Foto: Archiv © Bernd Uhlig 2015
Eine späte Kritik
Erich Wolfgang Korngold
Die tote Stadt
Inszenierung: Karoline Gruber
Bühnenbild: Roy Spahn
Kostüme: Mechthild Seipel
Licht: Hans Toelstede
Dramaturgie: Kerstin Schüssler-Bach
Choreografie: Stefanie Erb
Staatsoper Hamburg, 5. Juni 2024
von Harald Nicolas Stazol
Dies ist die Oper einer Psychose – und damit kenne ich mich nun wirklich aus, das können Sie mir glauben! Und zudem eine der Schönsten, die ich je gehört habe, auch das ist hoffentlich glaubbar, und vielleicht fällt mir deshalb dieser Essay so schwer, wie ich vertraulich der Direktion gestehe.
Denn zunächst glaube ich, ICH habe eine Halluzination – doch zunächst, diese Oper ist so tiefenpsychologisch angelegt, der Komponist wird seinen Freud zu unserer Freud’ studiert haben, und nun muss man mir erstmal verzeihen, aber ich habe zumindest ein Vordiplom – heute wohl einem Bachelor vergleichbar – in Psychologie an der Universität Hamburg:
Man muss mir verzeihen, denn die Hamburger Staatsoper hat mir schon verziehen. Denn ich muss „Die tote Stadt“ erstmal analysieren, und habe Erich Korngold gewissermaßen mehre Tage nachmittags auf meine Therapeuten-Chaiselongue gebeten, und er hat geredet und geredet – nein, ja im übertragenen Sinne, er ist vielschichtig wie ein Millefeuille von Fauchon.
Aber ich glaube nach langem Zuhören erst jetzt, die Oper verstanden zu haben – sie ist ein Irrwerden an der Schrecklichkeit der Welt von einem tragisch Scheiternden, der nur die Liebe will, und diese ewig, und seine große Liebe verloren hat, und sie nun in selber Gestalt, einer anderen wohlgemerkt, derart überträgt, dass es nur tragisch enden kann!
Eine so intrinsisch angelegte und verwobene Oper, voller Tiefe und Dramatik und WUNDERVOLLEN Melodien und Weisen und Themen und Durchführungen – man denkt unwillkürlich an Korngolds Violinkonzert, dieser Sohn eines gefurchten Musikkritikers (ha! Ich sag’s ja;) bringt mich zu besagter Halluzination!
„Wir sind nicht die New York Times“, schimpft der Herausgeber, wenn ich wieder mal ’nen Termin versuselt habe, und da sitzt sie plötzlich neben mir, lächerlich, die New York Times, mit einem noch lächerlicheren Kruzifix im Ohr, bei Korngold in „Die tote Stadt“, und erst will er meine digitale Visitenkarte einstecken, arroganter als ich (und das will was heißen), „Critic in Residence of what?“, und ich, „Of everything here“ – und der Hänfling von einem Jüngelchen gibt mir die Karte zurück, und ich sage hiermit, klassik-begeistert.de IST nicht nur in Hamburg die New York Times. Jedenfalls müssen wir uns nicht verstecken, und zumindest habe ich keine Kreuze am Ohr.
Doch nun sofort zu Korngold:
Kennen Sie noch Bonanza? Tatatatam Tatam Bonanzaaaaa! – nun, es ist Serienmusik, und die „Stadt“ ist sozusagen ein einziger Score der 20er Jahre, umgesetzt von einem sehr jungen Genie. Doch davon sprechen wir noch.
Spiele ich doch das Violinkonzert des Genius Erich Wolfgang Korngold meinem Freunde Rocco am Wochenende zu frischem Spargel vor, und sage „zwei Oscars für Filmmusik, hörst Du ,Bonanza‘, das hat man von ihm geklaut!“ – und er will am Mittwoch sofort mit, aber nun kommt alles ganz anders…
Und ist es nicht das Höchste, in die Oper zu gehen? Pustekuchen! Mein Barmannfreund hat Personalbesprechung – „ES IST KORNGOLD!!!!“, no chance.
