Ein wirklich guter Kenner des europäischen Opernbetriebs meinte auf der Premierenfeier nur, er habe so eine „Elektra“ weder in Wien, noch in München oder in Salzburg gesehen. Dem ist nur hinzuzufügen, dass auch weitere Strecken für die Anfahrt nach Lübeck unbedingt lohnen, um diese „Elektra“ zu erleben!
Elektra Lübeck © Jochen Quast
Elektra
Musikdrama in einem Aufzug von Richard Strauss
Trine Møller, Sopran
Lena Kutzner, Sopran
Edna Prochnik, Mezzosopran
Stefan Vladar, Dirigent
Brigitte Fassbaender, Inszenierung
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Chor des Theaters Lübeck
Theater Lübeck, Premiere am 27. Januar 2024
von Dr. Andreas Ströbl
Als der Literat und Kritiker Hermann Bahr 1903 die Schauspielerin Gertrude Eysoldt in der Rolle der Elektra in Hugo von Hofmannsthals gleichnamigem Drama erlebte, war er im positivsten Sinne schockiert: „Der Atem der Menschheit stockt. Ein Wesen, ganz ausgesaugt und ausgehöhlt von Leid; alle Schleier zerrissen, die sonst Sitte, freundliche Gewöhnung, Scham um uns zieht. Ein nackter Mensch, auf das Letzte zurückgebracht, ausgestoßen in die Nacht, Haß geworden, Haß essend, Haß trinkend, Haß speiend […] Gräßlich. Aber eben darin griechischer als jemals die Kunst der strengen Linie, der klugen Mäßigung, der zarten Stille sein kann: Denn Griechisch ist: aus Gräßlichem Schönheit zu holen.“
Es ist nicht überliefert, ob und wie sich Bahr nach der Uraufführung des kongenialen Werks von Richard Strauss und Hoffmannsthal sechs Jahre später geäußert hat, aber das unfassbar dichte, verstörende, sich in die Seele fressende Miteinander von Libretto und Partitur dürfte ihn beinahe um den Verstand gebracht haben.
Dem geradezu erschütterten Publikum am Premierenabend des 27. Januar im Theater Lübeck ging es in jedem Falle so: Der Atem stockte mitunter, die Spannung war im Großen Saal unablässig greifbar und nach den letzten harten Takten des Finales brach sich eine Begeisterung Bahn, die selten so im Jugendstiltheater der Hansestadt zu erleben war. Sicher sprach aus dem tosenden Applaus mit vielen „Bravo“- und vor allem „Brava“-Rufen auch eine Erleichterung, dieses bluttriefende Familiendrama überstanden zu haben – und das in der sicheren Distanz, bequem im Fauteuil sitzend, während auf der Bühne die Mitglieder einer kranken, traumatisierten Familie sich gegenseitig auslöschten.
Eine solche Tragödie – und das ist hier im ergreifendsten Sinne gemeint – erfolgreich auf die Bühne zu bringen, ist respektive der hochanspruchsvollen musikalischen und textlichen Vorgabe schon eine extreme Herausforderung, aber in Lübeck geschieht das unter Aufbietung ganz herausragender Solistinnen, eines großartigen Orchesters unter einem wahrhaft elektrisierten Dirigenten und vor allem einer Regisseurin, die zu den ganz großen Künstlerinnen des Welt-Kulturbetriebes zählt.
In den allerersten Tönen des Dramas klingt der Name dessen an, dessen hinterlistiger Mord durch seine eigene Frau Klytämnestra und ihren Liebhaber Aegisth gerächt werden soll: Agamemnon. Dessen Kinder Elektra und Orest sind besessen davon, die eigene Mutter und ihren Gespielen umzubringen – keine Aussicht also auf Glück und Erlösung; am Ende steht nur das Ziel, ein Verbrechen zu sühnen, auch wenn dabei der letzte Rest der Menschlichkeit auf dem blutigen Altar der Rache geopfert wird. Dieser Rachewahn ist der Geier, den sich Elektra nach eigener Aussage im Leib füttert und solch ein düsterer Vogel ist genauso auf Bestrafung aus wie der Adler, der dem an einen Felsen geschmiedeten Prometheus die ständig nachwachsende Leber aus dem lebendigen Leibe frisst. Bevor die Musik einsetzt, beklagt der Ermordete (Andreas Hutzel) aus dem Off die feige und heimtückische Tat. Das Wort steht hier also an erster Stelle.
