Ich habe schon lange ein Problem mit einer bestimmten Art von Regietheater. Vor allem, wenn energisch gekürzt, umformuliert, dazugeschrieben wird. Da kann ich auch mal renitent werden wie ein Hardcore-Wagnerianer.
Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 13. Oktober 2019
Georg Friedrich Händel, Der Messias
„Besonders aber lasst genug geschehn!
Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn.
Wird vieles vor den Augen abgesponnen,
So dass die Menge staunend gaffen kann,
Da habt Ihr in der Breite gleich gewonnen,
Ihr seid ein vielgeliebter Mann.
Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen,
Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.
Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!“
Goethe, Faust, Vorspiel auf dem Theater
von Gabriele Lange
Je nach Perspektive kann man einen solchen Abend in München ganz unterschiedlich erleben. Für den geschätzten Kollegen Frank Heublein war die Inszenierung eine spannende Erfahrung – für mich als auf die Musik fokussierte Händel-Begeisterte eher eine schmerzvolle. Und das weckte meinen Hang zum Sarkasmus.
Am besten gebe ich es gleich zu: Manchmal bin ich ganz schön konservativ. Wenn es um Kunstwerke geht, die mir etwas bedeuten, neige ich zum Purismus. Deshalb habe ich schon lange ein Problem mit einer bestimmten Art von Regietheater. Vor allem, wenn energisch gekürzt, umformuliert, dazugeschrieben wird. Da kann ich auch mal renitent werden wie ein Hardcore-Wagnerianer.
Darf der das? Doch, klar…
Trotzdem bin ich zunächst offen für eine szenische Inszenierung von Händels Messias: Im Barock waren die Werke nicht in Stein gemeißelt. Arien wurden an die Stärken und Schwächen der Sänger angepasst. Und wenn der auftraggebende Fürst einen Wunsch hatte, dann änderte man eben dies oder das. Zudem: Damals musste man dem Publikum keine Interpretationshilfe geben, wenn es um die Geschichte Jesu ging. Die Welt ist ohnehin eine andere als 1742. Händels Messias heute zu bebildern und zu interpretieren, ist also durchaus sinnvoll. Dazu kommt: Unzählige Kanäle kämpfen um unsere Aufmerksamkeit. Wer hat noch die Konzentration und den Willen, ein mehrstündiges, rein konzertantes Stück in sich aufzunehmen?
Die Frage ist deshalb nicht: Darf die Regie eine eigene Interpretation finden? Sie lautet: Funktioniert das, ist es gut gemacht, ist es verständlich – und wo bleibt bei all dem die Musik?
Die Musik spielt bei dieser Inszenierung leider die zweite Geige. Die erste ist für das Ego des Regisseurs reserviert. Und der agiert wie Roland Emmerich bei seinem ersten Hollywood-Film mit großem Budget. (Sie erinnern sich vielleicht: Tricks! Explosionen! Statisten ohne Ende!) Torsten Fischer setzt nicht gezielt einzelne Tänzer ein, da kämpft gefühlt die ganze Ballettcompagnie des Gärtnerplatztheaters mit dem großen Chor um zu wenige Quadratmeter. Meistens sieht die Bühne deshalb aus, wie sich das meine Zeichenlehrerin in der 4. Klasse vorgestellt hatte: „Und immer schön das Papier vollmalen!“
Wimmelbilder auf der Bühne
Das Ganze ist gelegentlich so übersichtlich, als säße man ohne Lupe vor einem animierten Bruegel. Wo ist denn Jesus abgeblieben? Ach, der streichelt gerade da hinten ein Haupt. Ups – eben flirtete noch ein Herr mit Kippa auf dem Kopf mit einer Kopftuchdame – nun haschen haufenweise Kippa- und Kopftuchträger durchs Getümmel. Hinten gibt es Hebefiguren wie beim Eiskunstlauf zu sehen. Die zwei da vorne können ja ihren Rücken echt akrobatisch nach hinten biegen. Wieso fallen die nicht um? Vor allem aber: Warum machen die das?
Ach – da vorn ist jetzt wieder Jesus. Er liegt immer mal wieder in Marias Armen – die Pieta als lebendes Bild. Und da schreitet der Tenor von links nach rechts, der Counter kommt aus der Tiefe des Raumes, der Bass zieht seine Jacke aus. Und wieder an. Oh. Er steht auf dem liegenden Jesus. Gestützt von zwei Sängerkollegen singt er auf ihm balancierend weiter, während Jesus einmal den Bühnenrand entlangkriecht. Muss ein subtiler Hinweis auf das Leiden Christi sein.
