Foto: Die Jüdin, Kiel (c) Olaf Struck
Opernhaus Kiel
Theater Kiel, 10. April 2022
DIE JÜDIN
Philharmonisches Orchester Kiel
Opernchor des Theaters Kiel
Daniel Carlberg Dirigent
Luise Kautz Inszenierung
von Dr. Andreas Ströbl
Die schlimmsten Lügen sind diejenigen, die die Lügner am Ende selbst glauben. Es sind auch die wirksamsten, weil sie mit großer Überzeugung an die weitergegeben werden, die vielleicht noch zweifeln. Sitzen die Lügner auf Machtpositionen, können ihre Lügen tödlich sein.
War „Die Jüdin“ von Fromental Halévy von 1835 ohnehin ein Fanal gegen den schon zur Entstehungszeit jahrhundertealten Antisemitismus, gewann diese frühe „grand opéra“ im 20. Jahrhundert entsetzliche Aktualität. Die wird in der Kieler Produktion mit feinster und zugleich klarster Theaterdidaktik noch gesteigert.
Wer hier Bertolt Brechts „Episches Theater“ assoziiert, liegt völlig richtig, denn die Inszenierung von Luise Kautz arbeitet mit Verfremdungseffekten, die in idealtypischer Weise aus einem angedeuteten Spätmittelalter über die Zeit des Faschismus direkt in die Jetztzeit führen. Die ganze Szenerie mit dem beweglichen Bühnenbild von Valentin Mattka belässt Hauswände, Architekturversatzstücke und Innenräume ganz bewusst als Kulissen, die fast tänzerisch hin- und hergeschoben werden und sich immer wieder neu formieren. Das schafft sowohl Offenheit und Dynamik als auch Intimität, je nach Bedarf und Handlung.
Die zieht sich über verschiedene Zeitebenen; das Konzil von Konstanz von 1414 bis 1418, auf dem der Reformator Jan Hus 1415 als Ketzer verbrannt wurde, obwohl ihm freies Geleit zugesichert worden war, ist zwar der zeitliche Hintergrund der Geschichte, aber die hat ihren Anfang Jahrzehnte zuvor. Im Herz des jüdischen Goldschmieds Eléazar brennt der Wunsch nach Rache am römischen Kardinal Brogni, denn dieser ist verantwortlich für die Hinrichtung von Eléazars Söhnen und die Verbannung aus Rom. Was der Kardinal nicht weiß: Während eines Brandes im Haus Brognis vor seinem Eintritt in den Kirchendienst hatte Eléazar das Kind seines Erzfeindes aus den Flammen gerettet und es als sein eigenes aufgezogen. Auch das Mädchen Rachel ahnt selbst nichts davon.
Zuerst verborgen ist auch die Identität des angeblichen jüdischen Malers Samuel, der in Wirklichkeit Reichsfürst Léopold ist, verheiratet mit der Nichte des Kaisers, der Prinzessin Eudoxie. Samuel/Léopold beginnt eine Affäre mit Rachel, die glaubt, dass sie und er Juden seien und eine glückliche Zukunft vor sich hätten.
Durch ein Geständnis des Inkognito-Fürsten und anschließend Rachels öffentliche Anschuldigung kommt die Wahrheit ans Licht. Die „Rassenschande“ bedeutet für Rachel, Eléazar und Léopold das Todesurteil, aber Eudoxie kann Rachel überzeugen, aus Liebe ihre Anschuldigung zu widerrufen. Dadurch wird die Strafe für den Fürsten in Verbannung gemildert, aber auf die Juden wartet die Hinrichtung. Eléazar übt schließlich seine Rache, indem er im Moment von Rachels Tod seinem Erzfeind offenbart, dass er soeben seine eigene Tochter hat töten lassen.
