Das schöne Geschlecht war in der Musikwelt nicht immer so präsent wie heute. Von Frauen komponierte Musik existiert weitaus länger als Frauenfußball oder Frauenparkplätze. Jedoch sprach man kaum über sie – es sei denn, dass sie die Kunst ihrer männlichen Zeitgenossen weit übertraf. In der Musikgeschichte gab es nicht nur Frauen, die sangen oder Pianoforte spielten; klassik-begeistert-Autorin Jolanta Łada-Zielke weckt sie aus ihrem Schattendasein: die Komponistinnen und Dirigentinnen, bedeutende weibliche Künstlerpersönlichkeiten, über die man zu Unrecht nichts oder zu wenig weiß. Sie präsentiert hervorragende Musikerinnen verschiedener Nationalitäten und Kulturen – aus Vergangenheit und Gegenwart. Höchste Zeit, dass Frauenklang ertönt!
von Jolanta Łada-Zielke
Auf den Fotos präsentiert sie sich als fröhliche Frau mit einem leichten Lächeln. Ihre Meisterwerke sind jedoch keineswegs heiter, wie der Präsident des Münchner Wagner-Verbands Karl Russwurm bemerkt, der die Komponistin in seinem Zoom-Vortrag am Samstag, den 10. April 2021, vorstellte. Lili Boulanger, die im Alter von 24 Jahren starb, hat zum einen in ihrem Leben viel geschafft, obwohl sie sehr kränklich war. „Ein kurzes Leben für ewige Kunst“, so lautete der Titel des Vortrags. Zum anderen war sie eine Frau, die in der Zeit des Fin de Siècle Karriere in einem Beruf machte, der als typisch männlich galt. Lili wurde Kompositionsstudentin am Conservatoire national de Paris, als der weibliche Anteil der Studierenden 40 Prozent betrug.
Ihr Vater war Ernest Boulanger (1815-1900), erfolgreicher Komponist und Cellist, der die Sängerin mit russischen Wurzeln Raissa Myszetskaja (1858–1935) heiratete. Ihre erste Tochter war Nadia (1887-1979), die eine berühmte Musikpädagogin, Komponistin und Dirigentin wurde. Lili kam 1893 als Marie-Juliette Olga Boulanger zur Welt. Nach ihrem frühen Tod bemühte sich Nadia darum, die Werke ihrer Schwester aufführen zu lassen.
Das erste Stück von Lili Boulanger, das wir hören, ist „Trois pièces pour violoncello et piano“ von Cheng Duo gespielt. Es erinnert mich ein bisschen an den „Schwan“ von Camille Saint–Saëns, mit etwas mehr Emotionalität und Dramatik. Meine Assoziierung mit Saint-Saëns ist nicht völlig unbegründet, da die Familie Boulanger zu Hause Musikabende organisierte, an denen auch der Schöpfer des „Karneval der Tiere“ teilnahm.
Lili war Multiinstrumentalistin, sie spielte Cello, Klavier, Orgel, Violine und Harfe. Ihr erster Lehrer war ihr eigener Vater Ernest. Nach seinem Tod studierte sie Komposition bei Gabriel Fauré, der bei ihr ein „immenses Talent“, unter anderem ein absolutes Gehör, feststellte. Mit 11 Jahren komponierte sie ihr erstes Stück, das Lied „Le lettre de mort“, für Sopran solo. Sie schrieb auch ein Vokalquartett „Le renouveaux“ als Hymne an den Frühling: ein angenehmes, fröhliches Stück, dessen Hauptthema in allen Stimmen bearbeitet wird. Die Struktur der Klavierbegleitung erinnert an Claude Debussy.
Eine große Inspiration für Lili war das Schaffen von Maurice Maeterlinck, insbesondere sein Drama „Prinzessin Maleine“. Die Komponistin identifizierte sich mit der Titelheldin. Aus dieser Geschichte entstand Lilis einzige Oper „La Princesse Maleine“, von der nur die Skizzen bis heute erhalten sind.
Lili Boulanger war die erste Frau, die den 1665 von König Ludwig XVI. gegründeten Grand Prix de Rome gewann. Auf diese Weise wurde ihre Kantate „Faust et Hélène“ für Tenor, Bariton, Mezzosopran und Orchester ausgezeichnet. Der Preis wurde zunächst in den Kategorien Malerei, Skulptur und Architektur, und ab 1803 auch im Bereich Musik vergeben. Vier Personen erreichten das Finale und mussten in der Klausur ein Werk komponieren. Über Lilis Sieg entschieden 31 Stimmen von 36 möglichen. Es ist hervorzuheben, dass die Juroren nur Männer waren und einige von ihnen frauenfeindlich gesinnt. Die Preisträger erhielten einen Aufenthalt in der Villa Medici in Rom und ein Stipendium. Diese Auszeichnung machte die junge Komponistin über Nacht auf der ganzen Welt berühmt.
Karl Russwurm hat uns ein Fragment der Kantate „Faust et Hélène“ präsentiert, die zu dem Poème von Eugène Adenis geschrieben und musikalisch von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ und „Parsifal“ inspiriert wurde. Einer der Zuhörer hat angemerkt, dass es dort wirklich „viele Wagner-Anklänge“ gibt. Wir hatten die Möglichkeit, gleichzeitig die Musiknotation zu verfolgen. Ich war beeindruckt von der außergewöhnlichen Sanftmut, weil es auch in der Partie von Mephisto viel Legato gibt. Die Partie von Helena umfasst zwei volle Oktaven, zumindest in dem uns vorgestellten Mitschnitt, von dem zweigestrichenen G oben bis zum kleinen G unten! Dies ist eigentlich das untere Register der Altstimme.
Eine weitere Inspiration war für die erfolgreiche junge Komponistin der Erste Weltkrieg und das Schicksal einfacher Soldaten. Ihr „Psaume 129“ für Chor (oder Bariton) und Orchester entstand im Jahre 1916. Das Werk, von dem wir 8 Minuten hören, spiegelt die Kriegsgrausamkeit voll und ganz wider. Der Männerchor singt im Einklang wie ehemalige Ritter, dann hören wir die Quinten-Parallelen wie im mittelalterlichen Organum auf Choralbasis. Im Orchester erklingen Pauken und Glocken, schließlich ertönt die Stimme eines Solisten. Der Text erwähnt den Tod von Soldaten auf christlichem Boden; ihre Herzen sehnen sich nach den grünen Hügeln, und der Körper bleibt auf der kalten Erde.
Beim Hören dieses Stückes habe ich mich gefragt, warum es so selten öffentlich gespielt wird. Immerhin klingt das wie die beste Filmmusik und wäre perfekt als Hintergrund für irgendwelche Kampfszenen. Karl Russwurm hofft, dass es einen Dirigenten oder Veranstalter geben wird, der Lili Boulangers Werke wieder aufführt. Als Antwort darauf lieferte einer der Zuhörer einen Link zu dem im Darmstädter Theater aufgenommenen Stück „Faust et Hélène“, das auch am 24. April zu sehen ist:
https://www.staatstheater-darmstadt.de/veranstaltungen/lucrezia-faust-et-helene.762/#event-4126
Eines der letzten Werke Lilis war „Vieille prière bouddhique“ für Tenor, Chor und Orchester. Das Stück drückt die Liebe zur Natur und zur Welt aus sowie einen Wunsch, dass sich alle Lebewesen auf ihre eigene Weise bewegen, Schmerzen überwinden und glücklich sein mögen. Man kann sagen, das ist typisch buddhistische Philosophie. Musikalisch ähnelt das Stück der vorherigen „Psaume“: es gibt dort einen Chor der Mönche, die a cappella oder in der Organum-Form singen.
In den Werdegängen berühmter Menschen, die vorzeitig gestorben sind, fällt eine wiederkehrende Tatsache auf: Sie alle haben in der kurzen Zeit ihres Lebens sehr viel erreicht. Man kann spekulieren, wie sich das weitere Schicksal von Lili Boulanger entwickelt hätte, aber es lohnt sich auf jeden Fall, etwas über sie zu wissen. Deshalb bin ich Karl Russwurm für diesen wertvollen, durch musikalische Beispiele unterstützten Vortrag sehr dankbar, der die künstlerische Entwicklung der Komponistin veranschaulicht hat.
Jolanta Łada-Zielke, 25. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
„Siegfried-Idyll“: ein Gedicht zu Wagners Symphonischer Dichtung (Ladas Klassikwelt 72)
Jolanta Łada-Zielke, 49, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.
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