Frau Lange hört zu (16): Allegro con brio! Alles (k)eine Frage des Alters…

Frau Lange hört zu (16): Allegro con brio! Alles (k)eine Frage des Alters…

Die „gute alte Welt“ war nie gut. Glauben Sie mir. Ich habe Geschichte studiert. Mit heißem Bemühn. Doch wenn man vielen älteren Menschen – also Leuten meiner Altersgruppe – so zuhört, könnte man glauben: Seit dem Höhepunkt ihrer Geschmacksbildung, ihres Berufslebens sei nicht nur nichts Wesentliches nachgekommen, nein, es ginge tragisch bergab. Mit der Musik, der Sprache, mit allem. Wirklich? Schlag nach bei … Goethe …

von Gabriele Lange

„Das Leben gehört den Lebenden an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein.“

Johann Wolfgang von Goethe

Gegen Mitte, Ende der 70er war ich das erste Mal alt. Jedenfalls, wenn es nach meinem Urteil über Disco ging. Damals hörte ich zum Beispiel Deep Purple, Black Sabbath, Led Zeppelin, James Brown – und natürlich die Beatles. Eines Abends machte ich den Fernseher an und drei ungelenk in langen Kleidern turnende Damen sangen „Fly, Robin, fly“. Es gab noch genau eine zweite Zeile Text. Was es mit dem offenkundig flugfaulen Rotkehlchen (oder war Batmans junger Freund gemeint?) auf sich hatte, erschloss sich mir dennoch nicht. Ebenso wenig verstand ich, wieso alle von diesem pomadigen, dümmlichen Vorstadtmacho Travolta so begeistert waren. Die Musik der falsettierenden Bee Gees war für mich ein musikalischer Untergang des Abendlandes. Disco hatte einfach schlecht bei schwarzen Musikern wie James Brown oder Sly and the Family Stone geklaut und dabei alles verdaulich versimpelt.

Naja – heute muss ich beim Gemüseschnippeln gelegentlich aufpassen, dass ich mir nicht in die Finger schneide, wenn ich vergnügt „Stayin‘ alive“ mitkreische. Dafür mache ich mich mit Enthusiasmus über den „Jammerlappen-Pop“ der Jungen lustig. Wenn ich nicht gerade über die Nostalgie der folgenden Generationen feixe.

Wenn wir ehrlich sind: Wir neigen dazu, Vertrautes hoch zu schätzen – und Veränderungen mit Misstrauen zu begegnen. Ja, Neues ist nicht selten qualitativ schlechter. Heute wird Musik häufig nach Marketinggesichtspunkten in Modulbauweise zusammengeschustert. Handwerk wird weniger geschätzt als Kosteneffizienz, ältere Profis werden aussortiert und durch billige, kaum ausgebildete Einsteiger ersetzt. Da stimmen die Ergebnisse oft nicht. Bei Texten wie bei der Einbauküche.

In Zeiten raschen Wandels kann Erfahrung dein schlimmster Feind sein.“

Martin Luther King

Aber es ist wenig klug – ja schädlich – sich auf den Standpunkt zu stellen: Ich bin gut in dem, was ich mache, was ich kenne, was ich verstehe. Ich habe das einmal so gelernt. Das gilt jetzt für alle Zeiten so. Und wer das anders sieht, macht was falsch. Fordert eine neue Situation eine Verhaltensänderung, wird das für unzumutbar erklärt. Ob man nun mit dem Rauchen aufhören soll, abnehmen – oder eine Maske tragen und auf Gewohnheiten verzichten, um Menschenleben zu schützen. Die Bedrohung durch Covid 19 ist für manche Leute deshalb primär eine Bedrohung ihres Egos.

Diese Haltung ist irgendwie verständlich. Veränderung entwertet, was ich sicher zu wissen glaube. Wer nicht auf seine Kraft und Fähigkeiten vertraut, auch den nächsten Wandel durchzustehen, wehrt sich und erklärt das Neue gern pauschal für schlecht, für minderwertig, für dumm. So lässt sich am einfachsten die Illusion aufrechterhalten, nach wie vor eine Autorität zu sein, in Sicherheit zu leben. Das reicht, um am Stammtisch, auf Facebook oder anderswo Beifall von Gleichgesinnten bzw. ebenfalls Betroffenen zu kassieren. Manche zelebrieren sogar erfolgreich ihre abgestandenen Vorurteile und geistige Unbeweglichkeit als „Comedy“ oder „Satire“ – zum Beispiel die sehr früh gealterten Dieter Nuhr und Lisa Fitz.

