Wenn jeder jeden belügt – Händels „Agrippina“ als zeitloses Machtspiel in München

Georg Friedrich Händel, Agrippina, Bayerische Staatsoper, 28. Juli 2019

Foto: © Wilfried Hösl

Georg Friedrich Händel, Agrippina
Bayerische Staatsoper, 28. Juli 2019

Musikalische Leitung: Ivor Bolton
Inszenierung: Barrie Kosky

Claudio: Gianluca Buratto
Agrippina: Alice Coote
Nerone: Franco Fagioli
Poppea: Elsa Benoit
Ottone: Iestyn Davies
Pallante: Andrea Mastroni
Narciso: Eric Jurenas
Lesbo: Markus Suihkonen

Bayerisches Staatsorchester

von Sarah Schnoor

Claudio ist tot, es lebe Nerone! Oder doch nicht? Agrippina versucht alles, um ihren Sohn Nerone auf den Thron zu bekommen, um letztlich selbst die Fäden in der Hand zu halten. Nachdem ihre ersten Intrigen nicht erfolgreich waren, versucht sie über Poppea, Liebesobjekt und Projektsfläche einiger Protagonisten, an den Thron zu gelangen. Ob das gelingt?

Es sind Opernfestspiele in München und die Bayerische Staatsoper glänzt mit Barrie Koskys neuer Inszenierung von Händels „Agrippina“. Nicht nur, dass diese Oper eine spannende Handlung hat, in der sich schon in den ersten Minuten alle Netze aus Intrigen verwirren, Kosky beweist auch hier wieder, dass er sein Handwerk wie nur wenige andere beherrscht. Seine Agrippina lebt von einer grandiosen Personenregie, die hervorragend in das Netz der Musik eingefädelt ist und mit ihr spielt. Komik und Slapstick gesellen sich zu tragischen und schmerzenden Momenten. Es macht Spaß, jedem einzelnen beim Singen zuzusehen und zuzuhören!

Der bockige Punk ist eins der Klischees mit dem Kosky spielt. Franco Fagioli darf als Nerone all seine Mimik und sein komisches Talent auspacken. Er gibt das verzogene, auf der Glatze tätowierte Kind, das beleidigt in der Ecke steht, andere schikaniert und stets seinen Launen folgt. Nachdem seine Mutter sowohl ihn als auch ihre zwei erlegenen Untertanen (Pallante und Narciso) überzeugt hat, Nerone auf den Thron zu heben, geht dieser, wie befohlen, zu den Armen: dem Publikum.

Diese Szene entfaltet ihren ganz eigenen Humor. Fagioli erscheint am untersten Saaleingang und besingt das Publikum der Bayerischen Staatsoper als armes Volk, dem er sein Mitleid ausspreche. Er umarmt Menschen in der ersten Reihe und schafft damit gleich mehrere Ebenen der Reflexion. Mit herrlichem Spiel und ganz eigener Stimmfarbe gestaltet Fagioli die virtuosesten Koloraturen.

Foto: © Wilfried Hösl

Auch Alice Coote, die seine Mutter Agrippina spielt, glänzt durch starkes Schauspiel und ausdrucksstarken Gesang. Sie spielt mit den dümmlichen Männern, bleibt aber einsam in ihrer Machtposition. Ihr Mann Claudio ist einer dieser eher simpleren Typen. Gianluca Burattos klar fließender Bass, der ohne jeglichen Firlefanz auskommt, unterstützt diesen Eindruck hervorragend.

Auch die zweite Frau des Geschehens ist eine Verführerin. “Erhöre den Liebreiz meiner Schönheit“ fordert Poppea (Elsa Benoit) in ihrer ersten Arie süßlich verzaubernd, aber auch nur, um mehr Männer bestimmen zu können. Schnell lernt sie dazu und wird von Agrippinas Spielball zu ihrer Gegenspielerin. Elsa Benoits Sopran entfaltet vor allem in den lyrischen Teilen eine schöne Wärme.

Generell steht die Wärme der Musik der Kälte des Bühnenbilds (Rebecca Ringst) gegenüber. Es ist sehr praktisch – mal zusammen-, mal auseinandergebaut, es werden verschiedene Räume klug bespielt und alles ist technisch gut gemacht. Leider bleibt der Raum wie das Metall und die Neonlichter, aus denen er gemacht ist, kalt. Die Kostüme von Klaus Bruns passen zur zeitlosen, aber modernen Ausstattung. Nichts Pompöses. Der Fokus bleibt bei der Regie, bei Kosky – einem wirklich guten Geschichtenerzähler.

Foto: © Wilfried Hösl

Das Highlight des Abends ist Iestyn Davies‘ Ottone. Spätestens seine Arie (Voi ch’udite il mio lamento – Ihr, die ihr meine Klage hört), die der erniedrigte und geschlagene, schuldlose Ottone blutend und allein dastehend singt, berührt mit wunderschönen Farben und runden, unfassbar schönen Tönen, die sehnsüchtig ins Nichts verschwinden. Vor allem die Streicher untermahlen das Leiden Ottones, der in Agrippinas Netz aus Lügen geraten ist, schmerzhaft. Ottone ist und bleibt der einzig ehrliche Charakter dieser Oper, der dank Davies immer weiter aufblüht!

Auch im Graben entsteht unter der Leitung von Ivor Bolton Spielfreude. Schwungvoll, präsent im Continuo, virtuos in der Oboe und voller Lust spielen die Musiker des Staatsorchesters, begleitend und führend. Nicht nur die Hauptrollen sind alle gut besetzt, auch Andrea Mastronis Bass schmückt den Pallante aus, Eric Jurenas (Narciso) und Markus Suihkonen (Lesbos) müssen sich auch hinter niemandem verstecken!

Zufrieden ist am Ende trotzdem niemand. Das liegt aber an der Geschichte. Eigentlich am Ziel – ihr Sohn ist jetzt Kaiser – aber völlig allein bleibt Agrippina auf der Bühne. Die Frage bleibt: Haben sich all die Intrigen gelohnt?

Sarah Schnoor, 30. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de

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