Bonn, Opernhaus, 26. und 27. August 2022
Foto: Eröffnungskonzert Beethovenfest Bonn 2022, © Sophia Hegewald
Ein hochkarätiges und sehr unterhaltsames Eröffnungswochenende mit mutigem Programm und zwei Spitzenorchestern lässt Bonn und Umgebung gespannt und zuversichtlich in die nahe und ferne Zukunft schauen.
Eröffnungskonzert am 26. August 2022
Louis Andriessen (1939-2021) – Workers Union (1975)
György Ligeti (1923-2006) – Mysteries of the Macabre
Ludwig van Beethoven (1770-1827) – Sinfonie Nr. 3 (Sinfonia eroica)
Budapest Festival Orchestra
Anna-Lena Elbert, Sopran
Iván Fischer, Dirigent
Sinfoniekonzert am 27. August 2022
Yikeshan Abudushalamu (*1985) – Repression
Maurice Ravel (1875-1937) – Shéhérazade. Drei Lieder
Nikolai Rimski-Korsakow (1844-1908) – Scheherazade
Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Rom
Véronique Gens, Mezzosopran
Sir Antonio Pappano, Dirigent
„Immersives Konzert“ mit Iván Fischer und dem Budapest Festival Orchestra am 27. August 2022 im Bonner Pantheon (Beethoven, Eroica)
von Brian Cooper, Bonn
Irgendwie weht gerade ein frischer Wind durch Bonn, und das sind zwei Begriffe, also Bonn und frischer Wind, die eher selten im selben Satz anzutreffen sind. Legendär böse ist Jochen Malmsheimers Schilderung alter Nachrichtensendungen im Radio: „Damals sagten die Sprecher immer noch erst den Namen der Stadt, in der was passierte, damit man, wenn man Bonn hörte, aufstehen und zum Klo gehen konnte.“
Nun war aber am letzten Augustwochenende in der ehemaligen Bundeshauptstadt ungewöhnlich viel los. Die Fantastischen Vier am Freitag im Hofgarten, tags darauf Deichkind, am Sonntag Kraftwerk. Dann das Sommerfestival in der Rheinaue. Am Samstag das Eröffnungsfest des Beethovenfests in der Stadt unter dem Motto „Bühne frei!“ Und schließlich gleich zwei Weltklasse-Orchester im Opernhaus. So viel Musik und Kultur an einem Wochenende – und das nicht etwa in Berlin, sondern in Bonn!
Das diesjährige Beethovenfest wird in Gänze von seinem neuen Intendanten, Steven Walter, kuratiert, wie mir die Presseabteilung auf Nachfrage schrieb, also ohne den üblichen Übergang, und man merkt sofort eine neue Handschrift. In der (lesenswerten!) Festival-Vorschau stehen Wörter wie Geheimkonzerte, Dunkelkonzerte, Stadtteilfest; die Anzahl der Spielstätten ist beeindruckend vielfältig (das Viktoriabad, ein ehemaliges Schwimmbad, fungiert als „unsere Festivalzentrale“); und man hat den Eindruck, das diesjährige Motto Alle Menschen (Schiller bzw. Beethovens Neunte) sei mehr als nur ein cleverer Marketing-Slogan. Man bemüht sich in vielerlei Hinsicht um Diversität, und das ist – um einen ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin zu zitieren – auch gut so.
Beethoven steht selbstverständlich nach wie vor im Mittelpunkt, aber es gibt auch viel Zeitgenössisches und Genreübergreifendes. Alles scheint sorgfältig durchdacht und nicht „mal eben mit reingenommen“, nur weil’s gerade Mode ist.
Ich mag den 60er-Jahre-Charme des Opernhauses. Man fühlt sich dort pudelwohl. Es hat noch was vom Mief der Bonner Republik, gleichzeitig haben hier aber auch etliche wichtige Aufführungen stattgefunden: Schrekers Irrelohe beispielsweise wurde völlig zu Recht bundesweit beachtet. Und das ehrenwerte Opernhaus wurde am Freitag im besten Sinne gerockt. Mehr dazu gleich.
Immerhin programmiert man die großen Sinfoniekonzerte der Stadt jetzt dort, also in gepflegter Stadttheater-Akustik, statt im World Conference Center, das ich nach einem einzigen enttäuschenden Beethovenfest-Besuch seither gemieden habe, da es den Charme einer Matratzenvertretertagung hat und akustisch vermutlich nur noch vom Münchner Gasteig unterboten wird. (2010 „hörte“ ich in München Mahler 3. mit Jansons: Nun ja, das hört man dann doch lieber auf CD; der Tonmeister heißt übrigens Wilhelm Meister, und der Name ist Programm.) Warum sollte man 40 Euro zahlen, wenn man nicht vernünftig hört?
Nächste Frage. Ach, wann wir wieder in die Beethovenhalle dürfen? Diese Frage sollte man lieber nicht stellen. Akustisch war’s auch dort, ganz nebenbei, nie so dolle.
Iván Fischer und das Budapest Festival Orchestra (BFO) sind gern gesehene Gäste beim Beethovenfest. Unvergessen ist eine Erste Mahler am 19. September 2011 in der Beethovenhalle – in meinem Programmheft steht handschriftlich „Sternstunde!“, und mein inzwischen verstorbener damaliger Begleiter, ein kritischer Zuhörer und wahrlich nicht nah am Wasser gebaut, hatte feuchte Augen, wie auch ich. Wir standen hinterher an seinem Z3, rauchten eine und bedankten uns ergriffen bei allen Orchestermitgliedern, die vorbeikamen und in Richtung Hotel entschwanden.
Dann gab es vier Jahre später eine aufregende dreitägige Residency, wiederum u.a. mit Mahler (die Siebte) und einem Abend mit Eigenkompositionen dieses so vielseitigen Musikers.
Heuer (ich liebe das Wort) übertrug man also dem fabelhaften Budapest Festival Orchestra und seinem – zusammen mit dem viel zu früh verstorbenen Zoltán Kocsis – Gründungsdirigenten die Ehre, das Eröffnungskonzert des diesjährigen Beethovenfests zu bestreiten. Und wie immer bei Iván Fischer darf man Unerwartetes erwarten: Expect the Unexpected! An diesen Titel des Gedankenbands von Kent Nagano fühlte ich mich erinnert.
Tout Bonn war natürlich beim Eröffnungskonzert anwesend und hatte sich herausgeputzt, auch wenn das Opernhaus längst nicht ausverkauft war. Eintrittskarten werden derzeit, wie der General-Anzeiger berichtet, aus nachvollziehbaren Gründen erst besonders kurzfristig gekauft (Covid, Inflation, Energiekrise, bisweilen stramme Eintrittspreise etc.). Am Folgeabend war es übrigens noch schütterer besucht.
Oberbürgermeisterin Katja Dörner, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und Intendant Steven Walter hielten am Freitagabend erfrischend kurze Ansprachen. Hier der Schirmherr Hendrik Wüst: „Beethovens Musik berührt und bewegt bis heute. Sie führt Menschen zusammen und hat eine Kraft, die uns auch im Alltag beflügeln kann. Deshalb unterstützen wir das Beethovenfest aus Überzeugung – und ehren einen der größten Söhne unseres Landes.“ Das mit der Unterstützung und Überzeugung merken wir uns mal.
Der vor knapp über einem Jahr verstorbene Louis Andriessen, mit Sicherheit einer der wichtigsten niederländischen Komponisten seiner Zeit, komponierte sein Werk Workers Union 1975 und gab ihm die witzige Besetzungsanweisung for any loud-sounding group of instruments mit auf den Weg. Laut wurde es in der Tat, und im besten Sinne enervierend; es ist ein Stück, das durch rhythmische Vertracktheit beeindruckt.