„Der Alte verliert eines der größten Menschenrechte: Er wird nicht mehr von seinesgleichen beurteilt. “

Johann Wolfgang von Goethe

Wer sich allerdings in anderen Berufen so verhält, wird bald durch flexiblere, meist jüngere Kräfte ersetzt. Und mit was? Mit Recht. Ich verdiene mein Geld mit Schreiben und habe meinen Job ein paarmal frisch lernen müssen. Manchmal mit Vergnügen. Etwa, als ich endlich den umständlichen wissenschaftlichen durch einen verständlicheren Stil ersetzen durfte. Manchmal aber auch laut fluchend und mit inneren Kämpfen.

Das war der Fall, als ich um die Jahrtausendwende die verhasste Rechtschreibreform nicht nur umsetzen, sondern auch noch eine ganze Redaktion darauf einschwören musste. So vieles an diesen Regeln war unlogisch – ich konnte Stunden, ja Tage erklären, wie beknackt das alles war. Der Abgesandte der Duden-Redaktion, der uns die Reform erläutern sollte, dürfte nach seinem Besuch bei uns mehrere Halbe Augustiner gebraucht haben, bis es ihm wieder besser ging. So sehr hatten wir Textredakteure dem armen Mann zugesetzt. Dann aber zogen wir die Chose durch. Und irgendwann war’s uns vertraut. Inzwischen fange ich sogar an, in bestimmten Umfeldern (bislang nicht hier) geschlechtergerechte Sprache einzusetzen (zuvor hatte beim inneren Disput regelmäßig die Texterin über die Feministin gesiegt). Warum? Weil’s nötig ist.

„Wenn du dir Feinde machen willst, versuche etwas zu ändern.“

Woodrow Wilson

Wenn ich ehrlich bin: Sprache ist nie vollständig logisch. Nicht mal Latein. Sie entwickelt sich, sie lebt, die Menschen machen mit ihr, was ihnen eben passt. Die Wörterbücher und Regelwerke ziehen nach und versuchen, die unordentliche Realität soweit zu strukturieren, dass wir uns weiterhin ohne allzu große Missverständnisse verständigen können. Wer sich da stur an alte „Gewissheiten“ klammert, rutscht genauso in den staubigen Archivkeller ab, wie eine Buchhalterin, die keine Lust auf Excel hat, der Minister, der Windräder für gefährlicher als Atomkraftwerke hält, der alte Informatiker, der auf seinem Smartphone nicht mal WhatsApp nutzt, und die Musiklehrerin, die weder von Spotify noch von Ed Sheeran gehört hat.

Unbestritten ist es wichtig, das Alte, Hergebrachte zu kennen. Sonst kann man das Neue weder würdigen, noch verstehen. Aber wer seinen Blickwinkel darauf beschränkt, ist nicht schlau. Sondern gefangen in einer immer enger werdenden Welt. Mein Mann, der sich (zu meiner großen Freude) eine nahezu kindliche Neugier bewahrt hat, fällt ein trauriges Urteil über viele seiner Altersgenossen: „Männer sterben eigentlich nicht an irgendeiner Krankheit, sondern an verhärtetem Herzen.“

Wer aufhört, Neues zu entdecken, wer nicht mehr bereit ist, Hör-, Lese-, Sehgewohnheiten zu brechen, wer das einmal Gelernte absolut setzt und von der Welt erwartet, dass sie stehen bleibt, verpasst so viel. Und strandet schlimmstenfalls bei Typen wie André Rieu und Florian Silbereisen, die einem mit trainiertem Erbschleicher-Charme vorgaukeln, dass alles beim Alten sei. Dabei ist das, was sie präsentieren, nur ein fader Altersheimbrei, ein ungewürzter Tütensuppen-Aufguss dessen, was ihr Publikum vor 30, 40, 50 Jahren einmal begeistert hat

„Es gibt nichts Dauerhaftes außer der Veränderung“

Heraklit

Neues zu entdecken macht doch glücklich! Musik, Länder, Geschmacksnuancen, Sprachbilder … Und wenn es einen erstmal durchzuckt, weil etwas komplett ungewohnt ist? Umso besser. Das macht wach.

Man kann sich in die verschwurbelten Sprachwelten von FAZ und NZZ reinkuscheln und sich in seiner überlegenen Bildung bestätigt fühlen – denn die Sätze hier sind ohne Deutsch-Leistungskurs nur mit Mühe zu bewältigen. Dann findet man bloß nie raus, mit welcher Sprachgewalt und Rasanz etwa Margarete Stokowski ihre Kolumnen schreibt und wie klug der Youtuber Rezo argumentiert und wird nie einen anständigen Twitter-Post zustande bringen. Denn da ist bei 280 Zeichen Schluss. Selbst wenn man noch drei schlaue Nebensätze in Petto hätte.

„Wer lange glücklich sein will, muss sich oft verändern.“

Konfuzius

Ja, Mozart dürfte wirklich ein unerträglicher Rokoko-Punk gewesen sein. Beethoven ungebührlich leidenschaftlich, Wagner ein selbstverliebtes selbsternanntes Genie mit unverschämten Ansprüchen. Und seine Musik! Sowas hatte man ja noch nicht gehört. Als Nijinsky zu Debussys „L’Après midi d’un Faune“ und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ tanzte, ging für manche das Abendland gleich zweimal unter. Musikalisch und moralisch.

„Wer aufhört zu lernen, ist alt, er mag 20 oder 80 sein.“

Henry Ford

Wenn man etwas mit offenen Sinnen ausprobiert hat, kann man es immer noch doof finden. Aber erst dann. Nach drei Tests weiß ich: Weder Kutteln noch Austern sind etwas für mich. Ich habe mich gründlich durch Thomas Manns Doktor Faustus gequält. Und durch viele, viele Seiten Arno Schmidt. Es funkt einfach nicht, auch wenn ich die Qualität sehe. Nach einigen Wagner-Abenden weiß ich: Mit uns wird das nichts. Die längste Händel-Oper ist mir zu kurz, bei der kürzesten Wagner-Aufführung komme ich ins Zappeln wie eine Fünfjährige bei der langen Autofahrt zur Oma. Aber: Ein paar Jahre vor der Jahrtausendwende hielt ich Hip Hop im Wesentlichen für einfallslose Plagiatsmusik aufgeplusterter Typen mit Goldkettchen, die ohne die Ideen fremder Künstler nicht existieren würde. Puff Daddys Hit „Come with me“ wäre zum Beispiel nichts ohne das geniale Kashmir-Riff von Jimmy Page. Dann hörte ich Missy Elliot, Eminem und andere. Gab zu, dass ich auf dem Holzweg war. Und fand raus: Juhu! Es gab eine neue, aufregende Musikwelt zu entdecken. Ungehörte Rhythmen, komplex, raffiniert. Mit Texten, die manchmal so wild und expressiv waren, dass ich mich gelegentlich an den frühen Gottfried Benn erinnert fühlte.

Als ich mich vor kurzem durch die depressive Welt des aktuellen Pop klickte, verliebte ich mich in die ehrlich traurige Billie Eilish. Allerdings erst, nachdem mir ihr bewusst leiser, gehauchter Gesangsstil ein paarmal gehörig auf die Nerven gegangen war. Doch, ja – auch weiterhin ist nicht alles schlecht, was da an ungewohnt Neuem um die Ecke kommt…

Gabriele Lange, 22. Juni 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Frau Lange hört zu (15): Apfelstrudel für Kim Jong-un

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Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die Carmen führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr dagegen ein. Sie startete dann erst mal ein Geschichtsstudium. Die Magisterarbeit über soziale Leitbilder im Spielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu stören, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Als Textchefin in der Computerpresse erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets. Sie versuchte derweil, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die Computerpresse erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen später ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Lehrer-Kurs zum Thema Medienkompetenz. Musikalisch mag sie sich auch nicht festlegen. Die Liebe zur Klassik ist über die Jahre gewachsen. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt noch so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie (hoffentlich bald wieder) etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de .

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