Ensemble intercontemporain / Matthias Pintscher © Daniel Dittus
Unverstanden, unverständlich, allumfänglich: Die Moderne Musik scheint offenbar in der Krise. Eine Bestandsaufnahme – oder:
about Last Night.
ENSEMBLE INTERCONTEMPORAIN / MATTHIAS PINTSCHER
Matthias Pintscher / James Dillon – Elbphilharmonie Visions
Ensemble intercontemporain
Dimitri Vassilakis, Klavier
Matthias Pintscher, Dirigent
Programm:
Matthias Pintscher
NUR für Klavier und Ensemble
James Dillon im Gespräch mit Barbara Lebitsch
Pharmakeia für 16-köpfiges Ensemble
Elbphilharmonie, 10. Februar 2023
von Harald Nicolas Stazol
„Meine Toleranz hat Grenzen!“ werfe ich enerviert, die Treppen der Philharmonie herabsterzend, meinem Garderobier entgegen, da nehme ich, erstmals in meiner Karriere, den französischen Abgang. Das heißt, ich raune noch einmal meinem Gastgeber ins Ohr, „Micha, das ertrage ich nicht länger!“, ganz „französisch“ ist, niemandem Bescheid sagen, so wie die New Yorker Society Grande Dame Carmen de l’Orifice, die nach nettem Gespräch im Town Apartment von Eleanor Lambert mit Blick über „The Basin of Central Park“ auf dem Empfang des internationalen Fashion Journalism der Schauen in New York – einfach verschwand. Der polnische Abgang, wird im Volksmund oft verwechselt. Letzterer bedeutet, dass man etwas mitnimmt. Aber von diesem letzten Komponisten nehme ich gar nichts mit.
Zugegeben: Ich verdufte gerade jetzt erstmals in meinem hingebungsvoll- hingegebenem Hörerleben, um noch die letzten Reste meines Gehörs zu retten. Dabei hatte der Komponist ja eben bei der Podiumsdiskussion, James Dillon, über sein „Pharmakeia“ so eindringlich gesprochen, dass ich es schon beim ersten, durchaus konzentrierten Hören nicht recht durchdrang…
Immer ein schlimmes Zeichen.
Akzentfrei auf Englisch moderiert von einer Österreicherin im Catsuit, die musikalische Leiterin der Elphi, wenn ich recht höre, Sie verzeihen, die Modernen sind der natürliche Feind des Trommelfells – jedenfalls, da macht der Zweite Moderne heute Abend noch so einen netten Eindruck, aber obschon und obwohl ich wirklich genau zuhöre, kann ich beim besten Willen seinen Worten keinen rechten Sinn entnehmen.
Und bis zum zweiten Satz ist ja auch alles O.K. – finden jedenfalls mein Gastgeber und ich. Zwei Grand Pianos rechts und links, daneben auch jeweils zwei Monster-Electronic-Orgeln, anfangs quäken die Hörner – ich dachte noch, warum trägt der Mann Pferdeschwanz in seinem Alter – das Schlagwerk erzittert, betörende Passagen an Xylophon und Vibraphon, die Leistung eines jungen Olympiers, schon er reine Wonne!
Wie auch die Konzertmeisterin schon bei jenem 1. Modernen, glücklicherweise eröffnenden, ja, es gibt ihn, einen gefälligen, einen der Spaß und Freude macht: Matthias Pintscher, mit seinem Klangwerk NUR, recht eigentlich ein Klavierkonzert, das so sich-verflüchtigend-flaumig wie brachial sein kann…
Nun, während des Umbaus, schnell und listig und im Dunkeln die Ränge von 16 bis 2 hinabgeschlichen, immer im Kreise den Korkenzieher von Bau hinunter, und da sitze ich jetzt auf ’nem Premiumplatz, und halte es nicht mehr aus.
Alles zusammengerafft im vermaledeiten Dunkeln, Block, Stift, Glas, Pelz – und hinaus, hinaus, HINAUS!!!
Ich rase also die sich hinabschwingenden Herzog & de Meuron Treppen runter, krame nach meinem Zigaretten-Etui und denke dann doch an all die Kaskaden von Assoziationen, die der Engländer da auslösen kann.
Wenn ich von einem Tafelgast derart genervt bin, dass ich aufstehe, und mich entschuldige, einer plötzlichen Migräne wegen, sieht die Hamburger Gesellschaft, dass ich jetzt einfach weg muss daran, dass mein Chardonnay unberührt blieb.
Ja, auch ganz ohne Weißwein – ich bin entnervt. Davon, dass James Dillon mich erst so liebevoll umschmeichelnd umworben hat, nur um mir dann grausam den akustischen Feuertod zu bereiten. Ich habe Parties im FRONT und dann im Rangavilas er- und überlebt, my esteemed, geschätzter Mr. Dillon, genau dort, wo die Philharmonie sich heute erhebt, ich weiß sehr wohl um den Zauber dieses Ortes, seinen Genius Loci.
