Foto: © Wilfried Hösl
Georg Friedrich Händel, Agrippina
Prinzregententheater München, 26. Juli 2019
Musikalische Leitung: Ivor Bolton
Inszenierung: Barrie Kosky
Bühne: Rebecca Ringst
Claudio: Gianluca Buratto
Agrippina: Alice Coote
Nerone: Franco Fagioli
Poppea: Elsa Benoit
Ottone: Iestyn Davies
Pallante: Andrea Mastroni
Narciso: Eric Jurenas
Lesbo: Markus Suihkonen
von Frank Heublein
Fangen wir mit dem Negativen an: Die Sitze im Prinzregententheater sind hart (Bayreuth ist härter, okay). Es ist heiß. Die Stringenz des Dirigenten Ivor Bolton verbietet häufig der Zuschauer Begeisterungsbekundung. Für mich ist das Bühnenbild (Rebecca Ringst) für die ein oder andere Arie zu stählern-kalt, sprich: Die Emotion, die durch die Stimme transportiert werden soll, muss sich gegen die „kalte“ Szenerie durchsetzen. Muss? Jede Stimme heute auf der Bühne schafft das mit Bravour. Womit die Überleitung hin zum Schönen Lustvollen schon geschafft ist: Ein beeindruckender Abend ist das gewesen.
Im Prinzregententheater München ist‘s am ehesten mein (harter) Sitz, der verhindert, dass ich mehr, immer noch viel mehr von diesen Stimmen hören will. Vor etwa 400 Jahren zu Händels Zeiten wäre es ein sehr langer Abend geworden, denn das Publikum hätte ein da capo bei jeder (!) Arie gefordert, die am heutigen Tage gesungen wird. Bestimmt. Frenetisch. Am Schluss lässt sich das Münchner Publikum am heutigen Abend nicht mehr zähmen. Das Ensemble und Orchester werden verdient gefeiert.
Es gibt viele Momente, in denen mir heute die barocken Publikumseskapaden gerade recht gekommen wären, die positiven in diesem Fall: 1709 zur Uraufführung stand man im Parkett. Still war man nur, wenn es wirklich – beindruckend – gut war, und dann johlte man da capo. Stellen Sie sich das kurz vor: Etwa 1000 Leute stehen, schreien im Prinzregententheater?
Wichtig, um Händels Nöte zu verstehen, der Librettist muss Arie an Arie knüpfen, so schnell es geht. Schlimm wurde zum Teil an Opern rumgedoktert, um sie erfolgreicher zu machen – meist vom Theaterchef, der musste schließlich seine Bude vollbekommen. Dieses düstere Schicksal scheint der Oper Agrippina erspart geblieben zu sein. Dabei hatte Händel für Agrippina nur etwa fünf Wochen Zeit vom Zeitpunkt, an dem er das Libretto erstmals in den Händen hielt, bis zur Premiere. Opern komponieren war beileibe kein Zuckerschlecken in dieser Zeit.
So kommt es mir heute krude schnell vor, wie sich handelnde Personen „überzeugen“ lassen – hier von Agrippina. Wichtiger Erfolgsfaktor, sonst hätte sich das Publikum rabiat lautstark unmittelbar in der Vorstellung beschwert ob einziehender Langeweile. Gute Unterhaltung war das Gebot der Stunde.
Da capos gehen heute Abend (leider!) gar nicht und auch Szenenapplaus lässt Ivor Bolton am Dirigentenpult sehr selten zu. Er sorgt mit dem Bayerischen Staatsorchester und dem Continuo-Ensemble für die musikalische Dichte. Die Spannung ist jederzeit tempo- und dynamik- sicher und bildet so eine hervorragende Grundlage für die großartigen Stimmen – auf die kommt’s an im Barock, bei Händel. Und die liefern am heutigen Abend ab. Beeindruckend in Gesang und Spiel sind alle Partien.
Handlungstechnisch zeigt diese Inszenierung von Barrie Kosky kluge, schlaue, starke Frauen und Männer, die nicht (eine Ausnahme gibt’s zum Schluss) mit dem Hirn denken, mitlaufen, schwache Menschen sind, obschon doch offiziell die starken Maxe, also diejenigen die die Machtposition innehaben.
So exzellent sind die zentralen Gesangspartien, dass ich sie einzeln durchgehe.
Agrippina singt und spielt Alice Coote. Wahnsinnig sicher ist ihr Sopran. Mit warmem Timbre singt sie dynamisch wechselnde und sehr lange Koloraturen. Diesen Atem will ich haben! Dynamische wie Oktavensprünge sind für sie ein Kinderspiel. Für mich atemberaubend hat sie ihre gesangliche Partie und schauspielerische Rolle im Griff. Und damit alle Männer und anfangs sogar die eine andere Frau, die angesichts Agrippina nicht das Denken lässt.
