Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti als spannender Kriminalfall, Komplettmitschnitt der Neuproduktion der Staatsoper Hamburg, ins Netz gestellt am 30. April 2021
Foto: Lucia di Lammermoor an der Hamburgischen Staatsoper, dritter Akt, der Mord (Videostill YouTube, Ausschnitt)
von Dr. Ralf Wegner
Am 7. März sollte Lucia di Lammermoor in der Inszenierung von Amélie Niermeyer Premiere haben. Corona-bedingt wurde nichts daraus. Am Freitag stellte die Hamburgische Staatsoper einen Mitschnitt für Abonnenten ins Internet. Wenn es nicht einzelne musikalische Einschränkungen gegeben hätte, hätte ich hier meiner Begeisterung freien Lauf gelassen. Auf jeden Fall war es die beste und spannendste Lucia-Inszenierung, die ich bisher gesehen habe.
Alisa (Katja Pieweck) am Fenster (Videostill YouTube, Ausschnitt)
Das imposante Bühnenbild schuf Christian Schmidt: Das Innere einer über zwei Etagen reichenden, bereits weitgehend ausgeräumten und wohl kurz vor dem Verkauf stehenden neoklassizistischen Villa, links ein imposantes Treppenhaus, rechts unten Lord Enrico Ashtons Büro, darüber Lucias Schlafzimmer. Die Bühne reicht für die Breite des Bildes nicht aus. Deshalb kann das gesamte Bühnenbild nach rechts in die Seitenbühne gefahren werden, um eine Fensterfront frei zugeben. Wenn Alisa (Katja Pieweck), Lucias Kammerfrau, sich oben auf der Treppe an das Fenster stellt, erinnert das Bild an Gemälde des 1864 in Kopenhagen geborenen Vilhelm Hammershøi.
Der Hausherr (Christian Pohl) steht offenbar vor dem Verlust seines Besitzes und berät mit seinem Mitarbeiter Normanno (Daniel Kluge) und dem Geistlichen Raimondo Bidebent (Alexander Roslavets), wie dem abzuhelfen sei. Ein reicher Freier (Lord Arturo Bucklaw: Beomjin Kim) muss her und Lucia (Venera Gimadieva) auf den von ihr erwählten, offensichtlich eher dem halbkriminellen Milieu zuzurechnenden (er trägt in der Hosentasche stets eine Pistole) Edgardo di Ravenswood (Francesco Demuro) verzichten. Enrico zeigt Lucia einen gefälschten Brief, der Edgardo offenbar als Heiratsschwindler erscheinen lässt. Aber erst der Geistliche, also Raimondo, der mit Enrico im Bunde steht, überzeugt Lucia von Edgardos Untreue; sie willigt in die Heirat mit Arturo ein. Mit einem elektrisierenden Freudenschrei, der den Sieg über Lucia bezeugt, betritt Raimondo das Büro des erleichterten Hausherrn.
Francesco Demuro (Edgardo) und Venera Gimadieva (Lucia) im ersten Akt; Beomjin Kim (Arturo), Francesco Demuro (Edgardo), Verena Gimadieva (Lucia) und Katja Pieweck (Alisa) im zweiten Akt (Videostills, YouTube)
Während des Hochzeitszeremoniells erscheint Edgardo und bedrängt Lucia, die nicht mehr weiß, wie ihr geschieht. Stunden später steigt sie im Hochzeitskleid die Treppe zu ihrem Zimmer hoch, in dem sich schon Arturo befindet. Ihn angeblich in die Arme nehmend, sticht sie auf ihn ein, er flüchtet ins Bad, Lucia folgt, hebt wieder das Messer gegen ihn und vollendet ihr Werk an dem blutenden, auf ihr Bett gefallenen Arturo. Raimondo ist entsetzt, Enrico ebenso über seine Intrige an der Schwester, was ihn aber nicht davon abhält, diese in ihr Zimmer einzusperren. Am Ende wird im Erdgeschoss ein Sarg herausgetragen, Edgardo bleibt zurück, erschießt sich mit seiner Pistole, die immer noch eingesperrte Lucia bleibt geknebelt und gefesselt zurück, Vorhang.