Sie offenbar nicht. Sie haben ihn heute Abend vertrieben. Das wäre die eine Erklärung.
Aber seien Sie nicht traurig: Den Alban Berg ersteig ich nie!
Also: Hereinspaziert, liebe Leute, meine Damen und Herren, heut gibt’s Die Moderne, das Ticket ab 7 Euro, halbvoll ist der Saal, aber neben mir lehnt sich eine etwas Öko-Angehauchte Kennerin schon in den Nacken, verzückt, das kann ich da noch begreifen. Es ist ja auch erst der Moderne Erster Teil.
Als mein großes deutsches Nachrichtenmagazin – sonst bislang jedem meiner Vorschläge hold – entweder gelangweilt oder überfordert auf das Ensemble Intercontemporain reagiert und auf den Weltklangkörper, gegründet vom Modernisten der Moderne, Pierre Boulez, nun, man muss es leider sagen, „verzichtet“, ahne ich zweierlei:
Mainstream wird das heute Abend offenbar nicht – außer ich schreib drüber.
Und? Ach, Du ahnst es nicht!
»NUR« bedeutet Feuer, in der arabischen wie in der hebräischen Sprache. Das Werk für Klavier und Ensemble ist auf Initiative von Daniel Barenboim entstanden und der Barenboim-Said-Akademie gewidmet. Dieses »west-östliche« Orchester hat Matthias Pintscher zu einer besonderen Balance inspiriert: »Das Soloinstrument und das Ensemble sind Partner« und begegnen sich »auf Augenhöhe, ein echtes dialogisches Musizieren.« Als Pianist glänzt dabei Ensemblemitglied Dimitri Vassilakis.“
Von Glanz gar kein Gedanke – der Mann ist wie ein Lichtdom so hellwach-virtuos, dann wie erforderlich kantig, will sagen, manchmal knallt’s auch ganz schön.
Und nun, die Ehre verlangt es, ja, auch der Anstand, zurück zu James Dillon, dem man gerne einen Dylan zugebilligt hätte – allein:
Von »Pharmakeia« leitet sich in vielen Sprachen der Begriff für »Apotheke« ab – ursprünglich bedeutet das griechische Wort »Zauberei«. Der vierteilige Zyklus des schottischen Komponisten James Dillon mutet wie ein jenseitiges, unheimliches Märchen an. Dillon schreibt dazu: »Ausgehend von der Stille ist Musik ein Ort systemischer, sich gegenseitig durchdringender Schwingungsenergie, eine vielfältige Weite, die uns für das Unzugängliche öffnet.«
Erstes Problem: Man sieht nichts. „Das Stück soll möglichst im Dunkeln aufgeführt werden“, klärt mich mein Gastgeber noch auf. Nichts gegen meinen Gastgeber, aber romantisch ist das ja schon, plötzlich wünscht man sein Liebchen dabei zu haben. Hätte ich nur früher Bescheid gewusst…
Zweites Problem: Man hört nichts. Und als man was hört, denkt man, komm, Du schaffst es James, nur noch ein Stückchen – und bis zum 2. Satz geht ja auch wirklich alles gut, obwohl ich immer noch nicht weiß, ob die beiden Steinways wirklich nötig waren, wenn sie doch genau das gleiche spielten, wie mir scheint…
Der 3. Satz aber schwappt vor Kakophonie geradezu, es fließen Dissonanzen, erst tröpfelnd, dann strömend, dann wird’s zur Sintflut, da scharre ich schon mit den Hufen – will sagen, ich blicke mich hektisch und verzweifelt nach dem nächsten Ausgang um, stören will ich ja nicht – vorhin noch, beim ersten Modernen, war nach einem Satz ein solch kollektives Hustkonzert, dass ich zunächst denke, es sei Protest wie weiland in Paris.
Sehen Sie, ich kenne da jemanden an der Spitze der elektronischen Musik, gerade in Manchester, dem „Neuen London“, John-Robin Bold. Da sollten Sie vielleicht mal reinhören, mein Bester.
Die andere Erklärung schreib ich ihm persönlich, schön auf Bütten mit königsblauer Tinte, feingeschwungen.
„To Mr. James Dillon, esq., comp.
Dear Sir. I would very much have liked to like your music most likely. But I don’t.
Well, I might be wrong:
The other, utterly unthinkable, devastatingly-shocking explanation for a snob like me?
I am getting too old.
Thanks for that, old sport!
Keep up the good work, I believe in you!
Yours very sincerely, Harald Nicolas Stazol.“
klassik-begeistert.de, 15. Februar 2023
Also das scheint wohl nicht gefallen zu haben 😀
Kopf hoch – ich leide regelmäßig mit Ihnen.
Ganz liebe Grüße aus dem ebenfalls ‚modernen‘ Köln,
Daniel Janz