Nun, woher auf die Schnelle her mit einer Begleitung, die spontan und attraktiv zugleich? Oksana! Sie hat Musik studiert, in Kasachstan, „Da haben wir keine Oper!“ sagt sie glückselig, und steht genau rechtzeitig in fließender Seide, eine Armani-Hosenanzug in Beige im Foyer – zum Glück keine Halluzination! – und ab geht’s, nach Brügge.
Waren Sie schon einmal dort? Es ist eine der schönsten Städte, die sich denken lassen, erbaut in unendlichem Reichtum der Renaissance, ich eben WAR dort, ein Zweig der Familie sind Belgier. Aber warum „Die tote Stadt“?
Weil der Fluss Reie für den Seehandel unaufhaltsam versandet, die Kaufleute gehen schlicht pleite. Der perfekte Ort also für den im Herzschmerz seit Jahren gerade versandenden Paul – ergreifend Klaus Florian Vogt: „Diese Partie hat es in sich: dramatische Wucht und operettiger Schmelz, dazu eine darstellerische Tour de force.“ – um sich zurückzuziehen, ziemlich larmoyant die ganze Oper lang, sich selbst beweinend, weil er Marie verloren hat, nur das Hausmädchen ist ihm seit Jahren treu, und ein Freund, Frank, so sehr hat er sich isoliert…
Und nun sieht er eine Frau, Marietta, wirklich Erscheinung Vida Miknevičiūtė – und schon sind wir wieder bei Halluzinationen, denn „existiert sie wirklich?“, fragt sich die Regisseurin, Karoline Gruber, im Opern-Clip, den ich dringend empfehle! Und ich sage: Nein! Also macht es auch nichts, dass Paul sie zum Schluss erwürgt.
Im Ernst, ’ne Frau finden, die der Verblichenen aufs Haar gleicht – eine Locke hat Paul noch von Marie, in der Inszenierung wird’s dann ’ne ganze, blonde Perücke – nun, das gibt’s halt nur in der Oper, es sei denn, Paul steht einfach nur auf den gleichen Typ – kenn ich auch…
Verschiedene Szenen habe ich erst nicht, manche gar nicht verstanden, auch dieses ja hübsche bühnengroße Schiff – ist es Pauls Schiffbruch? Ein Symbol für Brouge? Oder für beide synonym? Auch die weißen Make-Up-Masken des Chores – Pauls Über-Ich, sie erschließen sich mir nicht und sind „gar schrecklich anzusehen“ (Friedrich der Große zu seiner Frau, nachdem er sie 23 Jahre nicht gesehen hat).
Blutjung wie bereits gesagt ist Korngold, als er mit dieser Oper zweimal am selben Tag, in Köln und Hamburg, sofortigen Weltruhm erlangt: „4. Dezember 1920: „Uraufführung! Der Komponist anwesend! Brechend volles Haus! Die Spitzen der Gesellschaft natürlich auch da, auch alles, was musikalisch einen Namen trägt!“
Die internationale Presse ist ebenfalls präsent und trägt einen Triumph in die Welt hinaus: „Die tote Stadt“, das dritte Bühnenwerk des erst 23-jährigen Komponisten Erich Wolfgang Korngold, erntet „bombastischen Erfolg“, „Wogen des Beifalls“, „enthusiastische Ehrungen“: „Unzählige Male erschienen Korngold und die Mitwirkenden an der Rampe“, melden die Kritiker. Schon zur Pause wird der junge Komponist vom Hamburger Publikum hervorgerufen.
Tja, ich sage ja, internationale Presse! Fuck the New York Times!
Oder: Der spinnt wohl?!
Harald Nicolas Stazol, 9. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt ENO English National Opera, 28. März 2023