Eindringliches satirisches Panoptikum: Schostakowitschs Nase in München

Dmitri Schostakowitsch, Die Nase (Nos),  Bayerische Staatsoper, 2. November 2021

Ich kann mich diesem atemlosen satirischen Panoptikum nicht entziehen. Ein zwingender Abend, in dem Jurowski mit seinem Bayerischen Staatsorchester durchgehende energetische Spannung erzeugt.

Foto: DIE NASE 2021 © WILFRIED HÖSL

Bayerische Staatsoper, München, 2. November 2021

Die Nase (Nos) von Dmitri Schostakowitsch

von Frank Heublein

An diesem Abend wird in der Bayerischen Staatsoper in München Die Nase (Nos) von Dmitri Schostakowitsch aufgeführt. Es ist das erste neue Stück des neuen Führungsteams. Ich sehe es am neuen Besetzungszettel, dem neuen Design des Programmbuchs, aber auch am Publikum. Es ist jünger, diverser, alternativer, bunter.

Ich werde spät eingelassen in den Zuschauerraum. Ich verstehe sowohl die Phase vor Beginn der Oper als auch die Aktion beim ersten Schlussvorhang als zum Stück zugehörig. Die Bühne ist offen und ich sehe das erste Bild der Eisangler. Das Einspielen fühlt sich in mir an wie ein Warmwerden, eine Hinwendung zum Stück.

Die Musik ist intensiv marschmäßig, stampfend, gewährt mir selten Ruhemomente. Vladimir Jurowski lässt das Bayerische Staatsorchester äußerst konzentriert zu Werke gehen. Ich spüre permanente Spannung. Die Musik treibt die Handlung. Blech mit und ohne Dämpfer, insbesondere die tiefen Holzbläser und ein breites auf neun Personen angelegtes Schlagwerk sind die Hauptakteure des Orchesters.

Flirrend übergeben die Instrumentengruppen den musikalischen Stab an andere Bereiche des Orchesters. Die Absurdität der Handlungssituationen wird instrumental durch das Vordringen ins Atonale illustriert. Die Stimmen gehen in diesen Momenten in die hohen Extrembereiche der jeweiligen Stimmlagen.

Habe ich einen Moment den Eindruck, das Orchester folgt dem Gesang, schlagen einen Augenblick später die Instrumente einen eigenen Weg ein, brechen aus und verstärken in mir so den Eindruck des Obskuren. Erzeugen Brüche und Verschiebungen. Orchester, Sänger und Sängerinnen stehen in einer häufig kontrovers dialogischen Form zueinander.

Der dynamische Kontrast kennzeichnet die Konversation der Sänger und Sängerinnen, die auftreten. In besonders dramatischen Situationen springt die Musik über ins Atonale. In diesen Momenten gewinnt der Orchesterkorpus für mich im Inneren die Form eines auf der Bühne Handelnden.

Besonders illustriert wird dies in der Nummer, die mit „Zwischenspiel des Schlagzeugs. Petersburg ist mit Schnee bedeckt“ beschrieben ist. Die spielenden Schlagwerker bilden eine breite Front und ihre Spielplattform wird automatisch langsam von hinten an den vorderen Bühnenrand bewegt. Wie eine sich auf mich zuwälzende Schneemasse legt sich das Schlagwerk innerlich auf mich.

DIE NASE 2021 – BORIS PINKHASOVICH © WILFRIED HÖSL

In einer anderen Nummer treten Musikerinnen und Musiker in weihnachtlicher Tracht auf. Sie spielen auf russischen Saiteninstrumenten, Domras und Balalaikas. Mit dabei ist eine singende Säge. Dieses ausgelassene musikalische Quintett steht im starken Kontrast zur unmittelbar danach vorgestellten Stimmung der Hauptfigur. Kovaljov gesungen von Bariton Boris Pinkhasovich macht sich Gedanken, warum seine Nase verschwunden ist. Arm oder Bein, alles nicht so wichtig wie die Nase!