Praktisch, dass Maria anfangs als einzige in rote Wallegewänder gehüllt ist. Der Cast trägt abwechselnd meist Weiß oder Schwarz, Anzug oder Cocktailkleid. Es gibt verhüllte Muslimas, Juden mit Gebetsschal, einige Tänzer tragen auch mal angedeutete Corsagen.
Schaut alles interessant aus – aber was soll mir das sagen? Ich komme nicht dahinter. Ich kann das Programmheft lesen, aber eigentlich möchte ich ein Stück auch ohne Gebrauchsanweisung begreifen können.
Gleich anfangs werden haufenweise in Zellophan verpackte Blumensträuße auf die Bühne getragen. Sind wir bei einer DDR-Jugendweihe? Die Sträuße werden niedergelegt, zornig durch die Gegend gepfeffert, wieder eingesammelt, dann Maria damit zugedeckt, bis sie aussieht wie das Tor zum Buckingham Palace nach Dianas Tod. Wieder fliegen die Sträuße über die Bühne, wieder werden sie eingesammelt. Und ewig raschelt das Zellophan. Ansonsten wird getrappelt. Immer wieder getrappelt. Denn wichtiger als die Musik scheint, dass alles in Bewegung bleibt. Zwischendurch wird noch ein grüner Rasenteppich ausgerollt.
Weil es so eng ist, ist die Bühne weit nach hinten geöffnet, meist wird die gesamte Tiefe des Bühnenraums genutzt. Damit tut Fischer seinen Akteuren keinen Gefallen. Die Sänger, die zwischendurch nach hinten verbannt sind, hören sich an, als seien sie schlecht bei Stimme – dürfen sie dann wieder nach vorn, merkt man: Bis auf den erkälteten Tenor leisten sie teils Großartiges. Die Tänzer zeigen auf knappstem Raum ihr Können – nur leider erschließt sich nicht, welche Geschichte sie erzählen. Der Chor schließlich vollbringt die schier unglaubliche Leistung, dieses hochkomplexe Stück ohne Unterstützung einer Partitur zu singen, dabei in komplizierten Formationen über die Bühne zu laufen, ständig in Interaktion mit dem auf engstem Raum mit den Sängern agierenden Ballett.
Ich bin deine Mutter!
Überhaupt wird viel herumgeschritten. Am meisten schreitet Maria. Maria singt nicht, sie ist Schauspielerin. Sandra Cervik deklamiert kurze Texte aus „Marias Testament“ von Colm Toibin. Neben dem leidenden Christus wird also die leidende Mutter in den Mittelpunkt gestellt. Im Prinzip ein berechtigter Ansatz. Nur geht mir dieses übertrieben pathetische Geraune bald auf die Nerven. Manchmal wirkt sie wie eine Mutter, die der Sohn zu lange nicht angerufen hat, und die ihm nun mit Grabesstimme sagt: „Ich könnte tot sein! Und du hättest das nicht mal gemerkt!“ Als sie Jesus mitteilt, „Ich bin deine Mutter!“, bekommt mein Sitznachbar Probleme, den nötigen Ernst zu bewahren. Und ich würde mich nicht mal mehr wundern, wenn Darth Vader (in Schwarz natürlich) auf die Bühne gekeucht käme.
Im vorigen Jahr habe ich in Münster eine überzeugende szenische Umsetzung des Saul gesehen. Dort wurde mit sparsamsten Mitteln gearbeitet, die gesamte Inszenierung diente der Veranschaulichung. Beim Messias will Fischer dagegen seine eigene Sicht in Kontrast zur Erlösungsmusik setzen. Das hat seine Berechtigung. Allerdings geht er dabei ähnlich fokussiert vor wie die Erbauer von Deep Thought in Douglas Adams‘ „Anhalter“ – die wollten die Antwort auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Die Heilsgeschichte ist halt ein universales Thema. Die Perspektive Marias reicht dem Regisseur deshalb als Kontrapunkt nicht, es muss noch die Apokalypse mit rein, die Sünden der Moderne … Da kann man leicht die Orientierung verlieren.