Diese grausame Geschichte ist durch die inszenatorischen Brechungen leichter zu ertragen, verliert aber nicht an Intensität. Entgegen einer möglichen naturalistischen Darstellung schaffen die Kulissen nie eine wirkliche Illusion, was auch durch die Mischung der Kostüme aus verschiedenen Zeiten unterstrichen wird. Die überschminkten Gesichter mit den roten Apfelbäckchen wirken zuerst etwas clownesk und man darf sich im ersten und zweiten Akt noch fragen, wie die Produktion die Kurve zum bösen Ernst bekommen würde. Dies geschieht einerseits, indem die Kostüme von Hannah Barbara Bachmann aus dem späten Mittelalter heraus über Trachten aus der Frühen Neuzeit immer weiter an die Moderne gerückt werden oder beispielsweise der tätowierte Oberkörper des vermeintlichen Samuel sichtbar wird. Der fünfte Akt – dies sei jetzt schon vorweggenommen – überrascht schließlich mit einem grandiosen Einfall.
Solisten, Chor und Orchester bieten eine großartige Gesamtleistung und – bei aller Dramatik – einen musikalischen Hochgenuss. Die Oper, deren Musik noch viel Rossini und Meyerbeer atmet, ist voller „Nummern“ wie die Werke von Bizet, Verdi oder Donizetti; auch hier brillieren damit die Solisten, liefern aber auch in den zahlreichen Duetten und vor allem Terzetten Glanzleistungen ab. Dazu kommt ein präsenter und exakt singender Chor (Einstudierung Gerald Krammer), alles zusammen mit dem kraftvollen Orchester unter dem Dirigat von Daniel Carlberg. Zumindest die Streicher wurden allerdings per Lautsprecher verstärkt – möglicherweise gab es hier Ausfälle.
Jüdische Elemente sucht man in dieser Musik vergebens, aber das sah der Zeitgeschmack der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts auch nicht vor. Das instrumentale Zwischenspiel im vierten Akt vor der bekannten Arie Eléazars, „Rachel, quand du Seigneur la grâce tutélaire“, vermittelt jedoch eine melancholische Klage, die etwas an eine Doina erinnert, die auch in der Klezmer-Musik erklingt.
Angélique Boudeville als Rachel erfüllt alles, was man sich von dieser Rolle wünschen kann: Sie ist ausdrucksstark, stimmgewaltig, voller echter Emotionalität und setzt jeden Ton mühe- und ansatzlos. Die Turnschuhe und das schlicht geschnittene Samtkleid machen sie als zeitlose Figur erkennbar. Ihr Ziehvater Eléazar ist Anton Rositskiy, dessen intensiver, vibratobetonter Gesang das Flehende und Aufbegehrende des gemobbten Goldschmieds unterstützt und zum Ende hin immer eindringlicher wird. Halévy – selbst Jude – hat diese Rolle nicht bar von Vorurteilen gelassen, denn Eléazars Wunsch, die Christen „übers Ohr zu hauen“ riecht deutlich nach antisemitischem Programm. Möglicherweise wollte er damit einer Kritik der Schwarz-Weiß-Malerei zuvorkommen. Übrigens war auch der Librettist der Oper, Eugène Scribe, jüdischer Herkunft.
Matteo Roma verkörpert den verdeckten Reichsfürsten als kräftiger Tenor auch in seiner inneren Zerrissenheit; man nimmt ihm ab, dass er es eigentlich ernst mit Rachel meinen möchte, aber wenn es darauf ankommt, knickt er dann doch ein. Seine Gattin Eudoxie gibt Mengqi Zhang und schafft mühelos den Spagat von zickig-hochadeliger Repräsentantin und verzweifelter Liebender.
Eine krankheitsbedingte Improvisation bewerkstelligten die Kieler am 10. April mit der Besetzung der Rolle des Kardinals Brogni, indem sie auf der Bühne den Statisten Denis Adutwum spielen ließen, während Yannick Spanier mit kräftigem Bass sang. Das tat er vom Blatt und man mag hier verzeihen, dass dies naturgemäß etwas statisch geriet – anders lässt sich so eine Stegreiflösung nicht realisieren.
Matteo Maria Ferretti gibt überzeugend den Schultheißen Ruggiero, gekonnt elegant-unsympathisch und ein echter Demagoge, wobei Uniform bzw. Anzug ihn in die Nähe eines Goebbels oder Höcke rücken. Auf plakativ-agitatorische Gestik verzichtet die Personenregie, die ist gar nicht notwendig. Vielmehr mag man an die Entgleisungen einer Leni Riefenstahl denken, die noch Jahrzehnte nach dem Dritten Reich von Reichspropagandaminister Goebbels als „Gentleman“ schwärmte.
Ohnehin sind all die Anspielungen in der Inszenierung subtil aber deutlich, wie die hellblauen Flugblätter, deren Farbe lediglich an die AfD erinnert. Auf den Bögen ist wie auf den umhergetragenen oder an die Wände geklebten Bannern des Mobs nur ein großes Ausrufezeichen erkennbar. Das heißt: Wir sind laut und das ohne jede inhaltliche Substanz.
Derbe geht es bei der widerwärtigen Biertaufe Eléazars zu, womit die besoffene Menge in ihrem Judenhass schonmal andeutet, wozu sie noch in der Lage ist, wenn das feige Individuum durch das Aufgehen in der Masse jede Hemmung fahrenlässt.
So etwas hat die Welt am 6. Januar 2021 erlebt, als eine von Agitator Trump angestachelte Pöbelmenge das Capitol in Washington erstürmte. Diesen antidemokratischen Auswuchs thematisieren die Kieler, indem sie die fackeltragende Menge im fünften Akt ganz klar in die Nähe von Nazis und US-Faschisten rücken. Angeführt wird die johlende Menge von einem halbnackten, wildgeschminkten Kerl mit seit dem Angriff auf das Herz der US-amerikanischen Demokratie wohlbekanntem Kopfputz aus Kojotenfell und Bisonhörnern – im Übrigen die absurde Aneignung eines Rechtsradikalen von Trachtbestandteilen der Urbevölkerung. Das ist die Spitze der Aktualität und der beste Einfall unter vielen sehr guten in dieser Produktion. Der Hinrichtungskopfschuss und Eléazars Rache beenden das Werk und man weiß leider nur allzugut, was alles noch folgt.
Es gab viel Szenenbeifall an diesem Abend und einen sehr herzlichen und langanhaltenden Schlussapplaus – völlig zu Recht.
P.S.: Der begeisterte und disziplinierte Teil des Publikums durfte sich ein erneutes Mal sehr wundern, dass viele im Saal nicht verstanden, wie man auf solche Kunst angemessen reagiert. Liebe Kieler in der Theaterleitung – vielleicht solltet Ihr es so machen wie in der Hamburger „Elphi“, wo per Lautsprecher vor den Konzerten nochmal ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass man BITTE seine Mobiltelephone ausschalten soll und man eben jedes Geräusch hört. In zwei Piano-Stellen dudelte jeweils ein anderes Handy mit nervigem Ton und die Besitzer waren nicht in der Lage, die Dinger sofort auszustellen. Die schriftliche Aufforderung auf der Übertitel-Tafel genügte offenbar nicht. Dazu wurde immer wieder laut in die Musik gequasselt und Bonbons mussten erst dann raschelnd ausgewickelt werden, als das Licht schon ausgegangen war und die Musik eingesetzt hatte. Wozu sind eigentlich die Pausen da?
Die nächsten drei Vorstellungen sind am 15., 17. und 24. April 2022.
Dr. Andreas Ströbl, 13. April 2022, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at
Leoš Janáček, JENUFA, Theater Bremen, Theater am Goetheplatz, 9. April 2022 PREMIERE
Benjamin Britten,The Turn of the Screw, Theater Lübeck, 11. März 2022 PREMIERE
5. Symphoniekonzert in der Musik- und Kongresshalle Lübeck, 7. Februar 2022