Erst der zweite Akt nimmt in Neumeiers Ballett Endstation Sehnsucht richtig Fahrt auf - und endet hammerhart (1. Teil)

Endstation Sehnsucht Ballett von John Neumeier  Staatsoper Hamburg, 22. September 2023

Anna Laudere, dahinter Lennard Giesenberg, Charlotte Larzelere und Matias Oberlin

Stanley Kowalski hat erreicht, was er wollte, die physische und psychische Unterwerfung der aristokratischen Südstaatentochter. Blanche bleibt nur noch der Rückzug in den Irrsinn. Wie Oberlin und Laudere diese vorletzte Szene tänzerisch und darstellerisch in den Griff bekommen, das ist große, bei den Zuschauerinnen und Zuschauern tiefe Emotionen freisetzende Kunst.  

Endstation Sehnsucht
Ballett von John Neumeier
nach Tennessee Williams Drama „A Streetcar Named Desire“

Musik: Sergej Prokofjew „Visions fugitives“ op. 22;  Alfred Schnittke: Erste Sinfonie

Pianist: Ondrej Rudcenko, und Musik vom Tonträger

Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild und Lichtkonzept: John Neumeier

39. Vorstellung seit der Premiere am 30. April 1987

Staatsoper Hamburg, 22. September 2023


von Dr. Ralf Wegner (Text und Fotos)

Die ehemalige träumerisch-überspannte Südstaatenschönheit Blanche DuBois betäubt sich nach dem Suizid ihres homosexuellen Bräutigams Allan Gray mit Männerbekanntschaften, derweil ihre aristokratische Familie verarmt. Wegen eines sexuellen Verhältnisses mit einem Schüler verliert sie zudem ihre Stellung als Lehrerin und zieht zu ihrer Schwester Stella nach New Orleans. Der mit Stella verheiratete, proletenhaft auftretende Automechaniker Stanley Kowalski fühlt sich durch die immer noch in höheren Sphären schwebende Schwägerin räumlich und persönlich bedrängt und erforscht ihre Vergangenheit. Sein von Blanche angezogener Freund Mitch verlässt diese, Stanley demütigt und vergewaltigt sie. Blanche flüchtet sich vollends in ihre Phantasiewelt und wird in eine Nervenheilanstalt eingewiesen.

Williams lässt sein Stück mit der Ankunft Blanches’ in New Orleans beginnen. Neumeier erzählt dagegen im ersten Teil seines Balletts die Vorgeschichte mit Allan, dessen Liebhaber, seinem Suizid und dem Hinsiechen der Familie DuBois als Erinnerung der in einer Nervenklinik internierten Blanche. Beziehungen mit verschiedenen Männern und vor allem die Hochzeitsfeier mit Allan und seinem Suizid nehmen viel Raum ein. Getanzt wird im Gegensatz zum zweiten Teil eher statisch. Während Blanche ihrer Freude an dem Fest Ausdruck gibt, kommt bei den Hochzeitsgästen keine Fröhlichkeit auf, sie wirken oft wie eingefroren, ebenso die in schwarz gekleideten Tanten und anderen älteren Verwandten der Familie DuBois.

Lennard Giesenberg (Allans Freund), Charlotte Larzelere (Stella, Blanches Schwester), Matias Oberlin (Stanley Kowalski), Anna Laudere (Blanche DuBois), Edvin Revazov (Harold Mitchell), Jacopo Bellussi (Allan Gray, Zeitungsjunge, Arzt)

Anna Laudere überzeugt dabei mit einer ambiguösen, zwischen heiterer Fröhlichkeit, neurotischer Verschrobenheit und tiefer Verletzlichkeit pendelnden Blanche. Sie nimmt die Beziehung ihres Bräutigams mit dessen Liebhaber wahr, schlägt wütend auf ihn ein, würde sich aber wohl mit der Situation abfinden, sofern weder seine noch ihre Verhältnisse öffentlich werden. Allan geht an dem Konflikt aber zugrunde. Leider bleiben die Gefühle Allans, getanzt von Jacopo Bellussi, seinem Freund (Lennard Giesenberg) und Blanche gegenüber recht oberflächlich, während Anna Laudere tänzerisch und darstellerisch tieferen Einblick in Blanches Verzweiflung über den Tod des Bräutigams und ihr Abgleiten in das Ausleben ihrer Begierden zeigt. Am Ende bricht alles zusammen, die in Schwarz gekleidete Angehörigen ebenso wie die Fassade des Festsaals.

Den gesellschaftspolitischen Hintergrund, also den Untergang des aristokratischen Südens, inszeniert Neumeier nicht, die persönlichen Beziehungen stehen bei ihm ganz im Vordergrund. Leider entwickelt sich beim ersten Teil seines Balletts eine gewisse Langeweile, die vorwiegend auf den Mangel an Fröhlichkeit und heiterem Tanzvergnügen beim Hochzeitsfest zurückzuführen ist. So fehlt insbesondere der Gegensatz vom fröhlichen Fest zum alltagsgrauen Zusammenbruch von Familie und Heimat.

Blanche DuBois’ Ende in der Irrenanstalt (Anna Laudere)

Der zweite Teil ist dagegen hammerhart und wird durch hervorragende Leistungen der erst jetzt auftretenden Personen in Gestalt von dem neuen Ersten Solisten Matias Oberlin als Stanley sowie von Edvin Revazov als Mitch bestimmt. Der Pas de deux des schüchtern linkischen Mitch mit der überheblichen, sich in die Beziehung aber hineinsteigernden Blanche gehört zu den tänzerisch umwerfenden Szenen, ebenso die akrobatisch-tänzerischen Liebesbeziehungen zwischen dem animalisch getriebenen Stanley und seiner ihm ergebenen, um nicht zu sagen sexuell hörigen Ehefrau Stella, hervorragend getanzt von der neuen, in der letzten Saison bereits als Natalie im Schwanensee mit imponierender Technik aufgefallenen Solistin Charlotte Larzelere.

Oberlin überzeugt in vielerlei Hinsicht, körperlich eher schmächtig wirkend, zumindest im Vergleich mit Revazov, zeigt er, nicht ohne eine gewisse Verschlagenheit, Potenz und Durchsetzungswillen Mitch gegenüber im Boxkampf, vor allem aber in seinen Beziehungen zu Stella und seiner Schwägerin. Stella ist ihm gefügig, Blanche fühlt sich zwar animalisch von ihm angezogen, von seiner Person und seiner Art des Seins aber auch abgestoßen. Oberlin spürt die Triebhaftigkeit seiner Schwägerin und nutzt sie auf fast schon sadistisch anmutende Weise bis zum bitteren Ende der Vergewaltigung aus. Er hat erreicht, was er wollte, die physische und psychische Unterwerfung der aristokratischen Südstaatentochter. Blanche bleibt nur noch der Rückzug in den Irrsinn.

Wie Oberlin und Laudere diese vorletzte Szene tänzerisch und darstellerisch in den Griff bekommen, das ist große, bei den Zuschauerinnen und Zuschauern tiefe Emotionen freisetzende Kunst.

Dr. Ralf Wegner, 23. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Endstation Sehnsucht, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams, Gastspiel des Tschechischen Nationalballett

Die Glasmenagerie, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams Hamburg Ballett, 30. Mai 2023

Die Kameliendame, Ballett von John Neumeier nach dem Roman von Alexandre Dumas d.J. 48. Hamburger Ballett-Tage, Aufführung vom 4. Juli 2023, Staatsoper Hamburg

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