Hofmannsthals Libretto ist durchsetzt von den Begriffen „Blut“, „Wunde“, „Fleisch“ und „Tod“; die Seelen der Protagonistinnen werden dominiert von Ängsten, finsteren Träumen und der Suche nach einem Ausweg aus dem Wahn. Sigmund Freuds Begründung der Psychoanalyse lag zur Entstehung des Dramas gerade mal 10 Jahre zurück.
Schauplatz des furchtbaren Geschehens ist hier nicht das antike Griechenland, sondern ein unbestimmter schlichter Gebäudekomplex mit einer zentralen Pergola, was ein bisschen an die reduzierten Phantasiearchitekturen von Giorgio de Chirico erinnert. Das minimalistische Bühnenbild von Bettina Munzer, beleuchtet von Falk Hampel, erlaubt Aktionen zwischen vorne und hinten, oben und unten, innen und außen – frei von jedem überflüssigem Zierat oder Beiwerk agieren die dramatis personae mit und in den Kulissen, ohne dass diese von der Handlung ablenken. Ihre Kostüme sind zeitlos, die Mägde erscheinen gouvernantenhaft, könnten aber auch Lageraufseherinnen sein.
Die Kleidung der Protagonisten entspricht ihrem Wesen und hebt die jeweiligen Charakterzüge unaufdringlich aber klar hervor. Trine Møller singt und spielt die tragische Titelheldin mit kaum beschreibbarer Eindringlichkeit. Die dänische Sopranistin ist eine sichtbar psychisch angegriffene Tochter, die, vor der Zeit ergraut, offenbar im Pyjama ihres geliebten Vaters umherschleicht, immer wieder seine Handschuhe anzieht und Nähe zu ihm sucht. Stimmlich dominiert sie die Szene, auch in den leisen Passagen; ihr Vibrato ist gemessen eingesetzt und zieht sich in den Betonungen, ja der ganzen glasklaren Diktion immer ganz nah am gesprochenen Duktus entlang. Ihre Klagerufe dringen durch jeden Spalt und tief in die Seelen derer, die sich diesem intensiven, aufwühlenden intonierten Schmerz, dem Schreien und bitteren Lachen nicht entziehen können.
Auf der Premierenfeier wird GMD und Dirigent der Produktion, Stefan Vladar, bekennen, dass Trine Møller seiner Meinung nach die derzeit beste Elektra der Welt sei. Der Mann ist ja nicht ganz unerfahren in der Opernwelt und ja, diese Sängerin hat sicher eine ganz große Karriere vor sich.
An der Seite Elektras steht ihre Schwester Chysothemis, aber sie ist in ihrer Sehnsucht nach Normalität und einer eigenen Familie als Mord-Komplizin keine echte Hilfe. Die Sopranistin Lena Kutzner verkörpert im entschieden weiblichen Kleid diese junge Frau so überzeugend, daß ihre Weigerung, sich am blutigen Plan zu beteiligen, völlig plausibel wird. Stimmlich ist sie ebenfalls ganz großartig und wie ihre Schwester dringt sie jederzeit mit aller Intensität, Angst und Sehnsucht mühelos durch den prallen Klang des umfangreichen Orchesters. Lena Kutzner, soviel sei hier verraten, wird bald in Lübeck in einer ganz großen Rolle zu sehen sein – zu Recht!
Spielerisch sind die beiden ebenso agil und schonungslos wie ihre Mutter im schwarzen Kleid, das eher an die Robe einer finsteren Fürstin gemahnt als an mögliches Trauerkleid. Trauer steht ihr ohnehin nicht an, höchstens über die eigene psychische Situation, denn Klytämnestra plagen dunkle Träume. Edna Prochnik gibt dieser Mörderin aber eine bewundernswerte Vielschichtigkeit und lässt mit ihrem mal warmen, mal erbarmungslos harten Mezzosopran die Gestalt einer Frau entstehen, die trotz oder gerade wegen ihrer Taten menschliche Wärme und Nähe sucht, vor allem zu einer Tochter, die nur noch schwärzesten Hass für sie empfindet. Das ist genau die richtige Partie für diese sehr besondere Sängerin, die bekennt, dass die Hexenrollen ihre liebsten sind. Als Herodias, Knusperhexe und nun Klytämnestra zeigt sie mit finsterer Deutlichkeit, was sich an Abgründen in menschlichen Existenzen auftun kann.
