Fotos: © Michael Pöhn
Wiener Staatsoper, 8. November 2019
Georg Friedrich Händel, Ariodante
von Anna-Maria Pudziow
Abseits des Repertoirebetriebs existiert sie, die Welt der historischen Aufführungspraxis und des Originalklangs. Die Wiener Staatsoper nahm mit Ariodante nach der Oper Alcina das zweite musikdramatische Werk Georg Friedrich Händels in ihr Repertoire auf. Der Kurier betitelte 2018 „‘Ariodante‘: Warum eigentlich?“.
Ja, warum eigentlich? Was macht diesen Opernstoff so beliebt, und was macht ihn bald 300 Jahre nach der Uraufführung der Oper 1735 im Covent Garden Theatre derart aktuell?
Unsere hochtechnisierte Gesellschaft mit all ihren Errungenschaften könnte man behaupten, habe sich zu weit entfernt von der Realität des Operngeschehens: Was könnte eine Oper bewirken, in der ein Schwertkampf Mann gegen Mann ganz ohne PS4 und Gamecontroller stattfindet, oder in der Nachrichten auf Papier geschrieben werden, anstelle sie mit dem hocharthritischen Daumen ins Smartphone zu rammen, was könnte uns daran wohl reizen?
Doch anders als die technischen Behelfe ist das emotionale Erleben des Menschen noch dasselbe wie vor 300 Jahren. Betritt ein Bösewicht wie Polinesso, dessen Streben nach Macht keine Skrupel kennt, die Bühne, so fühlt der Großteil des Publikums immer noch dieselbe Abscheu vor diesem Machtmenschen, der auch im Hier und Jetzt noch seine Ränke schmieden könnte, wie bereits zu Händels Zeiten.
Auch die Liebe zwischen dem Vasallen Ariodante und der Prinzessin von Schottland Ginevra berührt unverändert.
Hier zeichnet sich bereits der zentrale Konflikt der Oper ab: Polinesso selbst sieht sich als der kommende König von Schottland und versucht mit allen Mitteln seinen Rivalen Ariodante aus dem Spiel zu nehmen. Er verführt, intrigiert, täuscht, kämpft, um am Ende dennoch einen blutigen Tod zu sterben. Die Oper mündet somit in einem lieto fine; dem Sieg der Rechtschaffenheit über das Böse und der Zusammenführung der Liebenden auf allen Ebenen.
Die Inszenierung der Wiener Staatsoper spielt mit historischen Elementen Schottlands wie dem Kilt und Tartanstoffen sowie Whisky. Der Hofstaat (Wiener Staatsballett) wird im Kontrast mit neobarockem Überfluss mit Glitzerapplikationen, Federn und Augenklappen ausstaffiert. Es bietet sich ein kurioses Bild, dass zu unterhalten weiß. Zu jedem Aktbeginn schneit es. Der Sinn dieses Kuriosums erschließt sich bis zum Schluss jedoch nicht.
Musikalisch wird ein Abend geboten, der schwerlich zu übertreffen ist. Christophe Rousset liefert mit seinem Originalklang-Ensemble Les Talens Lyriques eine Aufführung der Spitzenklasse. Mit Schwung, Gefühl für Akzente und Kontrast, Dynamik und mit viel Verständnis um den Klang dirigiert Rousset. Selbst die Naturtrompeten, die es mit den Bedingungen, die ihr Instrument an sich bietet, wahrlich nicht leicht haben, setzen meist sauber ein und haben Leichtigkeit und Gesamtklang verinnerlicht.
Damit ist die Grundlage für einen brillanten Auftritt der Sänger und Sängerinnen gelegt. Hervorzuheben ist, wie sich der Klang der Stimme von Hila Fahima (Dalinda) mit dem Orchester beinahe zu einem einzigen Klang verbindet. Ihre Stimme verzückt. Fahima trifft mit jedem Ton ins Schwarze, singt silbertönende Koloraturen und überzeugt zusätzlich durch ein einnehmendes Spiel und den Mut, Lautstärke niemals zu forcieren, sich Zeit zu nehmen und sich der Musik ganz hinzugeben. Einzig bei Dalindas Wut-Arie im dritten Akt vermisst man etwas Adrenalin. Chen Reiss bezaubert mit ihrer Interpretation der Ginevra. Ihre Rezitative sind lebendig und ihre Arien überaus kunstfertig. Stephanie Houtzeel (Ariodante) legt viel Gefühl in ihre Rolle und besticht durch umfangreiche Kolloraturpassagen.
Polinesso wird von Countertenor Max Emanuel Cenčić gelebt. Er spielt gekonnt mit dem Badboy-Image. Seine Interpretation und seine Variationen der Da Capo Passagen sind beeindruckend. Eine Stimme, die in allen Registern Substanz und Flexibilität hat. Peter Kellner verkörpert den König Schottlands mit Emotion und Würde. Wenn er singt, könnte man ewig zuhören. Seine Aussprache ist besonders lebendig, und die intrinsische Gefühlswelt seiner Rolle transportiert er direkt zum Publikum. Dem Tenor Josh Lovell (Lucranio) nimmt man sofort ab, mit seinem Gesang das Herz seiner Angebeteten Dalinda zu erreichen. Carlos Osuna macht sich in der Nebenrolle des Odoardo verdient.
Ein besonderer Reiz der Oper liegt in den vielfältigen Tanzszenen. Die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts bieten dem Publikum zusätzlich zu den auditiven Reizen auch visuell eine hochästhetische und gekonnte Performance. Die Choreographie verlangt von den ZuseherInnen manchmal die Fähigkeit der Abstraktion, ist aber spannend und sehr kurzweilig.
Donna Leon schreibt, die Oper sei der „Liebling Österreichs“ der Spielzeit 2017/2018. Das Publikum bestätigte diese Aussage auch für diese Spielzeit mit großem Applaus. Sicherlich kann sich ein Besuch dieser Oper in die Reihe der Abende einreihen, an die man gerne zurückdenkt.
Originalklang auf höchstem Niveau!
Anna-Maria Pudziow, 9. November 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schon von ihren Anfängen an der Wiener Staatsoper an habe ich Hila Fahima vor meinen ihr gegenüber noch skeptischen Freunden verteidigt. Ihr jetziger Erfolg freut mich daher besonders.
Lothar Schweitzer
Freue mich auf die Vorstellung morgen – besonders auf Stephanie Houtzeel, seit 2010 Ensemblemitglied, und vermutlich schwer unterschätzt. Für mich ist sie der Grund, die Vorstellung zu besuchen!
Jürgen Pathy