„Wie schön es ist, Mensch zu sein!“: Das SHMF startet in Lübeck

Eröffnungskonzert Schleswig-Holstein Musik Festival  MUK Lübeck, 6. Juli 2025

Christoph Eschenbach © Andreas Ströbl

„Und jetzt lächeln Sie doch bitte einfach mal den Menschen neben sich an und verharren bis Anfang September in dieser Haltung“, so die freundliche Anweisung von SHMF-Intendant Dr. Christian Kuhnt in seiner Eröffnungsansprache zum 40. Schleswig-Holstein Musik Festival in der Lübecker Musik- und Kongresshalle am 6. Juli 2025. Freundlichkeit, Menschlichkeit, ja Verletzlichkeit und vor allem das Gute im anderen zu sehen, eben „wie schön es ist, Mensch zu sein“ – das lag Kuhnt primär am Herzen. Unsichere, harte Zeiten brauchen einen spürbaren Gegenpol.

Eröffnungskonzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals

Lübecker Musik- und Kongresshalle, 6. Juli 2025

Felix Mendelssohn, Violinkonzert e-Moll op. 64
Anton Bruckner, Symphonie Nr. 7 E-Dur WAB 107

Christoph Eschenbach, Dirigent
Ray Chen, Violine
NDR Elbphilharmonie Orchester

von Dr. Andreas Ströbl

„Inseln wie diese magische Musik“

Die Welt ist mittlerweile in einem Zustand, der Kulturschaffende zu Bekenntnissen drängt. Einfach nur Musik machen, weil es Spaß macht, scheint nicht mehr möglich, weil ständig irgend etwas dräut, durch autokratische, psychopathische Machthaber der führenden Nationen, durch Ausgrenzungspolitik und nationalistische Egomanie. „In einer Welt, die immer komplexer wird, schneller, lauter, verletzender – da brauchen wir Inseln wie diese magische Musik“, weiß Christian Kuhnt.

Solch eine Insel war das SHMF-Eröffnungskonzert, das nach dem munteren Grußwort von Ministerpräsident Daniel Günther und der Rede Kuhnts mit einer überraschenden Programmänderung begann. Eigentlich hätte die Pianistin Khatia Buniatishvili das dritte Klavierkonzert von Beethoven spielen sollen, aber aufgrund einer krankheitsbedingten Absage sprang der junge Geiger Ray Chen mit Mendelssohns Violinkonzert ein. Er spielt das Werk gerade in zahlreichen Konzertsälen.

Es können nicht viele Proben gewesen sein, denn die Absage erfolgte vor wenigen Tagen. Aber der Solist und das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Leitung von Dirigentenlegende Christoph Eschenbach spielten das anspruchsvolle Werk, als hätten sie seit Wochen nichts anderes getan.

Ray Chen © Andreas Ströbl
Rasante Lebensfreude auf Paganini-Niveau

Man tritt Ray Chen sicher nicht zu nahe, wenn man ihn einen „Showman“ nennt, denn er liebt den Flirt mit dem Publikum, scheut keine Effekte und grinst bei den frohen Passagen wie ein Honigkuchenpferd. Er weiß, was er kann, und das ist auch völlig in Ordnung so. Der Geiger überzeugt neben seiner sympathischen Bubenhaftigkeit durch phantastische Virtuosität. Sicher sieben Rosshaare reißen während seiner rasanten Wiedergabe des sehr oft, aber selten so flink gehörten Konzerts; er zupft sie zwischendrin schnell aus und spielt weiter – ähnlich wie Paganini mit den legendären gerissenen Saiten hätte er wohl auch noch mit drei Haaren auf dem Bogen brilliert.

Prägt ein leicht schluchzender Ton mit etwas viel Vibrato noch die ersten Takte, so fällt Chen rasch in einen glatteren, temporeichen, aber dabei absolut exakten Duktus, den das Orchester problemlos mitträgt. Der Dirigent braucht nicht viel zu tun, die Mitwirkenden reagieren auf seine sparsamen Winke und Weisungen ganz organisch; scheinbar funktioniert die Kommunikation mit dem Geiger durch Gedankenübertragung. Selbstverständlich sind die Grundausrichtung und die wesentlichen strukturellen Aspekte in den Proben festgelegt worden, aber die Selbstverständlichkeit in der lebensfrohen Leichtigkeit angesichts des Tempos ist schon beachtlich.

Die Flageolett-Töne formt der Violinist auf der „Dolphin“-Stradivari eher cremig, und bei den Kadenzen lässt er sich tatsächlich auch mal Zeit, um alle Finessen auszukosten. Sehr positiv wirkt sich der geradezu nahtlose Übergang zwischen den Sätzen aus, was die Geschlossenheit des Werks wahrt.

Mit der übersprudelnden Freude am Leben, die das Finale des Konzerts ausmacht, endet diese virtuose Darbietung, und nach dem tosenden Applaus schenkt Chen dem Festival-Publikum noch das Präludium aus der 2. Sonate von Eugène Ysaÿe, auf das weiterer begeisterter Beifall folgt. Zu Recht!

Orchester © Michael Angern

In der Pause verwirrt ein als Hühner (mit – Verzeihung, aber es ist so – Hühnerkacke auf dem Teppich) verkleidetes Blechbläser-Trio, das durch das Foyer wackelt und dort seine Scherze treibt. Das soll wohl witzig und auflockernd wirken, ist aber schlichtweg unpassend angesichts des Konzertprogramms. Viele aus dem Publikum suchen das Weite und das Gespräch unten in der Rotunde.

Majestätischer Bruckner in breit angelegter Wiedergabe

Angeblich stammt das Thema des ersten Satzes aus Bruckners 7. Symphonie gar nicht von ihm selbst, sondern wurde dem Komponisten von seinem Linzer Freund Dorn im Traum mitgeteilt. Das ist zwar sehr freundlich von Bruckner, aber man muss kein Psychologe sein, um zu wissen, das selbstverständlich alles in diesem Werk von Bruckner ist. Na gut, Wagner grüßt immer mal herein, aber auch den hat Bruckner souverän eingearbeitet und nicht kopiert.

Gerade dieser Satz erklingt in Lübeck in aller ragender Weite und majestätischer Größe, mit weltenumfassender breiter Geste. Das Blech strahlt sonnenfroh, die Streicher malen ein mächtiges Klanggemälde.

Eschenbach unterstreicht dies mit weiten Armbewegungen, aber sein Dirigat erinnert fast durchweg in der Sparsamkeit immer wieder an den späten Richard Strauss. Das Orchester folgt der natürlichen Autorität als harmonisch abgestimmter Organismus in Respekt und höchster Professionalität.

Ray Chen und Christoph Eschenbach © Andreas Ströbl

Nach einem sehr feierlichen, weit ausgezogenen Adagio mit dunklem Tubenklang – Bruckner hatte während der Komposition erschüttert vom Tod des verehrten Wagner erfahren – setzt das in dieser Interpretation im Charakter verwandte Scherzo ein. Das hätte tatsächlich ein wenig mehr Zug ertragen, erkämpft sich aber schließlich die typische Trotzigkeit. In den Piano-Passagen sehr deutlich, immer wieder und leider durch das ganze Konzert dringt ein technikbedingter Störton durch. Der ließ sich offenbar nicht abschalten.

Im Finale leuchtet und triumphiert in Transformation der Traum-Einfall aus dem Kopfsatz und des Komponisten frommes Gottvertrauen bricht sich mit Siegesgewissheit Bahn. Stehender Beifall würdigt nicht nur die Leistung aller Mitwirkenden, sondern voller Achtung einen Dirigenten von Weltformat.

Dr. Andreas Ströbl, 7. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Interview: kb im Gespräch mit Christoph Eschenbach, Teil I klassik-begeistert.de, 18. Juni 2025

Interview: kb im Gespräch mit Christoph Eschenbach, Teil II klassik-begeistert.de, 19. Juni 2025

Interview: kb im Gespräch mit Christoph Eschenbach, Teil III klassik-begeistert.de, 20. Juni 2025

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