Und so kamen zunächst vier workers des BFO in schwarzem Frack bzw. Kleid und Bauarbeiterhelm auf die Bühne. Das Stück ging los, noch während die Menschen ihre Plätze suchten und einnahmen. Höchst originell!
György Ligetis Oper Le grand macabre ist ein Riesenspaß. Vor Jahren habe ich das mal an der Komischen Oper gehört. Mit Anna-Lena Elbert hatte man für Ausschnitte daraus eine Sopranistin als Solistin gewonnen, die hochvirtuos, souverän und mit beeindruckendem Koloratursopran die ironischen Quatschtexte (immer wieder auch mit verständlichen deutschen Satzfetzen) des Chefs der „Gepopo“ (Geheime Politische Polizei) intonierte. Zwischendurch meldete sich Iván Fischer zu Wort: Man wolle doch ob der schrägen Töne nicht die Ministerpräsidenten vergraulen, es sei schließlich ein Beethovenfest…
Nach der Pause gab es dann schließlich Beethovens Eroica, und Fischer wählte (an)gemessene Tempi. Ohne Hast. Dadurch merkte man erst, wie fein das komponiert ist. Die Hörner im Trio des Scherzos spielten diese gefürchtete Stelle schlichtweg atemberaubend. Kein Wunder, dass wir es hier mit einem der besten Orchester dieses Planeten zu tun haben.
Als Zugabe spielte man den letzten der Rumänischen Volkstänze Béla Bartóks, und nach diesem wunderbaren Rausschmeißer und stehenden Ovationen ging es in die Party ins Foyer, als „Disco“ angekündigt, die jedoch mitnichten ältere Klassikfans verschreckte. Im Gegenteil: Das „Orchester im Treppenhaus“ bot mit „Ludwig BÄM Beethoven“ fabelhaft gute Musik auf der Foyerbühne, Jung und Alt standen bei Wein, Bier und Wasser zwanglos zusammen, man unterhielt sich, mitunter tanzte man, Rollstuhlfahrer blieben, ein wenig zu weiß ist zwar noch das Publikum, aber die angekündigte Diversität war zu spüren. Jeder schien willkommen. Das Motto, dies zur Erinnerung, lautet ja Alle Menschen und nicht etwa Alte Menschen. Was ein Buchstabe so verändern kann.
Ich kann mich nicht entsinnen, im sonst doch so biederen Bonn eine derart angenehme, lockere, heitere und gelöste Stimmung erlebt zu haben. Es war fast, als sei gerade das Kriegsende verkündet worden, als sei man von diesem Alptraum erwacht. Dass wir nicht in normalen Zeiten leben, war in diesem Moment allenfalls an einer Johanniter-Jacke zu lesen, auf der Bevölkerungsschutz stand…
Am Samstag dann das römische Orchester unter Leitung seines Chefdirigenten Sir Antonio „Tony“ Pappano. Man begann mit Repression, einem hochexpressiven Werk des uigurischen Komponisten Yikeshan Abudushalamu, Jahrgang 1985, der ganz sicher nur aus Vorsicht anmerkt, der Titel sei ja nur eine musikalische Anspielung. Man hört die einzelnen Instrumentengruppen quasi als Bienenschwärme, aufgeschreckt, getrieben, dazwischen ganz leise Stellen, oft von der Snare Drum untermalt, was nicht zuletzt angesichts des Werktitels eine durchaus bedrohliche Wirkung erzeugt.
Für Ravels Shéhérazade konnte die großartige Véronique Gens kurzfristig gewonnen werden, da Elīna Garanča erkrankt ausfiel. Von „Ersatz“ kann allerdings keine Rede sein. Ich verehre Véronique Gens spätestens seit ihrer grandiosen Aufnahme der Nuits d’été von Berlioz unter Louis Langrée. Gerade das französische Repertoire singt sie ganz zauberhaft, wie auch an diesem Abend in Bonn.