Episches Theater statt rauschhaftem Erleben
Die Heimat des Oratoriums sind die harten Bänke der Kirche oder die schlichte Bühne eines Konzertsaals. Zwei, drei Stunden Händel pur sind eine Meditation. Der Zuhörer ist allein mit sich und der Musik. Nichts lenkt ab. Das kann ihn in Trance versetzen, in eine andere Welt der Schönheit, des Lichts, lässt ihn womöglich eine Art Erlösung erfahren. Der Regisseur will diesen Rausch nicht zulassen. Da wird nicht nur getrappelt und geraschelt – er lässt einfach Teile weg. Und vor allem: Er unterbricht. Immer wieder. Rücksichtslos. Meist durch ein Statement von Maria, die sich ungefähr so wichtig nimmt, wie die singende Mama in Loriots „Ödipussi“.
Der Messias wird dadurch zur Nummernrevue. Ich kann nicht eintauchen in ein Meer von Musik – beginne ich zu genießen, werde ich brutal gestört. Bin ich hier in „Mutter Courage“…?
Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt
Das alles würde ich dem Regisseur ohnehin übelnehmen, das gebe ich zu. Gelänge es ihm allerdings, ein spannendes, eigenes Werk zu schaffen, mir neue Perspektiven zu eröffnen, dann wäre diese Irritation berechtigt. Ich wäre genervt – und bereichert.
Doch die Ideen sind einfach zu abgenutzt. Da muss noch was rein zu Social Media und stressiger Arbeitswelt! Einfach den Chor vor geschätzte 40 Laptops zu setzen (übrigens altmodisch – wenn schon, dann sollten die auf Smartphones starrend über die Bühne irren und über ihre Füße purzeln…). Die Menschen sind immer noch echt böse und schießen aufeinander! Behängen wir Jesus doch mit ein paar Schnellfeuergewehren. Gier und Geld regieren die Welt? Super, lassen wir Scheine von der Bühne regnen. Dann lachen alle begeistert – und wir gehen über zum Halleluja.
Nachdem eine Heilsgeschichte ohne Erlösung dann doch nicht funktioniert, „erwachen“ die Menschen zum Schluss. Chor und Tänzer versammeln sich am Bühnenrand und winken mit strahlenden Mienen lockend ins Publikum. So etwa wie Hare Krishnas oder Jesus People früher in den Fußgängerzonen.
Mich regt da keine Brechtsche Verfremdung zum Nachdenken an, mich regen bloß die platten Bilder auf. Und der mangelnde Respekt vor der Musik.
Und doch: die Musik
Nach der Pause setzt sich Händel mehr und mehr durch. Der Chor bekommt Gelegenheit zu strahlen. David Valencia, der den Jesus verkörpert und bis zur Pause irgendwo im Getümmel dekorativ litt, kriegt endlich ein paar Freiräume. Und er zeigt ausdrucksstark, jede Faser gespannt, dass man zu dieser Musik grandios tanzen kann.
Der kräftige Schlussapplaus für Dirigent, Orchester, Chor, Solisten und Tänzer ist verdient. Dirigent Anthony Bramall führte das kompetente Gärtnerplatzorchester sicher durch diesen schwierigen Abend. Dem Kontratenor Dmitry Egorov, den Sopranistinnen Mária Celeng und Jennifer O’Loughlin und dem Bassbariton Timos Sirlantzis gelang es immer wieder, die Schönheit der Musik leuchten zu lassen. Der Chor bewältigte die harte Herausforderung mit Bravour. Tenor Alexandros Tsilogiannis, der sich trotz wieder aufgeflammter Erkältung tapfer durch die Partie kämpfte, entschuldigt sich gestisch.
Und ich habe einen guten Anlass, mir heute den Messias noch einmal anzuhören. Ununterbrochen. Gestört höchstens durch den Protest der Nachbarn. Denn es könnte laut werden.
Gabriele Lange, 15. Oktober für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikalische Leitung Anthony Bramall
Choreinstudierung Felix Meybier
Regie Torsten Fischer
Choreografie Karl Alfred Schreiner
Bühne / Dramaturgie Herbert Schäfer
Maria Sandra Cervik
Ihr Sohn David Valencia
Timos, ein Politiker Timos Sirlantzis
Jennifer, seine Frau Jennifer O’Loughlin
Alexandros, ein Politiker Alexandros Tsilogiannis
Mária, seine Frau Mária Celeng
Dmitry, ein Fremder Dmitry Egorov
Anna-Katharina, eine Frau Anna-Katharina Tonauer
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz