Foto © Martin U. K. Lengemann
Elbphilharmonie Hamburg, NDR Elbphilharmonie Orchester
20. Oktober 2019
Veranstalter: NDR Musik
NDR Elbphilharmonie Orchester
Dirigent: Herbert Blomstedt
PROGRAMM
Joseph Haydn: Sinfonie D-Dur Hob. I/104 „Londoner Symphonie“
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 6 A-Dur
von Dr. Holger Voigt
Herbert Blomstedt, der in den USA geborene Schwedische Dirigent, hat schon lange den Taktstock (Baton) zur Seite gelegt und dirigiert „nur“ noch mit den bloßen Händen. Tatsächlich scheint Blomstedt nur aus Musik zu bestehen, und diese fließt förmlich aus ihm heraus – in wohlgeformten Strömen, als wären seine Fingerspitzen die kostbarsten Wegbereiter von Klang und Emphase. Er scheint dabei überhaupt nicht müde zu werden – schon gar nicht physisch – , wenn es darum geht, Musik in ihrer reinsten Form zu vermitteln. Alles getragen von einer intrinsischen Begeisterung, die ihn zeitlebens umgetrieben hat und auch heute noch beseelt. Offenbar ohne Zeichen einer Alterung ist für den 92-Jährigen selbst eine einstündige Bruckner-Symphonie eher ein Lebenselixier. Inmitten von Musik und Musikern scheint er sich an sicherem Ort zu fühlen – nichts Böses kann passieren, solange er eins ist mit der Musik und seinen Musikern.
Im Gespräch mit ihm springt seine ansteckende Begeisterung unmittelbar über. Man kann es gar nicht verhindern – ab einem schon bald erreichten Zeitpunkt beginnt er, einzelne Thema und deren Verarbeitung lautmalerisch vorzutragen und zu singen. Er hört dann erst damit auf, wenn sein Gegenüber wirklich alles verstanden und nachempfunden hat. Ein musikalischer Missionar.
Der so bescheidene, höfliche und völlig uneitle große Dirigent kam nun für drei Konzerte (17., 18. und 20. Oktober 2019) nach Hamburg in die Elbphilharmonie. Zusammen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, dem er als Leiter zwischen 1996 und 1998 vorstand (und das damals noch „NDR-Sinfonieorchester“ hieß), brachte er Haydns letzte Symphonie und Bruckners Sechste zu Gehör. Und setzte erneut Maßstäbe.
Haydns letzte Symphonie mit der Hoboken-Bezifferung 104 (Hob. I: 104) entstand 1795 in London, weshalb sie auch als „Londoner Symphonie“ bezeichnet wird. Damals verweilte Joseph Haydn als Gast in London.
Musikalisch ist diese – etwa halbstündige, viersätzige – Symphonie insofern hochinteressant, als sie formal der klassischen Struktur folgt, gleichwohl aber bereits Vorgriffe bis in die Romantik hinein beinhaltet.
Fanfarenhafte Einleitungsschläge (am Beginn des 1. Satzes – Adagio, Allegro) sowie abrupte Unterbrechungen der thematischen Motivverarbeitung durch unisono Orchesterschläge lassen bereits den Kompositionsstil eines ungeduldig nachdrängenden Ludwig van Beethoven erahnen, den dieser – zumindest in seinen ersten beiden Symphonien – in Haydns Nachfolge zugrundelegte, bis er ihn dann, scheinbar regellos, durchbrach und weiterführte. Gelegentlich wird deshalb die „Londoner Symphonie“ Haydns scherzhaft überspitzt auch als „Beethovens Nullte“ bezeichnet.
Man hat beim Hören der gesamten Symphonie tatsächlich den Eindruck, dass Haydn etwas völlig Neues entwickeln wollte. Nicht nur „Sturm und Drang“ eines Ludwig van Beethoven ist damit gemeint, sondern auch Entwicklungen der symphonischen Orchestrierung, die der Schaffung eines warmen, lyrischen Klanges dienen. So finden sich im zweiten Satz (Andante) Instrumentierungen, die bereits auf die Romantik hinweisen. So schließt der Satz mit einem hochromantischen Hörner-Klang, der fast von einem Carl-Maria von Weber hätte stammen können.
