Exklusivinterview mit Christiane Lutz: „Salome ist eine Oper der Blicke“

Exklusivinterview: Christiane Lutz  Lübeck, 6. Dezember 2022

Foto: Christiane Lutz, Photonachweis privat

Eine der aufsehenerregendsten Inszenierungen in der aktuellen Spielzeit des Theaters Lübeck ist Richard Strauss’ „Salome“ in der Inszenierung von Christiane Lutz; die Premiere war am 18. November 2022. Unter GMD und Operndirektor Stefan Vladar spielt das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck.

Die solistisch und orchestral herausragende Produktion setzt in Regie und Requisiten stark auf Symbole, Andeutungen und Querverweise. So gibt es beispielweise zwei Szenen, in denen sich Herodes die Hände wäscht und darin an Pontius Pilatus erinnert. In der Tat steht dieses symbolische Schuld-Abwaschen jeweils in Zusammenhang mit dem Tod eines Unschuldigen – das erste Mal bei der Entdeckung des Leichnams von Narraboth, der sich aus Verzweiflung und unglücklicher Liebe zu Salome selbst getötet hat, das andere Mal, als er dem Wunsch von Salome nachgibt, Jochanaan das Haupt abzuschlagen.

Zur inhaltlichen Vielschichtigkeit der Lübecker „Salome“ gibt Christiane Lutz im Interview mit Dr. Andreas Ströbl tiefergehende Auskunft.

Christiane Lutz studierte in Wien, wo sie zunächst das Studium der Theaterwissenschaft/ Kunstgeschichte/Musikwissenschaft und BWL abschloss, und danach Musiktheaterregie an der Universität für Musik und darstellende Kunst studierte. Sie war Finalistin beim Ringaward 2014, Stipendiatin der Bayreuther Festspiele und der Salzburger Festspiele, und koordinierte nach Festengagements am Theater Lübeck und der Oper Graz das Kinderopernzelt der Wiener Staatsoper. 2018/19 hatte sie einen Lehrauftrag für Szenisches Gestalten an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren bisherigen Inszenierungen gehören »Rigoletto« beim Glyndebourne Opera Festival, »La Ronde« an der Opéra National de Paris, »The Consul« und »Mignon« an der Bayerischen Staatsoper, »Die Zauberflöte« und »Manon« am Landestheater Salzburg, »Wozzeck« am Staatstheater Cottbus, »Alcina« an der Oper Graz, »Rinaldo« und »Hänsel und Gretel« am Theater an der Wien, »Der Kaiser von Atlantis« an der Semperoper Dresden sowie »Ulisse« bei den Wiesbadener Bachwochen.

klassik-begeistert: Liebe Frau Lutz, am 18. November haben Sie im Theater Lübeck eine bejubelte Salome-Premiere hingelegt. Bei allem Minimalismus des Bühnenbildes gibt es in dieser Produktion zahlreiche Bilder, Zeichen und Vorausdeutungen. Das passt natürlich hervorragend zum biblischen Hintergrund der Oper, zumal das Libretto ja auch auf das sprachbildmächtige Hohelied Salomos rekurriert, bei aller Freiheit im Umgang mit dem Originaltext. Im Libretto geht es viel um das Sehen, um das Nichtsehen- oder Sehen-Wollen oder auch um das Nicht Sehen-Können, daher drängt sich auch schon deshalb das Spiel mit Bildern und Zeichen auf. Sie verwenden dabei mitunter mehrere Ebenen. Es gibt ja das Bullauge in der Verbindungs- oder Trennungstüre zwischen Thronsaal und Küche. Von der Form her entspricht dem die beleuchtete Scheibe, die mal den Mond, mal die Silberschale für das Haupt des Täufers, mal einen Spiegel darstellt. Eines der schönsten Bilder der Inszenierung ist, wenn sich Salome wie eine Sphinx stumm darüber beugt und dort hineinstarrt. Sucht sie da nach Selbsterkenntnis, als Mädchen auf dem Weg zur Frau, will sie das Bild des Jochanaan sehen oder ist die Oberfläche wie die des Wassers, in dem der egomane Narziss sich in sein Abbild verliebt?

Christiane Lutz: Salome ist in der Tat eine „Oper der Blicke“, der begehrlichen, sehnsüchtigen und verträumten Blicke, und vor allem des Blickes der Salome auf sich selbst. Wenn Salome in die leuchtende Scheibe blickt, wie in einen Spiegel, dann ist das im Stückverlauf der Moment, wo Jochanaan sie gerade verflucht hat. Sie betrachtet sich selbst – stumm, minutenlang – und macht während der großartigen Musik des Zwischenspiels einen inneren Prozess durch: sie weigert sich, länger das zu sein, was andere in ihr sehen. Sie emanzipiert sich und sammelt im Blick auf sich selbst die Kraft für das, was sie in der nachfolgenden Szene tun will: die Abrechnung mit Herodes, wo sie seine Übergriffigkeiten im Tanz ans Tageslicht ziehen wird.

klassik-begeistert: Wie der kleine Säbel zum „Köpfen“ der Champagnerflasche bzw. für das Entfernen der Stanniol-Kapsel auf das spätere blutige Ende vorausweist, wirft Salome wie ein Todesbote schwarze Federn von sich. Hatten Sie dabei den großen schwarzen Vogel wie bei Ludwig Hirsch im Kopf oder ist Salome ein gefallener Engel, gleichsam Luzifers kleine Schwester, mit imaginierten schwarzen Schwingen?

Christiane Lutz: Herodes spürt einige Male die unsichtbare Präsenz eines „ungeheuren schwarzen Vogels“ und beschreibt das schreckliche Rauschen seiner schwarzen Flügel. Die Metapher ist nicht neu, Sie haben recht: Ludwig Hirsch ersehnt sich den sanften schwarzen Vogel, Herodes fürchtet ihn – aber für beide ist er ein Todesbote. Salome ermächtigt sich dieses Symbols, um Herodes zu schwächen: die übermächtige Angst dieses mächtigen aber furchtsamen Mannes ist Salomes Chance, hier kann sie ihm schaden.

klassik-begeistert: Jochanaan trägt schwarze Handschuhe, die Distanz zwischen ihm und denen, die er eben nicht berührt, schaffen. Ein bisschen erinnern sie auch an die Handschuhe eines Kämpfers wie einem Musketier oder Zorro. Einige Male zeigt er mit dem behandschuhten Finger wie anklagend auf sein Gegenüber. Hatten Sie da das Grünewald-Gemälde auf dem Isenheimer Altar im Kopf, auf dem Johannes auf den gekreuzigten Jesus zeigt, gleichsam als Umkehrung des Inhalts der Geste?

Photo: Jochen Quast

Christiane Lutz: Das ist sehr schön, wie Sie das lesen. Für mich war diese Geste das Bild für Jochanaan als Ankläger: seine Urteile sind hart und vernichtend. Der Beginn der großen Szene zwischen Salome und Jochanaan ist von ihrer Seite her eigentlich sehr offen: Salome möchte mit Jochanaan in Dialog treten, sie ist ein Teenager und fordert ihn ganz aufrichtig „Sag mir, was ich tun soll“ – doch Jochanaan kanzelt sie ab und wirft sie zurück auf ihre Herkunft: „Tochter der Sünde“. Er treibt sie in die Enge und lässt sie sich nicht entwickeln. Bis sie sich von ihm löst und sich selbst neu entwirft.

klassik-begeistert: Salome besingt, ganz im Hohelied-Duktus, das schwarze Haar Jochanaans. Das lange Haar ist ja im Alten Testament – man denke nur an Simson – Symbol männlicher Kraft und Vitalität. Bo Skovhus hat eine Glatze, Anton Keremidtchiev als Zweitbesetzung ist grau meliert; man hätte beiden Sängern natürlich eine Perücke aufsetzen können. Zeigen die Worte Ihrer Salome hier schon die Anzeichen eines krankhaften Realitätsverlustes und sie träumt von einem Ideal Jochanaan?

Christiane Lutz: Der Moment, wo Salome das Haar zum ersten Mal beschreibt, ist einer der literarisch schönsten und musikalisch wehmütigsten Passagen der Oper. Sie singt von dem Haar, das so schwarz sei wie die „Zedern des Libanon, die den Löwen und Räubern Schatten spenden. Die langen schwarzen Nächte, wenn der Mond sich verbirgt, wenn die Sterne bangen“ – man fragt sich doch, warum sie die Nächte so hoffnungslos beklemmend empfindet, woher kommen diese Ängste der 16-jährigen Salome? Daher bezieht es sich bei uns auf Salomes eigenes Haar – einmal greift Herodes hinein, als Bild seiner Übergriffe. Und einmal streicht Herodias ihrer Tochter über den Kopf, eine hilflose Geste ihrer verlorenen Beziehung.

klassik-begeistert: Auf dem Bühnenhintergrund wirft Jochanaan hinter Salome und Herodes gleichsam seinen Schatten voraus bzw. dominiert er die Szene nur als Schemen. Man assoziiert da ein bisschen Murnaus „Nosferatu“. Haben Sie das bewusst so gewählt, um den bei Ihnen ohnehin optisch eher düsteren Jochanaan mit seinem dunklen Anzug und den schwarzen Handschuhen noch mehr ins Dunkel-Mysteriöse zu rücken? Die Figur hat ja in der Inszenierung auch durchaus menschlich-angreifbare Züge. Ist das Dunkle ein Schutz für diesen Jochanaan?

Photo: Jochen Quast

Christiane Lutz: Bei uns erwächst Jochanaan bei seinem ersten Auftritt ja aus Salomes eigenem Schatten heraus. Diese aus Salome Heraustreten impliziert, dass die Kraft des Jochanaan in gewisser Weise auch die Kraft der Salome ist. Sie spielt mit dem Gedanken, was wäre, wenn sie die Kraft hätte, die Zisterne zu öffnen und das Unausgesprochene und Verdrängte ans Licht zu ziehen. Jochanaan ist bei uns auch ihr Alter Ego, ihr stärkeres Selbst – ihr von Zuschreibungen befreites Selbstbild.

klassik-begeistert: Die Art, wie die Personen miteinander interagieren, Beziehungen durch direkte Berührungen darstellen oder auch mal Nähe suchend hintereinanderstehen, dann wieder durch Bänder aus Kleidungsstücken wie Salomes Schleier oder anderen Kleidungsstücken Dominanz oder Abhängigkeit andeuten – das lässt manchmal an Johann Kresniks Figurenkonstellationen denken, in denen oft weniger die unmittelbare Handlung als vielmehr eine tiefere Ausdrucksebene wiedergegeben wird. Hat Kresniks tänzerische Semiotik da in irgendeiner Weise Pate gestanden?

Christiane Lutz: Nicht bewusst. Aber sein Theater war von unheimlicher Kraft und Schönheit, darum ehrt mich Ihr Vergleich. Ich denke, es ist das Stück, das diese Zeichenhaftigkeit und Bildkraft einfordert.

klassik-begeistert: Zum blutigen Schluss wird Salome das abgeschlagene Haupt des Täufers nicht auf der sprichwörtlichen Silberschale präsentiert, sondern ihr in einem schwarzen Netz gereicht. Es gibt ja im Libretto die Granatapfel-Symbolik bzw. in der Lübecker Inszenierung die große Schale mit diesen Früchten auf der Tafel des Herodes, wovon Jochanaan eine teilt. Im Hohelied steht der Granatapfel für den Mund der Geliebten, ein Bild, das Salome aufgreift und auf Jochanaans Mund anwendet. Die Konnotation des Granatapfels im Alten Testament ist vielfältig, aber unbedingt positiv, wenn nicht sogar sakral. Ist das schwarze Geflecht nur ein Netzstrumpf Salomes oder lässt sie sich hier die von ihr begehrte, reife und nun abgehauene Frucht im hier dunklen Apfelsinennetz bringen?

Christiane Lutz: Im Tanz der Salome mit Herodes spielen ihre Netzstrümpfe eine große Rolle. Sie sind Teil der Verführung, aber auch der Verstrickung der beiden miteinander. Man weiß nicht, wer hier wen bindet. Wenn Herodias am Ende den abgeschlagenen Kopf Jochanaans in einem dieser Netzstrümpfe bringt, ist das Vieles: in Bezug auf Salome stellt es den Zusammenhang zwischen Tanz und Mordforderung her, in Bezug auf Herodias ist es ein Zurückerobern dieses erotischen Accessoires, in Bezug auf Herodes ein Rückschluss auf den mitvollzogenen Vatermord.

Liebe Frau Lutz, haben Sie herzlichen Dank für das anregende Gespräch!

Dr. Andreas Ströbl, 9. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Zum Nachlesen finden Sie hier einen Beitrag von Dr. Andreas Ströbl zur Aufführung vom 2. Dezember 2022:

In der Vorstellung am 2. Dezember 2022 übernahm Anton Keremidtchiev die Rolle des Täufers – sein Jochanaan ist deutlich nahbarer als der von Bo Skovhus. Keremidtchievs Interpretation ist geprägt durch eine wärmere Stimmfärbung und auch schauspielerisch scheint hier eine größere Gefährdung der asketischen Härte durch: Jochanaan wankt im tiefsten Inneren und muss sich spürbar anstrengen, um sich gegen die Verführungsversuche der 16-jährigen Prinzessin zu behaupten.

Die sang Evmorfia Metaxaki wiederum mit spielerischer Leichtigkeit und jungweiblicher Fülle; jegliche bei der Premiere zu Beginn ahnbare Vorsicht aus Respekt vor der Rolle war gewichen, um der ganzen Biestigkeit und zugleich Verletzlichkeit dieses Mädchens, das zu weit gegangen ist, überzeugenden Ausdruck zu verleihen.

Wolfgang Schwaninger als Herodes war, bei bei allen unangenehmen Facetten dieses Charakters, vor allem in seiner Unsicherheit und Ängstlichkeit vor der göttlichen Rache fast schon sympathisch. Das ist keine platte Darstellung eines reinen Machtmenschen, sondern gut inszenierte und gespielte Psychologie.

Wenn man so eine schöne Stimme wie Edna Prochnik hat, dann gehört schon etwas dazu, so hässlich zu singen, um der Herodias die entsprechenden miesen Züge zu verleihen. Durch Alkohol und Kokain versucht sie sich von der Gewissheit abzulenken, dass sie als Mutter versagt hat und ihre Tochter nur instrumentalisiert, um ihre Bosheit durchzusetzen.

Ein ganz großes „Buh!“ an diesem beeindruckenden Opernabend galt einem Teil des Publikums. War bei der Premiere kein Mucks zu hören, wurde ständig gehustet (sowas kann man sehr gut mit etwas Disziplin entweder unterdrücken oder leise tun) und als echter Störer lief ein verwirrter oder betrunkener Mann in der ersten oder zweiten Reihe mehrmals herum und quasselte laut, bis ihn seine weibliche Begleitung zum Ende hin aus dem Saal zerrte. Das störte empfindlich wichtige und sensible Momente und es fand sich offenbar niemand in der Nähe dieses Menschen, der ihn mit entsprechender Autorität schon vorher aus dem Theater hätte komplimentieren können.

Eine halbe Busladung von Besuchern konnte den zu Recht begeisterten Schlussapplaus nicht abwarten und musste in hektischer Unhöflichkeit durch die Reihen stapfen. Das hat diese Produktion nicht verdient.

Ein geneigteres Publikum hat die Möglichkeit, am 12. Januar2023 , am 12. und am 25. Februar 2023 diese sehenswerte „Salome“ zu erleben.

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Salome, Oper von Richard Strauss Theater Lübeck, Musiktheater, 18. November 2022 Premiere

Salome, Richard Strauss, Premiere am 18. November 2022 Theater Lübeck, 8. November 2022

Richard Strauss, Salome Opéra national de Paris, 21. Oktober 2022

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