Die Frauenrollen sind nun mal die wichtigsten in den Strauss-Opern, aber auch die Herren sind hier sehr gut besetzt. Rúni Brattaberg gibt den Orest und mit vollem, warmem Bass ist er ein klarer, zielstrebiger Bruder; er führt unbeirrt das aus, was Elektra allein nicht vermag. Allerdings ist sie es, die mit dem Beil dem Mörder Aegisth den Todesstreich verpasst. Den spielt Tenor Wolfgang Schwaninger und er gibt dem jämmerlichen Emporkömmling genau die Selbstgefälligkeit und Grausamkeit, die der Rolle ansteht.
In dieser Produktion ist wirklich jede Nebenrolle hervorragend besetzt und Natalia Willot (Vertraute und vierte Magd), Elvire Beekhuizen (Schleppträgerin), Elizaveta Rumiantseva (Aufseherin), Therese Fauser (erste Magd) Laila Salome Fischer (zweite Magd) und Frederike Schulten (dritte Magd) geben allesamt in Gesang und Spiel ganz eigene und überzeugende Leistungen ab. Andrea Stadel als fünfte Magd hebt sich aus der willfährigen und teils albernen Schar heraus, weil sie die einzige ist, die Elektra noch die Treue hält.
Bei den männlichen Rollen sind es Noah Schaul als junger und Changjun Lee als alter Diener sowie Laurence Kalaidjian als Pfleger des Orest, die ihre kurzen Auftritte ebenfalls mit vollem Einsatz füllen.
Dass gesungenes Wort und interaktives Spiel bei allen eine absolute Einheit bilden, dafür sorgt die detailverliebte Personenregie von Brigitte Fassbaender, die eben als Sängerin und Regisseurin jede Silbe, jede Bewegung und auch die inneren Regungen sämtlicher Personen im Blick hat. Der oft bemühte Begriff des Gesamtkunstwerks erhält in dieser Produktion einen erweiterten Sinn, weil wirklich jeder denkbare Aspekt durchdacht, durchgearbeitet, reflektiert und vor allem in gemeinsamer, harmonischer Bühnenarbeit zur Perfektion gebracht ist. Es gibt nichts, was in dieser „Elektra“ nicht hervorragend wäre und das erreicht man eben dadurch, dass die Kunst stets über allem steht und die Leiterin sich in ihrer sympathischen, menschlichen, herzlichen und unprätentiösen Art immer als Arbeitende am großen Miteinander sieht.
Dass Brigitte Fassbaender Lübeck diese Produktion schenkt, ist Verdienst von Stefan Vladar; die beiden kennen sich lange und er hat sie in die Hansestadt gebeten. Unter ihm spielt das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck die mal harten, mal schmiegsamen, mal schwelgerischen, oft gnadenlosen Passagen dieser schweren Partitur mit aller Finesse und Größe, aber nie zu laut, um die sängerischen Leistungen entsprechend einzubetten in dieses entsetzliche Familiendrama, das nicht glücklich enden kann.
Und so gerät der abschließende Tanz zur irren, nur oberflächlich befreienden Ekstase des ganzen Hofstaats, allein Elektra kauert am Bühnenrand und schreit stumm den Namen des geliebten Vaters in das schwarze Nichts. Kein Gott erhört sie, es triumphiert allein der Tod.
Darf, kann man sich am Schluss über irgend etwas freuen? Sicher darüber, dass man solch eine Tragödie transformiert als höchste Kunst in vollendeter Ausführung erleben kann. Beim langanhaltenden, enthusiastischen Beifall haben sich bald alle von ihren Plätzen erhoben und applaudieren stehend.
Ein wirklich guter Kenner des europäischen Opernbetriebs meinte auf der Premierenfeier nur, er habe so eine „Elektra“ weder in Wien, noch in München oder in Salzburg gesehen.
Dem ist nur hinzuzufügen, dass auch weitere Strecken für die Anfahrt nach Lübeck unbedingt lohnen, um diese „Elektra“ zu erleben!
Die nächsten Vorstellungen dieser uneingeschränkt empfehlenswerten Produktion sind am 3. und 18. Februar sowie am 22. März.
Dr. Andreas Ströbl, 28. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Elektra, Musik von Richard Strauss Staatsoper Unter den Linden, Berlin 7. Oktober 2023
Richard Strauss, ELEKTRA Tiroler Landestheater, Innsbruck, Premiere am 11. Juni 2023
Richard Strauss, „Elektra” Wiener Staatsoper, 20. Dezember 2023
Richard Strauss, Elektra Staatsoper Hamburg, 24. Januar 2023