© Theater Lübeck/Olaf Malzahn
Gaetano Donizetti, Lucia di Lammermoor
Sophia Theodorides, Sopran
Jacob Scharfman, Bariton
Konstantinos Klironomos, Tenor
Changjun Lee, Bass
Takahiro Nagasaki, Dirigent
Anna Drescher, Inszenierung (Mitarbeit Maximilian Hagemeyer)
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Theater Lübeck, 9. Mai 2025, PREMIERE
von Dr. Regina Ströbl
Allüberall herrscht Düsternis
Bei den Ashtons möchte man nicht sein, nicht wohnen, nicht heiraten, ja nicht mal zu einer Feier eingeladen sein. Schwarz ist es, kein Licht leuchtet in der tiefen Dunkelheit, kein freundliches Lächeln erscheint in den bleichen Gesichtern der Gesellschaft. Pure Düsternis herrscht dort, außen wie innen. Feindselig beobachtet von einer allgegenwärtigen Ansammlung geifernder, starrender und auf Verfehlungen wartender Männer, findet Lucia, die Tochter des Hauses, ihre Freiheit erst in ihrem eigenen Ende.
Mit „Male Gaze“, also männlichem Starren, hat die junge Regisseurin Anna Drescher ihre Inszenierung (Mitarbeit Maximilian Hagemeyer) überschrieben, und bezeichnet so die Situation von Frauen ohne eigene Rechte in einer männerdominierten und bestimmten, ja überwachten Gesellschaft. Die Zwangsheirat zum eigenen Vorteil und dem vermeintlichen Wohl der Allgemeinheit ohne Rücksicht auf den Willen oder die Gefühle der Frau ist in einigen Ländern bis heute üblich, das Thema des Romans von Walter Scott „Die Braut von Lammermoor“ von 1819, das dem Libretto von Salvadore Cammarano zugrunde liegt, also nach wie vor aktuell. Und so steht hier die Frage im Raum, wer ist wahnsinnig, die aus Verzweiflung mordende Lucia oder die sie in ihr Unglück zwingende Gesellschaft?
Der Regisseurin gelingt es mit höchst eindringlichen Bildern, aus dem gepeinigten Opfer Lucia eine sich gegen dieses Schicksal Aufbäumende, die Freiheit, wenngleich auch erst im Tod, Findende zu machen. Dabei steht weniger ihre unerfüllte Liebesgeschichte mit Edgardo im Fokus, als vielmehr Lucias Kampf mit Enrico, dem eigenen Bruder, auch er nicht frei von Zwängen. Denn die gesamte Zeit lauert die gehässige Meute auf einer breiten schwarzen Treppe, mal heimlich im Hintergrund wie im ersten Akt, dann aber sehr präsent im Schloss.
Von Stärke und Schwäche
Enrico ist ein bei der Krone in Ungnade gefallenen Schwächling, unsicher, aber doch machtgierig, dem es ohne Rücksicht um die Erhaltung seiner Stellung bei Hofe geht. Die ganze Wut über seine Hilflosigkeit (denn er ist für den Statuserhalt auf die Hochzeit seiner Schwester mit dem Günstling Arturo angewiesen) zeigt er in der Raimund-Harmstorf-„Der Seewolf“-Gedenk-Zerquetschung einer Orange. Mit größtmöglicher Brutalität und Demütigung wird er seine entblößte Schwester der Gesellschaft vorführen, aber je größer er sich wähnt, desto kleiner wird er und desto stärker wird seine Schwester.

Doch zunächst kann Lucia wenige unbeschwerte Momente mit ihrer Freundin Alisa in der Natur genießen. Es wird viel herumgehüpft, etliche Blätter werden geworfen und die Bäume sehr umarmt, wenn einen sonst schon keiner liebkost. Wenige Momente der Wärme und der Freude blitzen auf, wenigstens ein bisschen Luft zum Atmen, ein wenig Geborgenheit. Aber auch sie bleiben nicht unbeobachtet. Alles wird argwöhnisch im Hintergrund betrachtet, so auch das letzte heimliche Treffen, das Liebesbekenntnis und der Treueschwur mit Edgardo, den Lucia liebt, aber nicht lieben darf, ist er doch der Erzfeind ihres Bruders.