Ein höfisch-humorvolles Menuett im 3. Satz (Menuet. Allegro – Trio) zeigt noch einmal die klassisch-symphonische Grundform auf – bestückt mit überraschenden Generalpausen sowie einer organischen Reprise –, bevor dann im 4. Satz (Finale. Spiritoso) in beschwingtem Tempo die Symphonie zum Abschluss gebracht wird. Musikalisch eingearbeitet findet sich in diesem Schlusssatz – geradezu als verborgene Widmung – das britische Klangkolorit seiner Londoner Gastumgebung, markiert durch einen mehrtaktigen Hornton zu Satzbeginn, der dem Klang eines Dudelsackes nachempfunden ist. Haydn experimentierte also tatsächlich sehr ausgiebig.
Das NDR Elbphilharmonie Orchester – vor der Pause noch in der kleineren Besetzung – zeigte sich ausserordentlich spielfreudig, feinsinnig abgestimmt und akkurat im Detail. Der Dirigierstil von Herbert Blomstedt ist visuell etwas gewöhnungsbedürftig, denn es sieht oft so aus, als kämen seine Zeichensetzungen nicht vor, sondern mit dem Ton. Das kann dann so imponieren, als würde er die bereits ertönende Musik illustrieren und nur auf das harmonische Zusammenwirken abheben. Dass das tatsächlich aber nicht so ist – zumindest nicht durchgehend – konnte man dann aber bei Bruckners Sechster erkennen, denn in dieser mussten unmißverständliche Akzente beim Einsatz gesetzt werden, was eben nur im Vorgriff möglich ist. Man musste also nur ganz genau hinsehen, was nur einem Teil der Zuhörer möglich war, da der Dirigent mit dem Rücken vor ihnen stand.
Bruckners Sechste – nach eigenem Bekunden seine „keckste“ – ist musikalisch eine wahre Wundertüte, nicht umsonst eine der von Herbert Blomstedt besonders geschätzten – eine wahre Entdeckungsreise.
Anton Bruckner legt bereits im Kopfsatz die Spur mit seiner Bezeichnung „Majestoso“: Majestätisch, erhaben, irgendwie eher nicht von dieser Welt, „larger than life“. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis aus den aus dem Nichts hervorwabernden Streicherakkorden mit harten Orchesterschlägen der Bläser das erste Grundthema einsetzt. Ist dieses erst einmal platziert, folgt eine variationsreiche orchestrale Themenverarbeitung, immer wieder abgestoppt und neu konfiguriert, mit lyrischen Streicher- und Holzbläserphasen durchsetzt und romantischen Hornklängen flankiert. Dazwischen breite Streicherphasen als quasi erzählende Bindeglieder. Anschwellende Dynamik mündet in Bläserfanfaren, die mehrfach wiederholt und dann doch wieder angehalten werden, bis sie sich in einem hymnenhaften Schlusschoral vereinigen und den Satz beschließen.
Bruckner versteht es meisterhaft herauszuarbeiten, dass es nicht nur das Blech ist, das die Hauptthemen setzt und ausführt. Gleichwohl besteht die Gefahr darin, durch eine dynamische Überbetonung sämtliche Instrumentengruppen in einem lauten undifferenzierten Orchesterklang zu erdrücken. Hier scheidet sich tatsächlich die qualitative Spreu vom Weizen – nicht jedes Orchester ist für Bruckner ausgelegt. Die Schönheit Brucknerscher Werke erschließt sich eben nicht durch „lautes Blech“, sondern durch Differenzierung und Transparenz.