Der Chor tritt nicht auf, gesungen wird offenbar aus dem Off. Die Regisseurin beschäftigt dafür Statisten: Männer mit hellen Masken als Hauspersonal (warum sind die angesichts der prekären Lage des Hausherrn noch nicht entlassen worden?) und eine weibliche Bewegungstanztruppe, die per Video auf die Innenwände der Villa eingespielt wird. Beide Gruppen beleben die Szene, ohne allerdings eine augenfällige Funktion zu haben. Funktion kommt allerdings Kinderdarstellern zu, das Geschwisterpaar Enrico und Lucia darstellend. Schon als Kind wurde Lucia vom Bruder gemaßregelt.
Lucia di Lammermoor, 3. Akt, Wahnsinnsszene (Videostill, YouTube)
Zum Musikalischen sind nur eingeschränkt Aussagen möglich. Mir schienen die Gesangsstimmen, offenbar aufnahmetechnisch bedingt, nicht besonders gut übertragen worden zu sein. Der Lautsprecher musste schon ziemlich aufgedreht werden, um die Stimmen im Vergleich mit dem Orchester gut hören zu können. Auch mögen die nachfolgend geschilderten gesanglichen Ausrutscher der technischen Übertragung geschuldet sein.
Dieses berücksichtigend sang der Bariton Christoph Pohl einen ausgezeichneten Enrico, ebenfalls überzeugte Alexander Roslavets als Geistlicher Raimondo. Beomjin Kim gefiel stimmlich in der eher kleinen Rolle des hingemetzelten Arturo. Francesco Demuro zeigte mehr Leidenschaft als Stimmschönheit, am Ende des Liebesduetts im ersten Akt brach ihm die Stimme weg – neben der gesanglich dominanteren Venera Gimadieva brachte er es nur noch zu einem gequetscht flach klingenden Schlusston. Gimadievas Lucia war stimmlich überzeugend, wenngleich ihr Forte am Ende der beiden Arien strahlender hätte sein können. Demuro hatte ich schon 2010 als Edgardo gehört. Auch damals konnte er nicht an die großen Vorbilder auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper wie Luciano Pavarotti (1971), José Carreras (1979-1981), Luis Lima (1987) oder Piotr Beczała (2010) heranreichen. Da Edgardo die letzten 10 Minuten der Oper maßgeblich bestreitet, wirkt sich seine Gesangsleistung natürlich erheblich auf den Gesamteindruck aus. Da er aber überzeugend spielte, kann man darüber hinwegsehen. Denn die Inszenierung war wirklich fabelhaft.
Dr. Ralf Wegner, 30. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Es ist immer wieder zumindest interessant, wie unterschiedlich Eindrücke sein können, Bewertungen ausfallen. Womöglich mag es dem triftigen Unterschied zwischen Kamera-Mitschnitt und Live-Produktion geschuldet sein, aber diese Lucia di Lammermoor-Neuinszenierung von Amélie Niermeyer in einem Bühnenbild von Christian Schmidt an der Staatsoper Hamburg war – um es gleich vorweg zu nehmen – weder die beste, noch spannendste, sondern vielmehr langweilig, unglaubwürdig und im Hinblick auf aktuelle #metoo-Debatten zumindest unzureichend.
Der coronabedingt publikumslosen Video-Premiere am 20. März diesen Jahres folgte am vergangenen Dienstag, also mit siebenmonatiger „Verspätung“ endlich die erste Aufführung vor einem, aufgrund der aktuell am Haus geltenden 3G-Regelungen, leider nur halbvollen Zuschauerraum und gestern (Samstag, d. 23.10.2021) die von mir besuchte „B-Premiere“.
