Wogen der Emotion ergießen sich durch das Haus

Richard Strauss, „Elektra”  Wiener Staatsoper, 20. Dezember 2023

Aušrinė Stundytė © Petra Baratova

„Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir. „
(Hugo von Hofmannsthal)

Richard Strauss
„Elektra”

Text von Hugo von Hofmannsthal

Musikalische Leitung: Alexander Soddy
Inszenierung: Harry Kupfer
Bühne: Hans Schavernoch
Kostüme: Reinhard Heinrich
Choreinstudierung: Thomas Lang

Orchester der Wiener Staatsoper
Chor der Wiener Staatsoper

Wiener Staatsoper, 20. Dezember 2023

von Dr. Rudi Frühwirth

Ich habe nicht gezählt, wie oft ich die „Elektra“ seit dem Beginn meiner Stehplatzzeit in der Staatsoper schon gesehen und gehört habe – um die dreißig Mal werden es schon gewesen sein. Von ihrer emotionalen Wirkung hat sie auch nach mehr als fünfzig Jahren nicht das Geringste eingebüßt. Es bewegt mich immer wieder auf das Tiefste, wie die Grundfragen der Oper musikalisch dargestellt und aufgelöst werden: der starre Fanatismus der Elektra, der Kinderwunsch der Chrysothemis, der Hass zwischen Klytämnestra und ihrer Tochter, die ersehnte Ankunft des Bruders, der Muttermord, und endlich die ekstatische Erfüllung im Tod der Titelfigur.

Diesmal war Aušrinė Stundytė die Elektra. Ich hörte sie zum ersten Mal in dieser Rolle. An ihre großen Vorgängerinnen – ich nenne nur Nilsson, Jones, Behrens, Marton, Stemme – reichte sie nicht ganz heran. Vielleicht war sie auch an diesem Abend stimmlich nicht in Bestform. Dem hohen c der „königlichen Siegestänze“ und „wer dann noch lebt, der jauchzt“ fehlte es hörbar an Strahlkraft und Ausdauer. In den weniger hochdramatischen Passagen wie in der zweiten Szene mit Chrysothemis und der Erkennungsszene war Stundytė dagegen hervorragend. Auch ihre erstaunlichen schauspielerischen Fähigkeiten im Verein mit ihrer blendenden jugendlichen Erscheinung machten großen Eindruck auf mich.

© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Camilla Nylund als Chrysothemis war stimmlich und darstellerisch eine würdige Partnerin in den beiden großen Szenen zwischen den Schwestern. Die Rolle liegt durchgehend sehr hoch und stellt beträchtliche Anforderungen an die Sängerin. Wer wie ich mit Schrecken an die Chrysothemis von Marie Collier in der berühmten Solti-Aufnahme denkt, der weiß Nylunds Interpretation umso mehr zu schätzen. Auch die Spitzentöne in der allerletzten Szene meisterte sie mühelos.

Michaela Schuster war die Klytemnästra. Ich empfand sie in der tiefen Lage etwas zu wenig ausdrucksvoll; unter anderem kam das „Kleid, zerfressen von den Motten“ nicht wirklich zur Geltung. Wie dieser wichtige Satz besagt, ist die Klytemnästra der Oper ein zutiefst beschädigter Mensch. Ob die recht hektischen Bewegungen der Sängerin auf der Bühne das wirklich vermitteln konnten, sei dahingestellt.

Eine absolute Luxusbesetzung als Orest war Günther Groissböck. Sängerisch perfekt für die Rolle, ist auch er wie Stundytė ein großartiger Schauspieler. Das Zwiegespräch der beiden und die anschließende Erkennungsszene mit der rührenden Klage der Elektra über ihr unverdientes Schickal war für mich daher neben dem Schluss der Höhepunkt der Aufführung.

© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Einer der großen Stars des Abends war auch das Staatsopernorchester unter der Leitung von Alexander Soddy. Er ließ das Orchester nach Herzenslust aufspielen, vielleicht nicht immer zur Freude der Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, aber sicher zur Freude des Publikums. Das Orchester ist mit der Oper natürlich bestens vertraut und bot eine grandiose Leistung. Der unvergleichliche, einzigartige orchestrale Ausbruch nach Elektras Aufschrei “Orest!” löste in mir – und vermutlich auch anderen im Publikum – eine Woge von Emotionen aus, die ich mit Worten nicht beschreiben kann.

Die kleineren Rollen waren durchwegs zufriedenstellend besetzt; hervorheben möchte ich lediglich Thomas Ebenstein als Ägisth und Wolfgang Bankl als Pfleger des Orest. Hier muss allerdings ich eine kritische Anmerkung zur Abendspielleitung machen. Es ist mir klar, dass mehr als dreißig Jahre nach der Premiere die Personenführung von Harry Kupfer nur höchst unzureichend rekonstruiert werden kann. Die Ermordung des Ägisth war allerdings so ungeschickt einstudiert, dass sie einer Dame in meiner Nachbarschaft ein lautes Lachen entlockte. An dieser Stelle sehr unpassend, aber fast verständlich.

Die letzte Szene war von Stundytė und Nylund hinreißend gespielt und gesungen; das Orchester setzte einen überwältigenden Schlusspunkt in strahlendem C-Dur. Tosender Beifall, in den sich einige völlig unverdiente Buhrufe mischten. Nun ja, gutes Benehmen kann man offenbar auch in der Staatsoper nicht immer erwarten.

Dr. Rudi Frühwirth, 23. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Elektra, Richard Strauss Wiener Staatsoper, 9. Dezember 2023

Elektra, Musik von Richard Strauss Staatsoper Unter den Linden, Berlin 7. Oktober 2023

Elektra, Richard Strauss Staatsoper Unter den Linden, 20. Oktober 2023

Richard Strauss, Die Frau ohne Schatten Wiener Staatsoper, 24. Oktober 2023 

Sommereggers Klassikwelt 197: Richard Strauss’ „Vier letzte Lieder“ wurden posthum zum Knüller klassik-begeistert.de

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert