Das Wiener Publikum ist dankbar, darf sich dieser Tage äußerst glücklich schätzen, in dieser wunderbaren Stadt – der Musikhauptstadt dieses Planetens – beheimatet zu sein. Lautstarker Jubel samt Bravi.
Foto: © Werner Kmetitsch
Theater an der Wien, 18. Februar 2019
Felix Mendelssohn Bartholdy, Elias
von Jürgen Pathy
In Wien, do spüt die Musi! Dieser Tage intensiver, vielfältiger und besser als je zuvor. Da können die Nostalgiker noch so viel raunzen, ewig der guten alten Zeiten nachtrauern, und die Pessimisten der klassischen Musik noch so oft den Untergang prophezeien. Dieser Tage wird die Musikhauptstadt Wien ihres Beinamens mehr als nur gerecht: Startenor Piotr Beczala, Ildebrando D’Arcangelo und „Tenore di grazia“ Juan Diego Flórez reichen sich zurzeit die Klinke in die Hand.
Da lässt sich das kleine, aber feine Theater an der Wien nicht lumpen. Edelbariton Christian Gerhaher, 50, einer der größten seiner Zunft, lässt als Prophet „Elias“ das Volk, das Publikum und die unweit entfernten Ringstraßen-Giganten in Ehrfurcht erzittern – und gleichsam dahinschmelzen. Besser kann diese zentrale Figur des Mendelssohn‘ schen Oratoriums nicht besetzt werden. Diese paradoxe Figur, einerseits mit engelsgleichen Absichten, anderseits der Gewalt nicht abgewandt, schreit geradezu nach einer baritonalen Stimme mit Hang zur tenoralen Reinheit. Dürstet nach Christian Gerhaher, wie das Volk Israels nach einem Tropfen Wasser.
Sein unverwechselbares Timbre und eine Gesangskunst, die Dynamik, Agogik und Intonation in Perfektion vereint, haben den bayerischen Bariton längst schon unsterblich werden lassen. Da kann er als Elias mit noch so schizophrenem Blick mit der Selbstentzündung kokettieren. Als Alleskönner vor dem Herren, dem billige Effekthascherei real ein Dorn im Auge ist, hat sich Gerhaher längst einen Platz in den Annalen der Kunst gesichert. Er, der sein Vibrato dezent und gezielt einzusetzen weiß, der all seine Partien mit größter intellektueller Sorgfalt einstudiert, beweist auch in dieser Rolle, dass er im Moment kaum zu ersetzen ist! Möge seine lädierte Hüfte alsbald genesen.
Ebenso sorgfältig agieren Jukka-Pekka Saraste, 62, und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien. „Generell wenig Vibrato, um Wichtiges musikalisch mehr zu pointieren“, lautet die Devise des finnischen Dirigenten, der behutsam, differenziert und farbenreich durch das Oratorium führt. Opium für das Volk! Nicht nur für das barbarische auf der Bühne, das wie im Rausch die symbolischen Insignien des Christentums – eine Kirche aus Pappkarton – verspeist, auch für das zahlreich erschienene Publikum im Theater an der Wien. Aus dem Orchestergraben strömt ein verführerischer Duft, dessen sich alle Wagnerianer nicht entziehen können dürften. Mag Mendelssohn noch so reaktionär gewesen sein, stieß er doch die Türen weit auf für den Opernerneuerer Richard Wagner.
Lautstarke, mitreißende Ekstase, durchzogen von kammermusikalischer Noblesse, einer Kinderszene und einer ostinierenden Melodie der Streicher sind bereits Vorboten zur „Walküre“, zum „Parsifal“, zum Rhein-Natur-Motiv des „Rings“ und insbesondere zur gesamten Musiksprache des „Lohengrin“. Herrlich in welcher Perfektion das ORF Radio-Symphonieorchester Wien dieses verführerische Gift versprüht, welches das Publikum in einen tranceähnlichen Zustand versetzt. Selten herrscht so viel erlösende Stille, Ruhe in einem Opernhaus – und zwar im Publikum!
All dem verpasst der spanische „Skandal-Regisseur“ Calixto Bieito einen zeitgenössischen Anstrich, verlegt in seiner Inszenierung die Geschichte des biblischen Propheten und dessen Widersacher in die heutige Zeit. Regt die Fantasie an, spiegelt Tagespolitisches wider und fordert in einer Zeit, in der wieder viele falsche Propheten durch die Lande ziehen, einen kritischen Blick auf unsere Welt.
Beeindruckende Bilder pflastern Elias‘ missionarische Reise. Der großartige Maximilian Schmitt als Obadajah, der dem abtrünnigen Volke Israels den rechten Weg zu Jahwe bietet, schleppt symbolisch eine Karton-Kirche auf die Bühne. Blutrünstige Barbaren zerfetzen und zerfleischen sie – dargeboten vom Arnold-Schönberg Chor, der darstellerisch und gesanglich Exorbitantes leistet, und ein weiteres Mal dessen Weltklasse-Rang zu unterstreichen vermag!
Dramatisch, lyrisch & beeindruckend die schwedische Sopranistin Maria Bengtsson als Witwe. Solide die estnische Mezzosopranistin Kai Rüütel als Todesengel, und sagenhaft Ann-Beth Solvang als hetzerische Königin. Als Seraph ausgesprochen unterhaltsam und glaubwürdig Carolina Lippo, deren Darstellung einer Wahnsinnigen dem genialen Jack Nicholson im Horror-Klassiker „Shining“ Paroli bieten könnte.
Genauso könnte man das Haar in der Suppe suchen – und finden. Belassen wir’s dabei, geben wir dem oberschlauen Beckmesser, dem Pedanten in mir keine Chance. Das Wiener Publikum ist dankbar, darf sich dieser Tage äußerst glücklich schätzen, in dieser wunderbaren Stadt – der Musikhauptstadt dieses Planetens – beheimatet zu sein. Lautstarker Jubel samt Bravi. Großes Kino, große Musik, großer Abend!
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 19. Februar 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jukka-Pekka Saraste, Musikalische Leitung
Calixto Bieito, Inszenierung
Rebecca Ringst, Bühne
Ingo Krügler, Kostüme
Michael Bauer, Licht
Sarah Derendinger, Videodesign
Bettina Auer, Dramaturgie
Christian Gerhaher, Elias
Maria Bengtsson, Witwe
Kai Rüütel, Engel
Maximilian Schmitt, Obadjah
Ann-Beth Solvang, Königin
Carolina Lippo, Seraph
Florian Köfler, Verlorener
Anna Marshania, Wartende
Michael J. Scott, Ahab
Wiener Sängerknabe, Knabe
Antonio Gonzales (Mitglied des Arnold Schoenberg Chores), Suchender
Marcell Krokovay (Mitglied des Arnold Schoenberg Chores), Bittender
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)
Kein „Kommentar“, nur Dank – für Kritiken dieser Art (mögen sie letztlich dann meinem subjekiven Eindruck entsprechen oder auch nicht). Ich hatte die Wahl zwischen der ersten und der letzten Aufführung, habe mich für die letzte entschieden – welches Glück!- Ich glaubte, „Elias“ so halbwegs(??) zu kennen, habe die Direktübertragung gehört (und die CD davon), und weiß jetzt, wieviel ich – nicht wusste. Zum Glück bleiben mir noch ein paar Tage, den Text zu studieren, die CD anzuhören, ein Buch zu lesen, und – gespannt zu sein.- Das war’s…
Rotraut Mildschuh