Was dann mit der Videoprojektion einer Tanzperformance zu dem Gedicht „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) des chilenischen Performance-Kollektivs Las Tesis durchaus beeindruckend begann und einen kontroversen Abend versprach, verlor sich dann schnell in einem mehr oder weniger dekorativen Herumstehen. Weder kam es zwischen den Protagonisten äußerlich und innerlich zu plausiblen Interaktionen, noch fand Amélie Niermeyer mit ihrer Personenregie ein Konzept, welches prinzipiell über ein „Rampensingen“ hinausweisen konnte. Über den Abend am beweglichsten war da vielleicht noch Christian Schmidts dreigeteiltes Bühnenbild mir Fensterfront links, großer Saal/Eingangshalle in der Mitte und Arbeitszimmer/Schlafzimmer bzw. Brautgemach übereinander rechts. Da hier die gesamte Bühnenbreite nicht ausreichte, alle Räumlichkeiten gleichzeitig zu bespielen, wurde das Set fast andauernd hin und her verschoben, was man irgendwann durchaus auch als störend empfinden konnte.
Die Titelfigur wirkt in ihrem Business-Anzug durchgehend wie eine „taffe“ Geschäftsfrau, die man am Ende nur bremsen kann, indem man sie an das Brautbett kettet. Die Verzweiflung des Klerikalen Raimondo in seiner Arie No. 7 Scena ed Aria „Cedi, ah, cedi“, sein theatralisches Sich-auf-das-Brautbett-schmeißen gibt Cammaranos Libretto ebensowenig her, wie seinen anschließenden Triumphschrei, nachdem Lucia schließlich in die Hochzeit mit Bucklaw eingewilligt hat. Dafür scheint bei dem Familienoberhaupt Enrico Ashton, der am Ende ja wirklich verzweifelt sein sollte, kaum die Spur davon zu merken. Im Gegenteil, sein größter Widersacher ist tot, seine „anstrengende“ Schwester quasi „unter Kontrolle“ und eigentlich alles schick…
Die beiden Dreh- und Angelpunkte in Donizettis Lucia di Lammermoor – nicht nur in musikalischer Hinsicht – sind bekanntlich im zweiten Finale die No. 9 Scena e Quartetto „Chi raffrena il mio furore“ und kurz danach im dritten Akt Lucias Wahnsinnszene No. 14 Scena e Aria „Ardon gli incensi“ (hier durch eine Glasharmonika begleitet). Während der auch als Lucia-Sextett bezeichnete Ensemble-Satz naturgemäß als retardierendes Moment, wie zumeist, auch hier recht statisch ausfällt (dass es anders geht, hat z.B. Tatjana Gürbaca in Zürich mit ihrer Zeitlupen-Polonaise bewiesen), bleibt die Wahnsinnsszene durch das Hinab- und Hinaufschreiten einer Treppe im Wesentlichen uninszeniert. Was dabei aber viel schwerer wiegt, dass das Überschreiten einer Grenze zum Wahnsinn oder zumindest ein zeitweises Ver-rückt sein kaum dargestellt wird.
Dass der Zuschauer vor der Wahnsinnsszene gezeigt bekommt (oben-rechts im Bühnenbild), wie Lucia ihren Bräutigam ersticht und Raimondo sie dabei „erwischt“, ist etwa so überflüssig, wie der sprichwörtliche Kropf. Vielmehr lebt die anschließende Erzählung des Priesters No. 13 Gran Scena con Cori „Cessi, ah cessi quel contento“ gerade davon, sich die Bluttat im Geiste vorzustellen. Wirklich ärgerlich dann aber die Streichung der ersten Szene des dritten Aktes No. 11 Uragano (Gewittermusik) und Scena e Duetto „Qui del padre ancor respira“, in welcher es zur Duellforderung zwischen Ashton und Edgardo Ravenswood kommt. Eventuell meinte die Regisseurin, dass hier dann doch zu viel männliches Testosteron verströmt würde!? Tatsächlich aber hätte sie vielleicht bedenken sollen, dass es sich hier eigentlich um das einzig wirkliche Duett dieser Oper handelt (ein „klassisches“ Liebesduett wird man bei genauer Betrachtung in dieser Oper nicht finden!). Sind hier nicht sogar zwei verschiedene Ebene der Gewalt von Männern gegenüber Frauen, neben Ashtons offensichtlicher Unterdrückung und Instrumentalisierung seiner Schwester auch Edgardos nicht-Vertrauen und sein Zurückstoßen Lucias in die prekären Familienverhältnisse, in „trauter Zweisamkeit“ vereint? – Oder ist es einfach nur einmal mehr so, dass die Regie dem Stück nicht über den Weg traut?