Ja, ich glaube auch, ich wäre ihr anheimgefallen, Alice Cootes Agrippina, dieser Teufelsbraut! Die hat es drauf, kennt jeden Kniff und zieht zu jeder Zeit ihren Kopf aus jeder Schlinge. Dramaturgisch gelungen ist der Schluss: Am Ziel ihrer Absichten und Wünsche, ihr Sohn Nerone ist zum Kaiser gekrönt, wenden sich zugleich alle ab von ihr, sie bleibt allein zurück. Ihr zentrales Ziel hat sie erreicht, ihres Lebens Sinn ist danach gänzlich dahin.
Poppea, die anfangs Benutzte, singt Elsa Benoit. Sie lässt sich von Agrippina auf den Holzweg führen. Fürs Publikum ist das grandios, denn sie ist mehrmals wütend, entsprechend furios singt sie ihre Sopranarien, mit technisch brillant leichter und strahlender Stimme. Und wenn Sie endlich Liebe zeigen darf, schmilzt mit mir ihre Stimme.
Ottone lässt Iestyn Davies (Counter, Alt) erstrahlen. Am Ende des ersten Teils von allen anderen gebasht, ist seine Arie „Voi che udite il mio lamento“ (Ihr, die ihr meine Klage vernehmt) große anrührende Klage. Wer ihm hier nicht ganz verfällt – ich gebe zu: ich war es nicht zur Gänze – der gibt sich ihm gänzlich „geschlagen“ bei „Ti vò giusta e non pietosa“ (Ich wünsche, dass du Gerechtigkeit statt Gnade). Großartiges Gefühl vermittelt er durch seine Stimme, klar und zugleich warm. Am Ende wählt er Liebe anstatt Macht. Bei dieser Poppea, Du meine Güte, keine Frage!
Franco Fagioli ist Nerone, der Sohn Agrippinas (Counter, Sopran). Er soll zum Kaiser gekrönt werden, das ist Agrippinas Absicht, grenzenloser Wille. Es muss sein! Dazu nutzt sie jede Finte und Intrige, die sie spinnen kann. Nerone selbst ist schwach. Dann kommt auch noch das Denken ohne Hirn dazu. Er verfällt Poppea. Auch Claudio ist hinter ihr her. Und Ottone liebt sie von ganzem Herzen. Liebe! Drama! Barockoper!
Die Männerrollen allesamt grausame Einfalt, ein bisschen schäme ich mich fremd dafür. Kurzer Einschub: Das Publikum Anfang des 18. Jahrhunderts wird es geliebt haben, hohe Herren als stumpfe Sexgetriebene zu sehen – wie weit das wohl der Realität entsprach?
Die lustigste Szene des ganzen Abends: Poppea spielt Nerone und Claudio gegeneinander aus und Ottone muss sich das Ganze im Versteck anschauen – und wie er schäumt! So wird Nerone zurückgetrieben in des Mutters Schoß. Er muss der verlorenen Liebe Poppeas abschwören. Natürlich ist das die Arie aller Arien dieser Oper, jedenfalls vom Schwierigkeitsgrad her: Fantastisch diese Höhe, dieser so leicht gesungene Koloraturensturm der Arie „Come nube che fugge dal vento“ (Wie der Wind die Wolken verjagt). Dynamische Extremsprünge. Franco Fagioli gelingt diese Arie an diesem Abend perfekt.
Am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gab es eine Gesangsstargattung: die Kastraten. Darauf ist die Rolle Nerones ausgelegt. Kastraten lockten das Publikum ins Musiktheater und selbstredend musste dieser Part kompositorisch höchste Brillanz vermitteln. Das A und O einer jeden Vorführung. Auch an diesem Abend bleibt mir zu Franco Fagiolis Gesangskunst nur dies zu sagen: ahhhh. Oh!
Claudio singt Gianluca Buratto. Welch satter sicherer Bass. Nie um Volumen verlegen. Auch er versteigt sich in der Liebe Dinge. Ich bin erleichtert, wenn wenigstens er als einziger Mann am Ende nachdenkt (mit dem Hirn), die richtigen Schlüsse zieht und kluge Entscheidungen trifft.
Pallante (Andrea Mastroni) und Narciso (Eric Jurenas) werden ganz zu Anfang von Agrippina zu liebestollen Affen gemacht. Toll gespielt und gesungen von beiden ist dies der größte Auftritt dieser zwei Partien. So werde ich mit einer wunderbaren Szene hineingeführt ins rücksichtslose Intrigenspiel der Agrippina, das Nerone auf den Kaiserstuhl bringen soll. Ich fühle mich erinnert an die eine oder andere heute lebende hohe Person. So gelingt es eindrucksvoll, aktuelle Bedeutung aus dem Stück herauszuarbeiten.
Der Applaus ist brausend für alle musikalisch Mitwirkenden. Der Jubel ist ob des allerhöchsten Niveaus so was von verdient. Famos.
Frank Heublein, 27. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de