Foto © Wilfried Hösl
Dmitri Schostakowitsch, Lady Macbeth von Mzensk
Bayerische Staatsoper, 29. Oktober 2017
– Korrigierte Fassung –
von Raphael Eckardt
Ein dunkler Himmel legt sich über die Wolga. Zwangsarbeiter rasten auf ihrer Reise in die sibirische Ungewissheit, in eine Hoffnungslosigkeit, die voller Intrigen ist. Unter ihnen Katerina Ismailowa (Anja Kampe) und ihr Geliebter, Sergej (Misha Didyk). Der Schein trügt, die Liebe hat gelogen. Er hat längst eine andere. Über einen maroden Steg findet Katerina ihre Freiheit aus dem Wasser. Ihre Freiheit in den unvermeidbaren Tod.
Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth“ darf man sicherlich als eine der skandalträchtigsten Opern bezeichnen, die uns das letzte Jahrhundert hinterlassen hat. Da ist es umso erfreulicher, dass man dieser „Lady“ in München eine zweite Spielzeit schenkt. Mit ähnlich brillanter Besetzung, einer ehemaligen Assistentin des Musikdirektors, die Schostakowitsch als ihre Paradedisziplin verkauft und einem Regisseur, der diese Oper zu einem ganz besonderen Erlebnis macht.
Bereits im Juli 2017 durfte ich dieses musikalische Feuerwerk für klassik-begeistert.de erleben. Und manchmal muss man eine Oper eben zweimal besuchen, um ihre komplexe Genialität verstehen und besser greifen zu können.
Zum Staunen ist neben der in meiner letzten Rezension so ausführlich angepriesenen, brillanten Inszenierung vor allem die musikalische Kostbarkeit, die das Bayerische Staatsorchester und der Chor der Bayerischen Staatsoper an diesem Abend wieder an den Tag legen. Dmitri Schostakowitschs Musik ist keine Haydn-Symphonie, die mit relativ wenig Aufwand verstanden und interpretiert werden kann. Nein, Schostakowitschs Musik lebt von einer Komplexität, die nicht nur musikalisches Feingefühl voraussetzt, sondern auch einen musikalischen Forschergeist. Der Drang zu Neuem, der Drang zur klanglichen Ungewissheit.
Jede Note der Solisten-Partitur von Schostakowitsch wird an diesem Abend auf die Goldwaage gelegt. Die Ukrainerin Oksana Lyniv, 39, Kirill Petrenkos ehemalige Assistentin und seit dieser Saison Chefdirigentin der Oper Graz, gibt sich als Architektin eines famosen Uhrwerks, das ganz München in einer emotionalen Einheit ticken lässt. Draußen tobt ein heftiger Herbststurm, innen ein musikalischer Orkan aus präzisen Luftverwirbelungen. Lieblich, melodische Passagen wechseln sich mit donnernden Klangteppichen ab. Hier ein feines Diminuendo, da ein gewaltiges Crescendo. Alles wirkt wie aus einem Guss. Ein Gebirgsbach entwickelt sich über zahlreiche Mündungen hinweg zu einem reißenden Strom – eine famose musikalische Leistung.
Schostakowitsch hat das Sujet „seiner Lady“ einer Erzählung von Nikolai Leskow entlehnt. 1934 in Leningrad uraufgeführt, wurde die Oper mit dem berühmten Leitartikel der „Prawda“ abgestraft. Die Musik sei marktschreierisch, hieß es da. Alles sei roh und vulgär. Nun, da mag die „Prawda“ sogar recht gehabt haben. Nur verwendete Schostakowitsch genau diese Stilmittel, um Liebesthematiken so naturalistisch wie möglich auszudrücken. Ein genialer Schachzug eines hochtalentierten Komponisten, der leider erst viel später gewürdigt werden sollte. Denn unter dem stalinistischen Bann machte sich der Komponist bald daran, eine abgemilderte Fassung seiner Lady zu erarbeiten. Die Form, die wir heute standardmäßig in Opernhäusern besuchen dürfen. Leider!
Der gefeierte Regisseur dieses Glanzabends, Harry Kupfer, vermeidet seit jeher skandalträchtige Inszenierungen. Dass sein Projekt mit „Lady Macbeth von Mzensk“ an diesem Abend dennoch herausragend funktionieren sollte, lag vor allem daran, dass Kupfer vollends auf Experimente verzichtete. Durch eine Mischung von Theaterkunst aus Handwerk, Menschlichkeit und Liebe inszeniert Kupfer mit beeindruckender Konstanz eine schöne Variante der Kompliziertheit des Werkes. Zurückhaltend zeichnet er zunächst die Vergewaltigungsszene einer Köchin unter dem Spott der Arbeiter im Haus des Kaufmanns Boris Ismailow.
Das Paradoxe daran: Kupfer verleiht der Szene ein außergewöhnlich zeitgemäßes Flair: Der Großteil des Stückes spielt an diesem Abend in einer verlassenen Fabrikhalle. Einem Ort, der in unserer Medienkultur zum Inbegriff sozialer Brennpunkte und Intrigen geworden ist. Durch den musikalischen Forschergeist Petrenkos und die wohlüberlegte Inszenierung Kupfers finden bei dieser Lady in München zwei Elemente zusammen, die in ihrem innersten Kern zu einer goldstrahlenden Einheit verschmelzen. Fabelhaft!
Noch einzigartiger wird dieser ohnehin herausragende Abend durch die Fabelleistung einer Opernsängergemeinschaft, die auf der Bühne eine riesengroße musikalische Einheit demonstriert. Jede Phrase, jede Stimmfarbe und jede Figur findet ihren Platz in einem glasklaren, homogenen Ganzen. Mein lieber Freund, so gut hat das nicht einmal im Juli funktioniert! Fein abgebildet findet jeder Sänger an diesem Abend seinen Platz auf der Bühne. Der basstiefe Pope von Goran Juric und der schäbige Tenor Kevin Conners brillieren in ihrer Rolle als verkommene, dumme Proleten.
Anja Kampe ragt auch diesmal ganz besonders hervor: Mit stechend scharf intonierten Vibrati und teilweise mystisch anmutender Stimme erfüllt sie ihre Rolle als Katerina mit erstaunlichem Farbenreichtum. Eiskalt, authentisch und von einer magischen Aura umwoben, zieht Kampe die Opernbesucher in ihren Bann. Kurzerhand macht sie das Publikum bis in die letzten Reihen zu einer mächtigen Komplizenschaft. Vom Charisma dieser dämonischen Diva verzaubert, gibt es sich ihr vollends hin. Das männliche Feindbild von Katerina wird auch zum Feindbild des Publikums. Auf trügerische Morde wird mit authentischer Sympathie reagiert. Frau Kampe, da darf man Sie nur darum bitten, in dieser Rolle noch mehr Menschen der Klassikwelt zu beglücken.
Das Highlight des Abends ist aber vielleicht in einer kleinen Besetzungsänderung auszumachen: Der im Juli eher durchschnittliche ukrainische Bass Anatoli Kotscherga wurde kurzfristig durch den Österreicher Kurt Rydl ersetzt. Und da ist diese nicht zu bändigende böse Energie auf einmal zurück, die Boris Ismailow an diesem Abend in so unwahrscheinlich authentischem Licht strahlen lässt. Blauschwarze Feuer brodeln in den Tiefen von Rydls Bassstimme. Ein Inferno an musikalischen Elementen durchströmt die Seelen des Publikums. Hier ein bittersüßer Akzent, da eine feurig scharfe Phrasierung. Herzzerreißend, bombastisch, phänomenal!
Auch Misha Didyk als Sergej und Anna Lapkovskaja als Sonjetka brillieren erneut. Mit einem Pool aus strahlkräftigen, hellen Farben (Didyk) und seidenmatten, weinroten Tönen (Lapkovskaja) gelingt eine musikalische Vielfältigkeit von beeindruckendem Niveau.
Man darf nur hoffen, dass diese „Lady Macbeth von Mzensk“ in weiterer Regelmäßigkeit auch über die Grenzen der bayerischen Landeshauptstadt hinaus zu bewundern sein wird. Seit Petrenko das Zepter an der Bayerischen Staatsoper übernommen hat, sind russische Operndarbietungen eigentlich immer eine Sternstunde im Klassikkalender.
Diese „Lady“ ist aber mehr als das: Selten passen Musik und Inszenierung durch ihre Gegensätzlichkeit so gut zusammen wie diesmal. Das Publikum wirkt von einem musikalischen Orkan geplättet. Emotional am Rande des Greifbaren verlässt es erstaunt die Bayerische Staatsoper. Um direkt vor den Eingangstoren vom nächsten Orkan überrascht zu werden. Ganz so, als wolle der Meister im Himmel selbst den Menschen danken: Denn im Jahr 2017 wird Schostakowitschs Musik nicht nur akzeptiert, sondern auch auf einmalige Art und Weise zelebriert.
Raphael Eckardt, 30. Oktober 2017, für
klassik-begeistert.de