Händels "Agrippina" an der Royal Opera London als musikalische Farce leuchtet in Barrie Koskys High-Tech-Inszenierung

Royal Opera House London, 11. Oktober 2019
George Frideric Handel, Agrippina, Libretto Vincenzo Grimani,
Dramma per Musica in drei Akten, Koproduktion mit der Bayrischen Staatsoper München, der Dutch National Opera, der Staatsoper Hamburg, und dem Palau De Les Arts Reina Sofia, Valencia

von Charles E. Ritterband

Das Bühnenbild ist eiskalt, ein fast unerträglich nüchtern-zweckhaftes Bürohaus aus Glas, Chrom und Stahl mit aufwendig verschiebbaren Elementen auf Rollen und klinisch weißen Intérieurs. Eine Metapher für die Hauptfigur von Händels Oper, einem überaus erfolgreichen Jugendwerk. Denn eiskalt, ist sie, die kalt berechnende, machtbesessene, manipulativ agierende und alle psychologischen und politischen Fäden ziehende Agrippina, die über Leichen geht und nur eines will: ihren debilen Sohn Nero auf den Thron des Römischen Kaisers zu hieven. Was ihr, die als Frau in einer brutalen, intriganten, machthungrigen Männerwelt zu agieren hat, auch gelingt.

Allerdings um einen hohen Preis: Der missratene Sohn, nicht minder Machtmensch wie Agrippina, Schwester des schrecklichen Kaisers Caligula, wird die Mutter (damals erst 43 Jahre alt) brutal aus dem Weg schaffen. Doch davon ist in diesem epochalen Werk (noch) nicht die Rede. Barrie Kosky – wir erinnern uns lebhaft an die kürzlich hier gesehene, heiß umstrittene „Carmen“ mit der bühnenfüllenden Metalltreppe und der Carmen im Gorilla-Kostüm – inszeniert diese „Agrippina“ als turbulente Farce, mit viel Slapstick und einem grotesk debilen Thronprätendenten Nero. Alle hier spinnen – Neurotiker, Exzentriker, Halbwahnsinnige mit irgendwelchen Ticks, doch Agrippina handelt strategisch, emotionslos und völlig rational. Und die wunderschöne Poppea fällt auf ihr Ränkespiel herein, schwankt zwischen Wut und enttäuschter Liebe. An witzigen Details fehlt es nicht: beispielsweise im grell erleuchteten Luxus-Apartment der Poppea, in das sie die erfolglosen Freier und auch ihren geliebten Ottone lotst – der elektrische Türgong spielt das abgegriffene „Halleluja“ des nämlichen Komponisten, allerdings in grotesk verzerrter Form.

So humorvoll und parodistisch die Sache auch sein mag – die stimmlichen Darbietungen und das virtuose Agieren des Orchestra oft the Age of Enlightenment unter der inspirierten, temperamentvollen Stabführung von Maxim Emelyanychev sind geradezu atemberaubend.

Allen voran der Weltstar Joyce DiDonato, deren schauspielerische Leistungen hinter der überragenden stimmlichen Präsenz um nichts zurückstehen. Sie hat ihre weiblichen Waffen, ihre gezielt eingesetzte sexuelle Verführungskraft streng unter Kontrolle – ebenso wie ihre wunderbar schöne, variable Stimme, mit der sie Händels trickreiche Partitur präzis und elegant, voll subtilster Farbschattierungen meistert.

In dieser Oper dominieren schauspielerisch und musikalisch zwei Frauen – und dieser Agrippina von Joyce DiDonato steht die Poppea, Rivalin und Antagonistin der Kaiserin, von Lucy Crowne um nichts nach. Ihre Koloraturen sind atemberaubend, scheinbar völlig mühelos schwingt sie sich in schwindelnde Höhen und steigt hinab in Tiefen, wenn sie sich von ihrem Geliebten verraten und getäuscht wähnt.

Unter den – allesamt hervorragenden – männlichen Darstellern ragt der argentinische Countertenor in der Rolle des Nero sowohl stimmlich als auch schauspielerisch hervor. Er spielt den geistig beschränkten Sohn der Agrippina mit allen physischen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen: sein seltsam verbogener Gang, seine verzerrte Mimik, sein unmännliches Verhalten – ein Versager, ein verzogenes Muttersöhnchen, stets an den Rockschößen seiner dominanten Mama.

Dazu passt präzise die hohe Stimme des Countertenors, die hier – im Kontrast zu den anderen Sängern – den Mangel an Männlichkeit verkörpert. Fagioli ist nicht nur ein virtuoser Händel-Spezialist – er gilt geradezu als Phänomen. Mit schwereloser Leichtigkeit meistert er die schwierigsten Passagen und extremsten Tempi. Wie die Poppea der großartigen Lucy Crowne  erklettert er schnörkelreiche Koloraturen in schwindelerregende Höhen mit traumwandlerischer Sicherheit.

Sein Gegenstück ist mit hell schwingender Altstimme der Ottone des Iestyn Davies. Der siegreiche Feldherr Ottone wird am Ende, nach vielen Irrungen und Windungen, mit Poppea vereint sein. Später allerdings kriegt sie Nero dann doch – mehr darüber in Monteverdi’s „L’Incoronazione die Poppea“. Als Kontrast der wunderbar männlich-sonore Bass von Gianluca Buratto als Claudio – Kaiser von Rom, Gatte der Agrippina, und glücklos in Poppea verliebt.

Der nur 24 Jahre alte Händel hatte mit diesem Jugendwerk seinen Durchbruch als Komponist geschafft. „Agrippina“ lancierte ihn auf die europäischen Bühnen. Doch sollte es erstaunlicherweise mehr als 300 Jahre dauern, bis die Royal Opera – Großbritanniens Flaggschiff unter den Opernhäusern und „Hausoper“ für den England-affinen Händel – „Agrippina“ endlich auf die Bühne brachte. Allerdings mit Starbesetzung, einem brillanten Orchester und Dirigenten und in einer spektakulären, ebenso spritzigen wie intelligenten Inszenierung.

Dr. Charles E. Ritterband, 13. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Regie: Barrie Kosky
Bühnenbild: Rebecca Ringst
Agrippina: Joyce DiDonato
Poppea: Lucy Crowne
Nerone: Franco Fagioli
Claudio: Gianluca Buratto
Ottone: Iestyn Davies
Narciso: Eric Jurenas
Pallante: Andrea Mastroni
Kostüme: Klaus Bruns
Dirigent: Maxim Emelyanychev
Orchestra oft the Age of Enlightenment

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