Im Schloss wird derweil die Zwangsheirat vorbereitet; die Gesellschaft feiert lautstark und überdreht, vor allem sich selbst. Vor dieser johlenden Kulisse nun wird Lucia von ihrem Bruder im wahrsten Sinne des Wortes in aller Öffentlichkeit bloßgestellt und in ein Hochzeitskleid mit unendlich lang scheinender Schleppe gezwungen, dessen Schnürung ihr fast den Atem nimmt. Vom übertrieben jovialen Auftreten des Bräutigams Arturo abgestoßen, gibt es jedoch kein Zurück mehr, der Ehevertrag wird unterschrieben. Die bereits von den Ereignissen mitgenommene und von der Last der symbolträchtigen Schleppe geschwächte Lucia nimmt die Rückkehr Edgardos und seine Klagen kaum noch wahr.

Und ihr alle habt zugesehen
Und während die Festgemeinde weiterfeiert, befreit sich Lucia aus ihrer Opferrolle. Nach dem Mord an ihrem gerade angetrauten Mann erscheint sie vor der versammelten Festgemeinde, geschändet, stigmatisiert, unaufhörlich am ganzen Körper blutend. Selbst die Füllung der Hochzeitstorte blutet. Ihre ganze Verzweiflung bricht sich Bahn, die Gesichtszüge sind grimassenartig verzerrt, die Kavatine endet in einem stummen, blutigen Schrei. In der Arie gerät die Wahnsinnsszene dann zur Abrechnung mit der sich nun schamvoll windenden Gesellschaft, die Lucia mit dem Rücken zum Publikum direkt anspricht, sich dabei aber auch immer wieder zu diesem umdreht – ja, denn auch wir haben zugesehen.

Und hier löst sich dann auch die Frage, wer in dieser Geschichte wirklich wahnsinnig ist. Folgerichtig sinkt sie am Ende nicht entseelt zu Boden, sondern bleibt auf einem Stuhl, ins Auditorium blickend sitzen, erhaben, befreit, in stillem Triumph. Noch einmal erscheint Edgardo, um Abschied zu nehmen, und wird zu den Klängen der Totenglocke von der Masse verschlungen.
Bei dieser in so vielen eindrücklichen Szenen und Bildern überzeugenden Inszenierung kann man einige weniger geglückte Momente verkraften. Dazu gehört die lächerlich flache Anfangsszene, bei der die Männer des Chores mit dem Rücken zum Publikum die Musik durch hektische Armbewegungen stören, welche sich beim Umdrehen als intensive Waffenputzerei entpuppt; honi soit, qui mal y pense… Der Vokuhila-Schnitt der Kleider Lucias und Alisas im ersten Akt sind in der Bewegung hinderlich, die rote Farbe zu plakativ. Mitunter anstrengend und ablenkend ist die Bewegungschor-artige Choreographie der Gesellschaft auf den Treppen, geradezu albern in der Festszene mit den Luftballons. Aber das ist Geschmackssache und schmälert den großartigen Gesamteindruck nicht.
Gleiches gilt für Bühnenbild und Kostüme von Tatjana Ivschina. Die große Treppe als Empore und Spielplatz für den Chor ist keine ganz neue Idee, aber hier ungeheuer wirkmächtig eingesetzt, niemand vermisst ein Schloss mit Festsaal, was auch an der dunklen, durch wenige Spots unterbrochene Beleuchtung von Falk Hampel liegt. Die wunderbar passenden Kostüme vom Chor sind schwarz, zottelig, die Gesichter weiß und leblos, jegliche Individualität fehlt in dieser geifernden Masse. Ganz in Schwarz erscheint auch Enrico, überwältigend im Kontrast und in der Dominanz ist das Brautkleid, alles an die Zeit der Handlung angelehnt. Warum die Kleidung von Edgardo und Arturo dabei komplett aus der Moderne stammt, erschließt sich jedoch nicht.