Spätestens beim Ravel merkte man, dass Antonio Pappano seinem Orchester ein wunderbar zartes piano entlocken kann, so zum Ende des ersten und dritten Teils. Dass Pappano zu den sängerfreundlichsten Dirigenten – und Pianisten! – unserer Tage zählen dürfte, darauf muss man angesichts seiner inzwischen über vier Jahrzehnte an den Opernhäusern von Oslo, Brüssel und Covent Garden nicht hinweisen.
Nach der Pause folgte eine weitere Scheherazade, nämlich die von Nikolai Rimski-Korsakow. Hier war ich erstaunt, wie bekannt mir das nicht gerade oft programmierte Werk vorkam. Wie hieß denn nun der Konzertmeister, der so formidabel die anspruchsvollen Violinsoli spielte? Die Namen der Orchestermitglieder sucht man leider vergeblich im Programmheft; mit Hilfe des Internets tippe ich auf Carlo Maria Parazzoli. Wunderbar von der Harfe begleitet. Die Anklänge an Mendelssohns Sommernachtstraum sind in diesem Werk unüberhörbar, wie auch Michael Struck-Schloen in seiner sehr guten Konzerteinführung bemerkt hatte.
Das schwungvolle Ende dieses Stücks katapultierte mich zwar noch nicht ganz in den Bus zum Beueler Pantheon, ließ mich aber schon zu Jacke und Tasche greifen, nicht ohne jedoch noch die wunderbare Zugabe, das Intermezzo aus Puccinis Manon Lescaut, zu hören. Pure italianità, das Orchester war in seinem Element. Ich machte mich der Unsitte schuldig, beim Applaus, den standing ovations, den Saal zu verlassen.
Denn es gab ja auch noch dieses „immersive Konzert“ im Pantheon um 22 Uhr. Iván Fischer dirigierte das BFO in Beethovens Eroica, komplett zwanglos, alle in Zivil, man konnte sich mitten ins Orchester setzen – außer, wenn man zwei Minuten vor Beginn eintraf, wie ich, aber dafür hatte ich ein gemütliches Sofa in der letzten Reihe für mich und konnte sogar aufgrund ausreichenden Abstands meine Maske absetzen – welche Wonne, welches Glück!
Herr Fischer macht dieses Format schon länger in Budapest, und es kommt gut an. Er dirigierte aber nicht nur, sondern erklärte und moderierte mit gewohntem Charme und Humor. Der Mann ist witzig, geistreich und gewinnend, und er macht zwischendurch auch kritische Bemerkungen – viele Menschen könnten zum Beispiel heutzutage nicht länger als drei oder vier Minuten am Stück konzentriert Musik hören, und dieser erste Satz der Eroica würde jetzt „richtig lang“ erscheinen.
Für den zweiten Satz ließ Fischer einen Cellokasten auf die „Bühne“ holen, um einen Trauermarsch zu demonstrieren. Bloß nicht zu schnell oder zu langsam gehen: Das richtige Tempo sei entscheidend, damit der Sarg würdevoll seinem Ziel entgegengetragen werden könne: „Es gibt ein einziges gutes Tempo“, so Fischer, „und das ist mein Tempo.“ Großes Gelächter. Und der Cellokasten als Sarg, um das angemessene Tempo eines Trauermarschs zu beweisen, das war klasse.
Den inzwischen unüblich gewordenen Applaus zwischen Sätzen bezeichnet Fischer als „eine der schlimmsten Regeln des Konzertbetriebs“, und da allerdings stimme ich ihm nicht zu. Insgesamt war das Ganze aber sehr erquicklich. Schöne Stimmung, das Pantheon hat eine erstaunlich gute Akustik, und dieses Format ist ein Glücksgriff. Bitte mehr davon! Man wünscht Steven Walter und seinem freundlichen Team gutes Gelingen.
Brian Cooper, 29. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at