Dies ist nach dem Augenblick des ausgelassenen Feierns ein retardierender nachdenklicher Moment. Er ist voller Absurdität und Ambivalenz. Denn Kovaljov misstraut sich selbst, hat er etwa zu viel Wodka getrunken, fantasiert er den Nasenverlust nur? Es wird klar: ohne Nase ist kein gesellschaftliches Leben möglich. Alle anderen Figuren außer der Nase selbst, die als handelnde Figur auftritt und ihr Besitzer Kovaljov, tragen Nasenmasken, die statussymbolträchtige Mehrnasigkeit satirisch visualisiert. Auf dem Polizeirevier werden Inhaftierten die Nasen abgeschnitten. Ein eindeutiges Symbol des gesellschaftlichen Ausschlusses.

DIE NASE 2021 – BORIS PINKHASOVICH © WILFRIED HÖSL

Der nasenverlorene Kovaljov hetzt, irrt, bittet, verzweifelt, betrinkt sich nachdenklich, freut sich, ist beim Wiederfinden seiner Nase höchst erleichtert. Das alles hat Bariton Boris Pinkhasovich souverän in seinem Repertoire. Stimmlich wie schauspielerisch überzeugt er in der Hauptpartie. Die emotionale Achterbahn transportiert er stimmlich wie emotional klar, einfühlsam mit fester energischer Stimme.

In den 16 Nummern der Oper und etwa eine Stunde und fünfundvierzig Minuten Spielzeit treten insgesamt 80 Rollen auf. Die Handlung, die Suche Kovaljovs nach seiner Nase, wirkt in dieser Inszenierung auf mich wie ein Panoptikum, eine Geisterbahn. Die Vielzahl der Stimmen zeigen die verzweifelte Absurdität und zugleich die Egalität des Problems des einzelnen – Kovaljovs.

Höhepunkt ist das Zusammentreffen Kovaljovs mit seiner Nase. In München wird diese Nummer in der Abfolge gegenüber dem komponierten Original umgesetzt und erfolgt an späterer Stelle. Musikalisch bemerke ich diesen Eingriff nicht, ich verspüre keinen unnatürlichen Bruch. Handlungstechnisch ergibt die Umsetzung Sinn. Nach Kovaljovs Überlegung, ob der Nasenverlust nur ein Traum sei, folgt das direkte Aufeinandertreffen.

Tenor Anton Rositskiy als Nase fordert Boris Pinkhasovich als Kovaljov mehrfach auf, sich genauer zu erklären. Kovaljovs Unvermögen, sich seiner Nase zu bemächtigen vermittelt mir die beiden mit großer Schärfe. Kovaljov wirkt verzweifelt unfähig, einfach zu sagen „Du bist meine Nase“. Er ergeht sich stattdessen in umwundenen Andeutungen. Worauf die Nase in keiner Weise eingeht, auf seine die Eigenständigkeit bestehend. Die Nase wird in der Stadt zur einer Art Rummelattraktion, über die man spricht, die alle sehen wollen. Auf der Bühne ist das eine turbulente Massenszene nicht etwa nur vom Chor, sondern eben auch von vielen der besetzten Einzelrollen.

Zum ersten Vorhang ziehen sich alle Beteiligten beim Verneigen die elastischen Gumminasenmasken vom Gesicht, verändern physisch ihre Identität, auch Kovaljov. Denn das Ende deckt auf, Kovaljov findet seine Nase an richtiger Stelle, das Ganze war ein Alptraum. Das Nasenabziehen wirkt auf mich wie ein Kommentar der Ausführenden: die Infragestellung gesellschaftlicher Identitätsdefinition, die dieses Stück über das Symbol der entflohenen Nase satirisch überspitzt. Ich kann mich diesem atemlosen satirischen Panoptikum nicht entziehen. Ein zwingender Abend, in dem Jurowski mit seinem Bayerischen Staatsorchester durchgehende energetische Spannung erzeugt.

