8. SK HL Photo Andreas Ströbl
Als wäre es nicht genug, dass eine echte Legende wie Elisabeth Leonskaja in Lübeck auftritt; die Mozart-Interpretation von ihr und Jan Wilhelm de Vriend am 19. Mai 2025 in der Musik- und Kongresshalle der Hansestadt gerät erfrischend unklassisch. Zudem gibt es mit einer Wilms-Symphonie eine wundervolle Entdeckung.
Wolfgang Amadeus Mozart, Konzert für Klavier und Orchester c-Moll KV 491 und Konzert für zwei Klaviere und Orchester Es-Dur KV 365
Johann Wilhelm Wilms, Symphonie Nr. 6 d-Moll op. 58
Jan Wilhelm de Vriend, Dirigent
Elisabeth Leonskaja und Mihály Berecz, Klavier
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Musik- und Kongresshalle Lübeck, 19. Mai 2025
von Dr. Andreas Ströbl
Wiener Klassik im romantischen Kleid
Als in der „kämpferischen Beethoven-Tonart“ geschrieben, charakterisiert Hansjürgen Schaefer das c-Moll-Konzert KV 491 von Mozart. Tatsächlich hat der Bonner dieses Konzert sehr geliebt und das lässt sich noch steigern. Die Pianistin und der Dirigent entschieden sich für eine ausgesprochen romantisch-schwelgerische, partiell wuchtige Lesart des berühmten Werks.
Elisabeth Leonskaja widmet sich diesem von Beginn an spannungsreichen Konzert mit zwar leichtem Anschlag, aber deutlichen Akzenten und sparsamem Pedaleinsatz. Die Wechsel von schmiegsamer Intimität zu explosiven Tutti und das Spiel mit Dur und Moll machen – mit – den Reiz dieser emotional aufgeladenen Musik aus; man denkt an den von Mozart verehrten Carl Philipp Emanuel Bach, der ja forderte, man müsse „aus der Seele“ spielen.
Jan Wilhelm de Vriend ist ein im besten und doppelten Wortsinne einsatzfreudiger Dirigent, der mit fließenden Armbewegungen und ganzem Leib das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck mitzureißen weiß. Der Einsatz von Naturhörnern und -trompeten verstärkt noch den warmen romantischen Ton, das Blech klingt stellenweise samtig-heimelig.
Dem entspricht das hingebungsvolle Spiel der großen Pianistin, die mit unprätentiöser Eleganz die lebensfrohen Passagen wiedergibt, aber auch um die Härten weiß, die sich immer wieder Gehör verschaffen. Liedhafte Einfachheit und breiter symphonischer Klang verbinden die Lübecker und die Solistin unter dem Gastdirigenten zu vollendeter Harmonie. Die Schlusskadenz kostet Leonskaja en detail aus, ohne aber auch nur bei einem Ton ihre unaufgeregte Haltung zu verlassen. Wem Mozart emotional zu unkompliziert ist, der hatte seine wahre Freude an diesem Konzert, das in dieser Interpretation bisweilen schon auf Schubert und Tschaikowsky verwies.
Eine Seele an zwei Klavieren
„Ist Mihály Berecz denn ein Schüler von Elisabeth Leonskaja?“, fragte man sich im Publikum nach dem Es-Dur-Konzert für zwei Klaviere und Orchester in der phantastischen Wiedergabe durch die Grande Dame und das junge Talent.
Als Mozart das Konzert für sich und seine Schwester schrieb, konnte er sich darauf verlassen, dass da nicht viele Worte für das gemeinsame Verständnis notwendig waren, ohne dass einer den anderen in der Virtuosität übertrumpfen würde. Humorvoll gestaltete Dialoge mit diskreten Verzierungen werden abgelöst durch ineinanderfließende Linien; man muss schon genau hinsehen, um zu erkennen, wer wann übernimmt. Die beiden Ausnahmekünstler verstehen einander offenbar durch Gedankenübertragung, in den Unisono-Partien erklingt scheinbar ein einziges Instrument.
Die Streicher zaubern anmutige Pizzicato-Tupfer zu den Libellenflügel-zarten Klavierminiaturen, das Blech schafft, wiederum durch die Naturinstrumente, ein weiches Bett im frühlingsgrünen Gras. Das ist eine sonnige Musik, die sich scheinbar Arm in Arm aus den beiden Flügeln erhebt, in frischem Tempo mit reizvollen rhythmischen Ausflügen ins Tänzerische.
Durch das zugewandte, zuweilen augenzwinkernde Dirigat des Niederländers entsteht mit dem Orchester größtmögliche Harmonie; die Musikerinnen und Musiker gehen körperlich mit und haben offensichtlich ungebrochene Spielfreude.
Für den begeisterten Applaus mit vielen Bravi-Rufen bedanken sich die beiden Solisten mit einem Vierhändespiel; als hanseatischen Gruß gibt es eine Zugabe aus Brahms’ Ungarischen Tänzen. Weil der Beifall kein Ende nehmen will, fasst die Pianistin den Ersten Geiger an der Hand und führt ihn mit sich nach draußen, denn die Künstlerin weiß: Die müssen gleich noch eine Symphonie spielen.
Eine echte Entdeckung
Beim Anblick des Portraits des deutsch-niederländischen Komponisten Johann Wilhelm Wilms denkt man eher an eine schrullige Figur aus einem Jean Paul-Roman, aber gerade seine 1819 bis 1820 entstandene Sechste Symphonie ist das Werk eines anpackenden, kraftvollen und selbstbewussten Geistes – warum hat kaum jemand von diesem einstmals in den Niederlanden so berühmten Tonsetzer gehört?
Der erste Satz ist hin- und hergerissen zwischen Melancholie und Trotz, starkes Schlagwerk schafft donnernde Wucht im Habitus eines Sturm- und Drang-Kopfes voller Tatendrang und Aufbruchslust. Mit frischem Tempo reißt der Dirigent Orchester und Publikum mit, springt plötzlich jäh auf und knallt die Einsätze begeistert und begeisternd in den Klangkörper.
Der Folgesatz hat etwas von einem höfischen Tanz, kann aber auch anders; ein feierlich-hymnischer Ton wechselt ins Intime. Im dritten Satz geht es wieder forsch voran, für ein Scherzo ist er ausgesprochen dramatisch und ernst. Ein Fugato grüßt in den barocken Gestus.
Lyrische Wehmut zu Beginn des abschließenden Satzes weicht wiederum dem Donnerklang; kraftvoll, ja unbändig und mit hellen natürlichen Farben schreitet der titanische Held dieser Symphonie (wenn man eine programmatische Personalisierung hier sehen mag) mit Entschiedenheit und Optimismus ins Finale.
Der sympathische Leiter und das Orchester nehmen den anhaltenden Applaus dankend entgegen – man hätte sich die „MuK“ aber voller gewünscht an diesem Lübecker Frühlingsabend.
In memoriam Manfred Ströbl. Er hätte dieses Konzert geliebt.
Dr. Andreas Ströbl, 21. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
7. Symphoniekonzert, Frank Martin und Schubert MUK, Lübeck, 13. April 2025
6. Symphoniekonzert, Weinberg und Dvořák MUK Lübeck, 24. März 2025