Musikalisch kaum zu überbieten
Vor diesem Hintergrund entfaltet sich eine grandiose musikalische Gesamtleistung. Es ist der Abend von Gastsopranistin Sophia Theodorides als Lucia. Die Entwicklung vom verliebten Mädchen über das verzweifelte und gedemütigte Opfer zur sich rächenden und befreiten Frau durchlebt sie schonungslos und das mit einer Stimme, die Steine zum Weinen bringt. Da sitzt jeder Ton, jugendlich frisch, rein, strahlend bis in die höchsten Höhen, vollkommen unabhängig von der Dynamik. Was für ein Piano! Die Koloraturen perlen mühelos wie edelster Champagner. Sie schont sich nicht, teilt sich die Rolle aber klug ein und überwältigt in ihrer großen, großartigen Schlussszene. Die Begleitung der Kavatine durch das Verrophon von Sascha Reckert statt der gewohnten Flöte hatte etwas zauberhaft Sphärisches, geradezu Unwirkliches, was diese Szene zu einem wirklichen Höhepunkt macht.
Es ist aber auch der Abend von Jacob Scharfman, der eine großartige Studie über einen gebrochenen, von der Gunst anderer abhängigen Schwächling liefert, der nur gegenüber vermeintlich Unterlegenen stark sein kann. In Haltung und Mimik zeigt sich sein ganzes inneres Drama, seine Reue über sein Tun kommt zu spät. Scharfman singt das mit seinem prächtigen, sehr virilen und warmen Bariton, immer nobel und elegant, aber auch zu emotionalen Ausbrüchen fähig. Was für ein herrlicher Verdi-Bariton entwickelt sich da! Das Duett mit Lucia im 2. Akt während der Einkleidung in das Brautkleid waren von beiden in überwältigender Intensität gesungen und gespielt.
Konstantinos Klironomos als Edgardo verfügt über einen breiten, baritonal gefärbten Tenor, der sich zu kraftvollen Spitzentönen hochschwingt. Das ist beeindruckend, dynamisch könnte da aber noch etwas gefeilt werden. Auch darstellerisch überzeugt er mit ungestümer Jugendlichkeit und in großer Verzweiflung seiner Schluss-Szene, wie schade, dass das Duett Edgardo – Enrico zu Beginn des 3. Aktes gestrichen wurde, das wäre ein weiterer Höhepunkt gewesen.
Changjun Lee als um Mäßigung bemühter Raimondo begeistert erneut mit seinem kräftigen, klaren Bass, auch hier würde etwas mehr dynamische Abstufung noch mehr überzeugen. Delia Bacher in der Rolle der Alisa nimmt sowohl mit ihrem ganz besonders timbrierten Mezzo als auch mit ihrer Darstellung als liebevolle Freundin Lucias ein. Überheblich und schmierig gestaltet Noah Schaul mit klarem Tenor die Rolle des alsbald gemeuchelten Arturo. Wonjun Kim bereichert das Ensemble mit kurzen tenoralen Einwürfen als Normanno.
Der von Jan-Michael Krüger wieder fabelhaft einstudierte Chor und Extrachor zeigte sich auch gestalterisch sehr aktiv, meistens sehr bereichernd (s.o.). Takahiro Nagasaki, 1. Kapellmeister des Hauses, riss das feurig aufspielende Philharmonische Orchester zu rasanter Italianità hin, ließ aber genug Raum für Donizettis herrlich schwelgerische Melodien. Mit sanften Klängen und perfekter Abstimmung ermöglichte so auch Sophia Theodorides alle Freiheiten in ihrer Wahnsinnszene. Besser geht es nicht!
Jubel, Bravo-Rufe und Applaus wollten nicht enden. Erneut ein großer Abend in der Lübecker Oper, fast nur mit Ensemblemitgliedern, den man auf keinen Fall verpassen darf!!
Dr. Regina Ströbl, 10. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die nächsten Vorstellungen sind am 23. und 31. Mai und am 7. Juni 2025, jeweils um 19.30 Uhr.
Richard Wagner, Tristan und Isolde Theater Lübeck, 19. April 2025
Richard Wagner, Tristan und Isolde Theater Lübeck, 2. Februar 2025 PREMIERE