Frank Heublein, 5. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm

Die Nase (Nos) von Dmitri Schostakowitsch

Besetzung
Musikalische Leitung   Vladimir Jurowski
Regie, Bühne, Kostüme   Kirill Serebrennikov
Co Regie   Evgeny Kulagin
Bühne Mitarbeit   Olga Pavluk
Kostüme   Tatyana Dolmatovskaya
Masken   Shalva Nikvashvili
Licht   Michael Bauer
Video   Alan Mandelshtam, Alexey Fokin
Musikdramaturgische Mitarbeit   Daniil Orlov
Chöre   Stellario Fagone
Dramaturgie   Katja Leclerc

Platon Kusmič Kovaljov   Boris Pinkhasovich
Ivan Jakovlevič    Sergei Leiferkus
Praskovja Osipovna   Laura Aikin
Reviervorsteher der Polizei   Andrey Popov
Ivan   Sergey Skorokhodov
Die Nase   Anton Rositskiy
Lakai der Gräfin   Sean Michael Plumb
Beamter der Annoncenredaktion   Gennady Bezzubenkov

  1. Hausknecht   Martin Snell
  2. Hausknecht   Piotr Micinski
  3. Hausknecht   Milan Siljanov
  4. Hausknecht   Bálint Szabó
  5. Hausknecht   Andrew Hamilton
  6. Hausknecht   Theodore Platt
  7. Hausknecht   Andrew Gilstrap
  8. Hausknecht   Roman Chabaranok

 

  1. Polizist   Roman Chabaranok
  2. Polizist  Tansel Akzeybek
  3. Polizist   Piotr Micinski
  4. Polizist   Milan Siljanov
  5. Polizist   Alexander Fedorov
  6. Polizist   Andrew Gilstrap
  7. Polizist   Armando Elizondo
  8. Polizist   Granit Musliu
  9. Polizist   Vasily Efimov
  10. Polizist   Martin Snell

Vater   Gennady Bezzubenkov

Mutter   Laura Aikin

  1. Sohn   Sergey Skorokhodov
  2. Sohn   Theodore Platt

Pjotr Fjodorovič   Ulrich Reß
Ivan Ivanovič   Sean Michael Plumb
Alte ehrwürdige Dame   Doris Soffel
Händlerin   Eliza Boom
Arzt   Gennady Bezzubenkov
Jarischkin, ein Freund des Kovaljov   Tansel Akzeybek
Podtočina Pelageja Grigorjevna Alexandra Durseneva

Ihre Tochter   Mirjam Mesak

  1. Herr   Tansel Akzeybek
  2. Herr   Alexander Fedorov
  3. Herr   Granit Musliu
  4. Herr   Martin Snell
  5. Herr   Roman Chabaranok
  6. Herr   Andrew Gilstrap
  7. Herr   Vasily Efimov

Ein alter Mann   Anton Rositskiy

  1. Neuankömmling   Anton Rositskiy
  2. Neuankömmling   Gennady Bezzubenkov

Spekulant   Milan Siljanov

Verdienter Oberst   Anton Rositskiy

  1. Geck   Alexander Fedorov
  2. Geck   Piotr Micinski

 

  1. Student   Tansel Akzeybek
  2. Student   Granit Musliu
  3. Student   Theodore Platt
  4. Student   Bálint Szabó
  5. Student   Vasily Efimov
  6. Student   Armando Elizondo
  7. Student   Ulrich Reß
  8. Student   Sean Michael Plumb

 

  1. Bekannter Kovaljovs   Martin Snell

Ein anderer Bekannter Kovaljovs Ulrich Reß

  1. Bekannter Kovaljovs   Piotr Micinski

Wächter   Bálint Szabó
Heiduck   Bálint Szabó
Pförtner des Polizeichefs   Anton Rositskiy
Droschkenkutscher   Bálint Szabó
Kutscher   Bálint Szabó
Sopransolo (Kasaner Kathedrale)  Mirjam Mesak
Tenorsolo (Kasaner Kathedrale) Sergey Skorokhodov
Eunuchen   Changhoun Eo, Meili Li Matthias Dähling, Brennan Hall Kiuk Kim, Aleksandar Timotic, Nina Laubenthal, Julie Marx Susanne Metzner, Agnes Preis

Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor

Philippe Béziat, Les Indes galantes <br< Hofer Filmtage, 29. Oktober 2021

 

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