Für all dieses Ungemach entschädigen konnte immerhin die musikalische Seite des Abends. So koordinierte der stabführende GMD des Teatro Petruzzelli Bari, Giampaolo Basti den aus den ersten Ranglogen singenden Chor bis auf wenige Wackler tadellos mit dem Bühnengeschehen und vermochte dem Orchester die nowendige italianità zu entlocken. Vielleicht hätte man sich an der einen oder anderen Stelle noch etwas mehr von dem „drive“ gewünscht, den die Inszenierung nicht hergegeben hat; umso negativer fällt dabei der Strich im dritten Akt auf. Oleksiy Palchykov, der in der Vorgänger-Produktion (Regie Sandra Leupold) noch undankbare Rolle des Arturo zu hören gewesen ist, hat sich inzwischen zu einem recht guten lyrischen Tenor entwickelt, der sowohl in der hohen Lage, aber vor allem mit einer sehr schönen Gesangslinie in No. 15 Aria finale „Fra poco a me ricovero“ überzeugen konnte. Heuer der Arturo von Seungwoo Simon Yang (Mitglied des internationalen Opernstudios an der Staatsoper Hamburg) in No. 8 Coro e Cavatina „Per poco fra le tenebre“ zwar mit Emphase, aber im späteren Quartetto nicht ausreichend durchsetzungsstark.
Als Lucia verfügt die russische koloratursopranistin Venera Gimadieva natürlich über das notwendige Material, diese Paraderolle des Belcanto zu gestalten. So mag es vielleicht auch nur ein subjektiver Eindruck sein, dass sie mit der ihr bekannten Rolle in dieser Inszenierung fremdelte. Die Spitzentöne kamen zwar auf den Punkt, waren aber nur kurz und wirkten oberflächlich. Insgesamt schien auch Gimadieva nicht recht an den – zumindest momentanen – Wahnsinn der Lucia zu glauben. Ihr mit der Glasharmonika zur Seite stand in übertragenem Sinne der Musiker und (Glas-)Instrumentenbauer Sascha Reckert, welcher als Gast des Orchesters sein Instrument mit absoluter Präzision und Virtuosität beherrscht.
Ebenfalls wie schon 2017 sangen Alexey Bogdanchikov als Enrico Ashton und Alexander Roslavets als Raimondo solide.
Was der Scoop der Inszenierung hätte werden können, nämlich die Idee, dass Lucia nicht stirbt, sie vielleicht nicht einmal endgültig dem Wahn verfallen ist, sondern vielmehr von der Clique (Enrico, Raimondo etc.) nun auf immer in einer Art Panic Room gefangen gehalten wird und womöglich hilflos dem Selbstmord ihres Geliebten zusehen muss, ein Gedanke also, aus welchem man womöglich die ganze Oper heraus hätte inszenieren können, bleibt an diesem Abend leider nur eine Randnotiz im letzten Bild.
Wie all dies, die Spiegelung/Motivation der Figuren in ihrer Kindheit, ein bewegtes, stets kreisendes Bühnenbild, ein Statisterie-Chor, die unbeschränkte Gewalt aller anderen Figuren gegenüber Lucia besser, weil plausibel und sinnhaft auf die Opernbühne gebracht werden können, hat Tatjana Gürbaca (ebenfalls unter Corona-Bedingungen) vor kurzem am Opernhaus Zürich gezeigt. Dort handelt es sich um eine konsequente Weiterentwicklung ihrer Inszenierung am Staatstheater Mainz aus 2007. Wenn ich nun rein hypothetisch annehme, dass Niermeyer die Mainzer-Produktion kennt, sich eventuell sogar hat inspirieren lassen, komme ich leider dazu, dass sie für ihre eigene Arbeit mindestens die falschen Schlüsse gezogen hat.
Michael Schenk