Das NDR Elbphilharmonie Orchester brauchte an diesem Abend nicht lange, um die akustischen Möglichkeiten der Elbphilharmonie optimal zu justieren – nichts ging klanglich unter, trotz wuchtiger Dynamik. Es war eine wahre Freude, allen Orchestergruppen zuzusehen und zuzuhören.
Der 2. Satz (Adagio. Sehr feierlich) ist eine wahre Offenbarung symphonischer Schönheit. Ein ständiger Fluß von nicht versiegen wollendem melodischem Material, ganz und gar an Gustav Mahler erinnernd. Kein Wunder, dass dieser Satz zu den Lieblingssätzen Blomstedts gehört. Er lässt allen Musikern, – vornehmlich Streichern und Holzbläsern – Ruhe und Raum zum Aussingen der Brucknerschen Einfälle und den Satz schließlich in einem geradezu mystischen Frieden verklingen. Nicht ein einziger Huster am Satzende.
Der 3. Satz, das vergleichsweise kurze Scherzo – Trio, dessen Tempo und Rhythmus Blomstedt vor Satzbeginn mit einem Schlagen auf die Brust fast unsichtbar vorgibt, entwickelt sich in einem zügigen Schreitrhythmus, dem schon bald zuspitzende Bläserfanfaren folgen. Kurze melodische Phrasen entwickeln sich nicht zu vollständigen Themenbögen und werden rasch von neuen Motiven eingeholt und überholt oder gar verworfen. Dann brechen sich erneut die Fanfarenklänge Bahn, gefolgt von einem romantisch klingenden Hornakkord – einem Jäger- oder Posthorn ähnlich. Der schnelle, streichergestützte Schreitrhythmus drängt sich wieder in den Vordergrund und kulminiert in einer abermaligen Wiederholung der Bläserfanfaren, wobei sich dieses zum Satzschluss noch einmal wiederholt. Beim Orchester stimmt hier wirklich alles: Akkurate Einsätze, klangschön ausgespielte Themen aller Instrumentengruppen, exakt in der Steuerung der Dynamik – nichts ist zu laut oder zu leise.
Der 4. Satz (Finale) ist ein großer Orchestersatz mit ausgiebiger Betonung der Blechbläser und des Schlagwerkes. Schon bald zu Beginn mündet die Themenbehandlung in einem Tutti-Fortissimo repetierter Fanfaren, ausgiebig vom Schlagwerk gestützt. Noch einmal nimmt sich Bruckner zurück und lässt eine lyrische Phase entstehen, in der romantische Hornklänge in den Vordergrund drängen (die stellenweise gar an Richard Wagner erinnern lassen). Immer wieder drängen sich dann die Bläser in den Vordergrund, teilweise unter Herbeiziehung thematischen Materials aus dem 1. Satz, und münden schließlich in einem triumphalen Fanfarenfinale als Abschluss der Symphonie.
Nach einem Moment der Besinnung und Einkehr brandet tosender Beifall in der Elbphilharmonie auf. Herbert Blomstedt verfügt über eine perfektionierte Zeichensprache, mit der er einzelnen Musikern bzw. Instrumentengruppen signalisieren kann, sich zur Entgegennahme von Einzelapplaus zu erheben. Aber dann entschließt er sich doch anders und geht direkt in das Orchester hinein, um sich bei allen Musikern einzeln zu bedanken. Die Zuhörer springen auf und applaudieren stehend. Der Applaus will kein Ende nehmen. Immer wieder kommt Herbert Blomstedt aus dem Seiteneingang hervor, nur leicht gebeugt, aber ohne freme Hilfe oder Stock, und springt fast elastisch auf das Podest. Er wirkt glücklich, aber gar nicht erschöpft, und er fühlt sich sichtlich wohl, im Kreise seiner Musiker und der Zuschauer zu sein. Eine Zelebration der Kraft und Bedeutung von Musik, die man immer wieder neu erleben möchte.
Dr. Holger Voigt, 20. Oktober 2019,
für klassik-begeistert.de