Regula Mühlemann (Bellezza). Foto: © SF / Monika Rittershaus
„Die intime Zartheit der geläuterten Schönheit, die grandiosen leisen Momente dieses Nachmittags, die hole ich mir in Gedanken danach so oft zurück, wie ich nur kann.“
Haus für Mozart, Salzburg, 8. August 2021
Georg Friedrich Händel, „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“
Im nahezu vollbesetzten Haus für Mozart beginnt Georg Friedrich Händels Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“, eine Produktion der Salzburger Pfingstfestspiele 2021, mit der Sonata dell’Ouvertura als „Salzburg sucht das nächste Topmodel“. Erst als bühnenvollflächiges Video, dann treten die Kandidatinnen leibhaftig auf die Bühne und Bellezza, die Schönheit, gewinnt! Sie gibt sich Piacere, dem Vergnügen, hin.
von Frank Heublein
Es ist ein Oratorium, keine Oper. 1707 durften aufgrund eines päpstlichen Erlasses keine „unterhaltsamen“ Opern in Rom, dem Ort des kompositorischen Wirkens, aufgeführt werden. Den Geist läuternde Oratorien dagegen schon. Oratorien wurden zwar zu dieser Zeit in Theatern und nicht in Kirchen, aber konzertant aufgeführt. Also anders als das inszenierte Stück, das ich heute sehe.
Anfangs überspült mich Bildgewalt und ich verliere darüber die Konzentration auf die Musik. Was zum Teil daran liegt, dass mir der Orchesterklang im ersten Teil nur geringe Spannung und Akzentuierung vermittelt. Ein stetiger Fluss, der den Sängerinnen und Sängern nur selten führend-leitend musikalische Grundlage ist. Erst im zweiten Teil entwickelt Dirigent Gianluca Capuano für mich die durchgehende Bindung an die Sänger und Sängerinnen auf der Bühne. Dadurch gewinnt der Klang in meinen Ohren an Akzentuierung.
Positiv gewendet: Die zwei Sängerinnen und zwei Sänger kommen auch ohne diesen orchestralen Leitstrahl exzellent zurecht. Das Stimmenquartett, das den Abend ohne Unterstützung vom Chor bestreitet, ist gesanglich eine Wucht!
Den ersten absoluten Flash-Moment bekomme ich im ersten Teil. Der gesamte Raum hält den Atem an, ich könnte eine Nadel fallen hören. Dieses Highlight liefert Lawrence Zazzo als Disinganno (Erkenntnis) mit seiner Arie „L’uomo sempre se stesso distrugge“ (Der Mensch zerstört sich stets selbst). Er fängt mein Gefühl ein, bindet es an jeden einzelnen Ton seiner grandiosen Countertenor-Stimme. Vollendete Koloraturen, dynamisch und gleichzeitig leicht. Nach Generalpausen, sanft fast hauchend und trotzdem rein und klar im Pianissimo einsetzend. Er durchströmt mich vollkommen. Im Publikum brandet intensiver begeisterter Szenenapplaus auf. Der reißt mich aus meinem zarten Empfinden des musikalischen Inhalts heraus.
Im zweiten Teil springt mich erneut zuerst die Erkenntnis musikalisch an. Mit „Più non cura“ (Das düstere Tal) gibt mir Lawrence Zazzo einen weiteren elektrisierenden Moment, lässt mich innerlich genauso stark dahinschmelzen wie im ersten Teil. Mit demselben enthusiastischen Ende auf Publikumsseite.
Cecilia Bartolis fantastische stimmliche Klasse zeigt sich in jedem Ton, den sie singt. Ihre Koloraturen sind ein Ohrenschmaus, leicht, eine atemberaubende Technik, wie bekommt sie das bloß hin?, frage ich mich ein ums andere Mal. Dazu schauspielert sie grandios. Die Bartoli singt im zweiten Teil als Piacere (Vergnügen) mit „Lascia la spina“. Diese Arie ist Grundlage der kompositorisch nahezu identischen jedoch textlich abgewandelten Arie „Lascia ch’io pianga“ der Almirena aus Händels Oper „Rinaldo“. Cecilia Bartoli zieht das Publikum damit so sehr in ihren Bann, dass sich dessen Begeisterung – zu diesem Zeitpunkt – ausschließlich nach innen entlädt. Zart, geschmeidig, melancholisch, herzzerreißend singt sie sich in mich hinein.
In „Come nembo che fugge col vento“ (Wie die Wolke, die mit dem Wind flieht) singt sie, das Vergnügen mimend, einen Satz, der ganz und gar nicht auf die heutige Vorstellung zutrifft. Eine Erkenntnis, die dem damaligen Papst gar nicht geschmeckt haben dürfte, sollte er es 1707 ebenso empfunden haben wie ich heute. „Se l’inganno è il mio solo alimento, / come viver io posso nel vero?“ (Wenn die Täuschung meine einzige Nahrung ist, wie kann ich da in der Wahrheit leben?).
Nein, dieser Abend ist keine Täuschung, er ist fulminante wahrhaftige Tatsache, volles kräftiges reines Erspüren und zugleich begeisterndes größtes Vergnügen!
Ein hochinteressanter inszenatorisch-musikalischer Einfall ist das Duett von Tempo und Disinganno „Il bel pianto dell’aurora“ (Die schönen Tränen des Morgens). Dieses Duett ist der letzte musikalische Auftritt von Zeit und Erkenntnis im Stück. Lawrence Zazzo und Charles Workman verlassen die Bühne zum Publikum hin jeweils am Bühnenrand. Sie singen dieses Duett parallel links und rechts langsam die Publikumsreihen hinaufschreitend. Ich sitze in Reihe 20. Brillant, rein und klar spüre ich die Stimmen immer näher bei mir zugleich immer tiefer in mir. Ich bin hingerissen. Mich beeindruckt die perfekte stimmliche Abstimmung der beiden über die große Entfernung der etwa 25 Meter breiten Publikumsreihen.
Die Schönheit, Bellezza, singt Regula Mühlemann. Mühelos, sicher, strahlend, leicht ist ihre Stimme. Die arme Schönheit, ich leide mit ihr!, wird von Vergnügen, Erkenntnis und Zeit gnadenlos in die Zange genommen. Kurz vor dem – wahrscheinlich päpstlich gewollten geläuterten Ende – ist sie ein schluchzendes kleines unter den Tisch kriechendes Häufchen Elend. Wunderbar singt Regula Mühlemann das. Ihr mich ergreifendster Moment ist die leise das Oratorium beschließende Arie „Tu del ciel ministro eletto“ (Erhabener Botschafter des Himmels). Sie ganz allein im weißen Negligé in der leergeräumten großen dunkelschwarzen Bühne. Fein, zart, fragil, in mir entspringt wohlige Wärme, singt sie diese Arie. Pur und schön.
Inszenatorisch scheinen ab und an Schwierigkeiten auf, das handlungsarme Oratorium trotz bildlicher Opulenz in mir in Schwung zu halten. So verliert ein die Bühne in voller Höhe und Breite ausfüllender Spiegel, den das Publikum ins Geschehen einbezieht, im Lauf des zweiten Teils in mir an Wirkung. Dieser Eindruck ist im Kontrast für mich bedeutsam, da ich mit dem Ende einen der stärksten Momente mit gänzlich leerer Bühne sehe.
Jedoch ist das alles eher zweitrangig für mich. Große Klasse sind die vier Sängerinnen und Sänger. Sie begeistern völlig zu Recht den kompletten Saal. Bravi, Standing Ovations, stürmischer Jubel. Die intime Zartheit der geläuterten Schönheit, die grandiosen leisen Momente dieses Nachmittags, die hole ich mir in Gedanken danach so oft zurück, wie ich nur kann.
Frank Heublein, 9. August 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Georg Friedrich Händel „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“
Besetzung
Bellezza Regula Mühlemann (Sopran)
Piacere Cecilia Bartoli (Sopran)
Disinganno Lawrence Zazzo (Countertenor)
Tempo Charles Workman (Tenor)
Dirigent Gianluca Capuano
Les Musiciens du Prince-Monaco
Regie Robert Carsen
Bühne und Kostüme Gideon Davey
Licht Peter Van Praet, Robert Carsen
Choreografie Rebecca Howell
Video rocafilm