnt bereits bei der Suche nach dem Palazzo – man kommt vom Markusplatz oder der Akademie-Brücke und findet mit etwas Glück und viel Fingerspitzengefühlt jene kleine Gasse, die einen zum winzigen Kanal an den Fondamenta Duodo e Barbariga führt: es geht über eine kleine Brücke, an die eine noch kleinere Brücke angehängt ist, das Licht der Straßenlaternen ist spärlich, romantisch und auch etwas unheimlich, unten plätschert das Wasser und in der Luft liegt das muntere italienische Stimmengewirr, das wie immer aus den Häusern dringt, untermalt vom Miauen einer Katze und dem Weinen eines Babys.
Obwohl man diesen Weg nicht zum ersten Mal unternimmt ist man doch erleichtert, dass man das altehrwürdige Tor wieder gefunden hat. Die ersten Gäste haben sich eingefunden und warten im Korridor, bis man endlich eine steile Treppe hinauf gebeten wird: In das vornehme „Piano Nobile“, die „Belle Etage“, wo die Oper stattfinden wird. Man fühlt sich umgehend als Teil einer kleinen, privilegierten Gesellschaft, die Zugang zu einem aristokratischen Haus erhalten hat. Antike Möbel und Bilder, brennende Kerzen. Man hat eine andere Welt betreten, eine Reise in die Vergangenheit: Der Palazzo und seine Räume sind Teil der Inszenierung, die auf jegliche Kulissen und Requisiten zu verzichten mag. Und auch auf ein Orchester: Drei Musikerinnen bzw. Musiker begleiten die Oper, die so einen kammermusikalischen Charakter erhält.
Das Publikum wird von einer charmanten jungen Dame in den ersten Raum komplimentiert, man nimmt beliebig Platz auf uralten Polstersesseln und Sofas – und wird unwillkürlich Teil der Inszenierung, die durch die Nähe der Sänger und Musiker an Intensität und Spannung gewinnt: Keine Bühne, kein Orchestergraben trennt uns von der Handlung, wir sind mittendrin und spielen mit. So entgeht uns keine Nuance, weder musikalisch noch schauspielerisch – und die jungen Stimmen sind ebenso beeindruckend wie die Virtuosität der Musiker, die ja ein ganzes Orchester samt Dirigent zu ersetzen haben.
Man wechselt den Raum für jeden Akt, drei Räume werden bespielt – und was für Räume! Stuckaturen, Fresken von Tiepolo und Carpoforo Tencalla. Gespielt wird bei Kerzenlicht und bei Szene, in welcher der professionelle Mörder Sparafucile den heimkehrenden Rigoletto auf der Strasse anspricht, läuft es einem wahrhaftig eiskalt den Rücken hinunter. Violette Valery „La Traviata“, haucht ihr junges Leben im üppigen Schlafzimmer aus – jeweils Schauplatz des letzten Aktes jeder Oper. Und in der großen Pause wird Prosecco kredenzt, auf dem Balkon über dem Canal Grande…
Fürwahr – unter den vielen bemerkenswerten Opernerlebnissen des letzten Jahres waren jene im venezianischen Palazzo die eindrücklichsten!
Dr. Charles E. Ritterband, Isle of Wight, Wien, Bellinzona (Tessin)
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Die Couleur der Klangformationen ausgekostet
Meine Leuchttürme des vergangenen Jahres verbinden sich mit der Oberlausitz. Als gebürtige Bautzenerin habe ich das kulturelle Potenzial und den Reichtum der Region einmal mehr wertschätzen gelernt. Bei herrlich sommerlichem Septemberwetter lud die dritte Ausgabe des Kammermusikfestes Oberlausitz in Kirchen und Schlössern der Region zu klassischen Landpartien ein. Beim Abschlusskonzert in der Ev.-luth. Kirche in Baruth beeindruckten der Bratschist Nils Mönkemeyer, der Cellist Jan Vogler, die Klarinettistin Marlene Wendl und der Pianist Nikolaus Branny mit einem empfindsam-enthusiastischen Zusammenspiel, das die Couleur der unterschiedlichen Klangformationen wahrlich auskostete.
Sorbischer Weihnachtszauber sprüht Funken
Unter der Musikalischen Leitung von Tvrtko Karlović kredenzte das Sorbische National-Ensemble in Bautzen mit seinem Programm „Winterzeit. Weihnachten in der Lausitz“ ein Schatzkästchen sorbischer Adventsmusiken. Dem andächtig-erhabenen ersten konzertanten Teil mit arrangierten Volksweisen und glanzvollen Soli in Arcangelo Corellis berühmten Concerto grosso g-Moll op. 6 Nr. 8 folgte ein szenischer zweiter Teil, wo das Ballett gewitzt und beinahe funkensprühend vom sorbischen Weihnachtsbrauchtum erzählte. Mit Kristina Neráds Moderation, dem Dudelsackspiel von Andreas Hentzschel und den herrlichen Trachten war der Abend des Bautzener Musiktheaters ein Ohrenschmaus und eine Augenweide.
Pauline Lehmann, Dresden
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