Auf den Punkt 55: Clein’scher Bach und Sylter Wolken – himmlisch!

Festivalausklang Kammermusikfest Sylt  Friesenkapelle, Wenningstedt, Sylt, 22. April 2025

Rotes Kliff Kampen © Jörn Schmidt

Programmmusik folgt einem außermusikalischen Programm. Einem Gedicht vielleicht. Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht vertont ein Gedicht von Richard Dehmel und gilt damit als erste kammermusikalische Programmmusik. Der Gegenbegriff zur Programmmusik ist Absolute Musik, die allein ihren eigenen musikalischen Gesetzen folgt. Johann Sebastian Bachs Suiten für Violoncello qualifizieren als Absolute Musik. Aber wer in den dramatischen Sylter Wolken Figuren zu erkennen vermag… dem eröffnen auch die Solosuiten außermusikalische Welten.

Festivalausklang Kammermusikfest Sylt

Johann Sebastian Bach / Suiten für Violoncello solo 2, 4 & 6

Natalie Clein / Cello

Friesenkapelle, Wenningstedt, Sylt, 22. April 2025

von Jörn Schmidt

Jan Vogler gab letztes Jahr zusammen mit Amanda Gorman einen Bach-Abend in der Carnegie Hall, die junge amerikanische Poetin hat drei Cello-Suiten mit ihren Gedichten begleitet. Das hat wunderbar funktioniert. Lesen Sie zum Thema Bach-Pairing bitte mein Interview mit Jan Vogler hier bei klassik-begeistert.

Mich hat interessiert, wie andere Künstler das sehen. Die 13. Edition des Kammermusikfests Sylt bot die perfekte Gelegenheit. Natalie Clein gestaltetet den Festivalausklang mit den Suiten BWV 1008, BWV 1010 und BWV 1012.

Natalie Clein © Michael Staab

Die britische Cellistin konzertiert regelmäßig in bedeutenden Konzerthäusern und mit namhaften Orchestern weltweit. Als Professorin am Royal College of Music London und an der Hochschule für Musik und Theater Rostock gibt Clein ihr Können und Wissen weiter.

Wie der Cellist Claude Frochaux, der künstlerische Leiter des Kammermusikfest Sylt, leitet Clein ihr eigenes Kammermusikfestival, das Purbeck International Chamber Music Festival. Eine achtbare Karriere.

Heute war Clein in der Wenningstedter Friesenkapelle zu Gast. Pastor Rainer Chinnow hat aus dem Gotteshaus einen guten Ort für Musik gemacht. Mit regelmäßigen Veranstaltungen. Der   Gospelchor Island Voices hat dort seine Heimat.

Auch Jo Bohnsack hat hier, in der kleinen Kirche am Wenningstedter Dorfteich, viele Male seinen unverwechselbaren Boogie-Woogie in die Tasten hämmern dürfen. Ein Nachruf auf Jo finden Sie übrigens ebenfalls hier bei klassik-begeistert.

Im Vorfeld des mittäglichen Abschlusskonzerts habe ich die umtriebige Cellistin gebeten, den Suiten außermusikalische Überschriften zuzuordnen. Damit hat Clein zugleich die Dramaturgie ihres Auftritts offengelegt:

BWV 1008 – Tod und Trauer: Für mich ist Suite Nr. 2 die tragischste von allen, eine Auseinandersetzung mit Trauer in allen Facetten. Die Komposition könnte chronologisch mit dem Tod von Bachs erster Frau zusammenfallen.

BWV 1010 – Chaos und Ordnung: Suite Nr. 4 ist die mystischste und rätselhafteste aller Suiten. Die Tonart und ihre Modulation bergen so viele Geheimnisse. Für mich ist sie ein Dialog zwischen Chaos und Ordnung.

BWV 1012 – Himmlische Freude: Der helle, trompetenartige Glanz von D-Dur in all seiner Brillanz prägt Suite Nr. 6. Erleben Sie himmlische Freude.“

Natalie Clein © Michael-Staab

Um diesen Spannungsbogen umzusetzen, bedarf es einer höchst sauberen Technik und einer stupenden Klangfarben-Bandbreite. Um jede Schattierung des menschlichen Daseins hörbar zu machen. Trauer, Glaube und Fröhlichkeit natürlich.  Außerdem Zärtlichkeit und Milde. Aber auch Nervosität, Wut und Abgebrühtheit.

All das vermag Clein ihrem geliebten Simpson Guadagnini-Cello von 1777 zu entlocken. Es gelang ein energisch-kraftvoller, zugleich farbenprächtiger und warm-graziöser Bach-Klang. Ich habe alles herausgehört, was Natalie Clein mir in den Block diktiert hat…

Natalie Clein © Michael Staab

…aber vielleicht ist es damit ein Stück weit wie mit einem guten Rotwein. Wenn ich weiß, dass ein Bordeaux-Cuvée aus Italien im Glas ist. Dann kann ich Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc und Merlot herausschmecken und beschreiben. Aber bei einer Blindverkostung?

Da habe ich plötzlich ganz andere Assoziationen. Genau das macht desgleichen Musik als ephemere Kunst so faszinierend. Jede einzelne Note muss aus dem Nichts zum Klingen gebracht werden. Dabei stets vertraut aber immer wieder frisch. Wie die himmlisch schönen Sylter Wolken. Oder eben Clein’scher Bach.

Jörn Schmidt, 22. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Interview: Jan Vogler, Cellist – Teil 1 klassik-begeistert.de, 16. Februar 2025

Interview: Jan Vogler, Cellist – Teil 2 klassik-begeistert.de, 17. Februar 2025

Interview: Jan Vogler, Cellist – Teil 3 klassik-begeistert.de, 18. Februar 2025

Interview: kb im Gespräch mit Claude Frochaux, Cellist Kammermusikfest Sylt vom 17. bis 22. April 2025

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