Francis Poulenc, DIALOGUES DES CARMÉLITES
Hamburgische Staatsoper, 2. Mai 2017
GASTBEITRAG von Dr. Harald Lacina
Neben „Les mamelles de Tirésias“ (1947) und „La voix humaine“ (1959) gehören die „Dialogues des Carmélites“ zu den einzigen Opern, die Francis Poulenc (1899-1963) komponiert hat. Die Oper war ein Auftragswerk der Mailänder Scala und wurde dort in italienischer Sprache unter dem Titel „Dialoghi delle Carmelitane“ am 26. Januar 1957 uraufgeführt.
Die Vorlage zu dieser abendfüllenden Oper in drei Akten und zwölf Bildern lieferte die Briefnovelle „Die Letzte am Schafott“ von Freiin Gertrud von le Fort (1876-1971) aus dem Jahr 1931. Sie verwertete darin eine historische Begebenheit, bei der in den Wirren der französischen Revolution 16 Karmeliterinnen des Konvents von Compiègne, nahe bei Paris, am 17. Juli 1794 hingerichtet wurden.
Frei erfunden aber hat sie die Figur der adeligen Blanche de la Force, die, von Panikattacken gepeinigt, in die klösterliche Abgeschiedenheit flieht, genährt von der trügerischen Hoffnung, dort ihre Ängste überwinden zu können. In den Gesprächen mit ihren Mitschwestern erfährt sie eine religiöse innere Stärkung, ihre Ängste bleiben jedoch bestehen. Als das Revolutionstribunal den Nonnen die Ausübung ihrer Ordensregeln verbietet, beschließen alle ihr Leben dem Märtyrertod zu weihen.
Nur Blanche flieht aus Todesangst. Die Ergebenheit ihrer Mitschwestern ins Martyrium befreit sie schließlich aus ihrer lähmenden Todesangst und sie folgt den Schwestern bereitwillig auf das Blutgerüst. Georges Bernanos (1888-1948) schuf auf der Grundlage dieser Novelle zunächst ein Filmdrehbuch, das Poulenc gemeinsam mit Emmet Lavery (1902-86) für seine Oper adaptierte. Noch vor Poulencs Werk thematisierten bereits einige andere Komponisten das Thema der französischen Revolution. So etwa Umberto Giordanos „Andrea Chénier“ (1896), Pietro Mascagnis „Il piccolo Marat“ (1921) und Gottfried von Einems „Dantons Tod“ (1947). Aber auch Opern, die im klösterlichen Milieu spielen, waren Poulencs Meisterwerk vorangegangen, etwa Giacomo Puccinis „Suor Angelica“ (1917), Paul Hindemiths „Sancta Susanna“ (1922) oder Sergei Prokofjews „Der feurige Engel“ (1954).
Die Inszenierung in Hamburg stammt von Nikolaus Lehnhoff aus dem Jahr 2003 und hat seither nichts an ihrem optischen wie szenischen Reiz verloren. Klar strukturiert ist das Bühnenbild von Raimund Bauer, das einen zum Orchester hin offenen Raum zeigt, der von hohen Wänden begrenzt wird. Diese bestehen aus schwarzen Säulen, zwischen denen Rollos hinauf und hinunter gelassen werden können und dadurch den Eindruck von Auf- und Abtritten, Türen und Fenstern erwecken. Gleichzeitig wirkt dieser Raum aber auch wie ein Gefängnis, in dem die Nonnen zurückgezogen leben.
Im Schlusstableau wird dieser Raum durch eine weitere Wand, ähnlich einem überdimensionierten Käfig, abgegrenzt. Und die Nonnen schreiten zu der an dieser Stelle besonders meditativen Musik Poulencs, zum „Salve Regina, mater misericordiae, vita, dulcedo et spes nostra, salve…“ singend, ihrem Ende entgegen, wobei ihr Chor immer schwächer wird, bis Blanche dann die letzten Worte nur noch ganz zart anstimmt. Diese Szene ähnelt in ihrer suggestiven Wirkung etwas Maurice Ravels Boléro (1928), allerdings mit dem einen wesentlichen Unterschied, dass bei Ravel das eingängige Thema langsam anschwillt bis zum furiosen Finale und bei Poulenc genau umgekehrt der Chor der Nonnen immer um eine reduziert wird, bis das Thema mit der letzten Nonne, Blanche de l’Agonie-du-Christ, sanft verklingt.
Die Kostüme der Nonnen, entworfen von Andrea Schmidt-Futterer, sind naturgemäß einheitlich und erlauben, abgesehen von den beiden zu Beginn der Oper noch weiß gekleideten Novizinnen Blanche und Constance, keine optische Individualisierung. Die Schergen der französischen Revolution erinnern an die Besatzungskräfte der deutschen Invasoren in Frankreich während des zweiten Weltkriegs, ein vom Regisseur offenbar beabsichtigter Verweis, der aber nicht der Intention Poulencs entsprach. Olaf Freese hat die einzelnen Szenen durch Projektion von blauem Licht auf einen kaum sichtbaren Vorhang voneinander optisch abgehoben. Eberhard Friedrich hat den Chor der Staatsoper Hamburg bestens einstudiert.
Im Zentrum der Handlung steht die frei erfundene Figur der Sœur Blanche de l’Agonie-du-Christ, die von der in Seoul geborenen Sopranistin Ha Young Lee, seit 2005 Ensemblemitglied der Hamburgischen Staatsoper, äußerst sensibel und zerbrechlich dargestellt wurde. Eindrucksvoll gelangen ihr die Panikattacken, die sie im Wechselspiel aus ständiger Todesangst und irrationaler Lebensangst erleidet. Auch gesanglich ließ sie bei klarer Diktion auch in den oberen Registern keine Wünsche offen. Ihre Gegenspielerin ist die lebensfrohe und lustige Sœur Constance de Saint-Denis, die von Christina Gansch mit glockenhellem, dahinperlendem Sopran überzeugend dargeboten wurde.
Die Rolle der todkranken Priorin Mme de Croissy, deren fester Glaube zu schwinden droht als sie sich zum Schrecken der Mitschwestern als unfähig erweist, ihr qualvolles Sterben zu akzeptieren, gestaltete Doris Soffel auf erschütternde Weise. Nach ihrem Tod erhofft sich die hochadelige Unterpriorin, Mère Marie de l’Incarnation, gesungen von Katja Pieweck, die Leitung des Klosters. Sie zeigte den starken, verhärteten Charakter dieser von Natur aus weniger sympathischen Nonne beeindruckend auf – aber nicht sie, sondern die schlichte Mme Lidoine, gesungen von Emma Bell, wird zur neuen Priorin der Karmeliterinnen gewählt.
Als Mère Jeanne und Sœur Mathilde ergänzten Heike Grötzinger und Susanne Bohl rollengerecht. Den Marquis de la Force, den Vater von Blanche, gab zu Beginn der Oper in einem Lehnstuhl thronend Marc Barrard väterlich und patriarchal zugleich. Seinen Sohn, den Chevalier de la Force, gestaltete der turkmenische Tenor Dovlet Nurgeldiyev besonders eindringlich. Der Beichtvater war in der Kehle von Jürgen Sacher, der diese Rolle 2011 auch am Theater an der Wien gesungen hatte, gut aufgehoben. Den Kerkermeister gab Roger Smeets, den ersten und zweiten Commisaire zufriedenstellend Sergei Ababkin und Alin Anca. Peter Veit war noch ein resoluter Diener Thierry und Doojong Kim der Arzt Monsieur Javelinot. Ines Krebs verlieh ihre Stimme der voix d’une femme.
Der Dirigent Stefan Blunier, der für den erkrankten Kent Nagano eingesprungen war, verhalf der gleißenden Partitur von Francis Poulenc gemeinsam mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zu einer in musikalischer Hinsicht äußerst beachtenswerten Umsetzung. Die suggestive Musik Poulencs in ihrer mehr oder weniger freien Tonalität vermag auch heute noch gerade deshalb zu fesseln und zu begeistern, weil sie sich der Avantgarde zur Zeit ihrer Entstehung entzog. Von der Produktion in Hamburg ist ein Mitschnitt auch auf dvd/Blue-ray erhältlich. Die Hamburger Oper war an diesem Abend nicht gerade gut besucht. Viele Plätze blieben leider leer. Das anwesende Publikum goutierte aber umso mehr mit heftigem Applaus die Darbietungen aller beteiligten Künstler.
Harald Lacina, 4. Mai 2017 für
klassik-begeistert.de