Dieser Berliner "Prophet" ist ein kraftvolles Statement gegen Krieg

Giacomo Meyerbeer, Le Prophète,  Deutsche Oper Berlin

Foto © Marcus Lieberenz
Deutsche Oper Berlin
, 16. Dezember 2017
Giacomo Meyerbeer, Le Prophète

von Sebastian Koik

Elena Tsallagova ist eine Wucht! Für diejenigen, die sie noch nicht kennen, ist sie die Entdeckung des Abends! Die russische Sopranistin ist seit 2013 Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin. Sie liefert von Anfang bis Ende eine Weltklasse-Leistung ab und ist ganz allein schon das Eintrittsgeld und die Anreise ins Opernhaus wert!

Ihre Stimme ist sehr dicht und klingt jederzeit wunderbar natürlich! Es liegt nichts Verzerrtes oder angestrengt Wirkendes darin, in keinem Moment klingt sie auch nur eine Spur kreischend oder schrill. Elena Tsallagova ist in jeder geforderten Tonlage höchst souverän. Ihre klar strahlenden Höhen bezaubern, ihr Vortrag erinnert gelegentlich stark an schönsten Vogelgesang. Mehrfach sorgt sie für die schönsten Momente des Abends und erzeugt Gänsehaut. Im dritten Akt geht ihr Gesang in Mark und Bein. Wann immer diese wunderbare Sopranistin an diesem Abend singt, scheint die Zeit stillzustehen. Sie klingt in jedem Moment sensationell, hat langen Atem und Ausdauer für vielstündige Opernabende.

Auch darstellerisch verkörpert sie die Rolle der Berthe perfekt. Was Elena Tsallagova hier abliefert ist ganz, ganz groß!

Bei den Herren und insgesamt am zweitbesten begeistert Seth Carico als Graf Oberthal. Seit der Spielzeit 2012/2013 gehört der Amerikaner Carico zum Ensemble der Deutschen Oper Berlin. Der Bassbariton, der auch in höheren Lagen glänzen kann, überzeugt mit herrlich schönen warmen und sonoren Klangfarben in den tieferen Lagen. Seine Stimme ist groß, erfüllt leicht und höchst souverän den Raum. Auch darstellerisch beeindruckt er mit enormer Bühnenpräsenz und giftiger Bösartigkeit in der Rolle des bösen Grafen.

Gregory Kunde in der Rolle des „Propheten“ Jean de Leyde tritt ebenfalls beeindrucked auf, präsentiert bei seinem ersten Auftritt ebenfalls eine große und dichte Stimme. Der Tenor wirkt zunächst sehr souverän und begeistert schön und warm in den Tiefen, in den höheren Lagen wirkt der Amerikaner an diesem Abend aber meist etwas dünn.

Clémentine Margaine als Jeans Mutter Fidès begeistert darstellerisch, verkörpert eine sehr glaubwürdige Mutter in dieser komplizierten Mutter-Sohn-Beziehung. Anders als bei der an diesem Abend fast überirdisch starken Elena Tsallagova klingt Clémentine Margaines Stimme bei dieser Aufführung ein wenig unnatürlich, gepresst, etwas eng. Allerdings schenkt die Mezzosopranistin dem Publikum viele große Momente. Zum Beispiel in vorwurfsvollen und liebenden Anrufen an ihren Sohn. Das packt, und hier bringt Clémentine Margaine sehr viel sehr glaubhafte mütterliche Emotion und Tragik in ihre Stimme. Das ist groß. Doch zwischen diesen großen Momenten ist ihr Gesang immer wieder leicht blass und leidet an den genannten Schwächen.

Der Chor der Deutschen Oper Berlin gefällt vor allem bei den beeindruckend inbrünstig vorgetragenen lauten Stellen.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Enrique Mazzola kann leider nicht wie gewohnt glänzen. Der italienische Dirigent Mazzola ist die einzige Enttäuschung des Abends. Während er die Ouvertüre noch ganz wunderbar anleitet, fehlt ihm später die Linie, und er schafft es nicht, die Musiker in einen Fluss zu bringen, den das Orchester sonst regelmäßig präsentiert. Mal wirkt die Musik unter seiner Anleitung leicht zu schnell, mal leicht zu langsam, sehr selten richtig. Es gibt keine musikalische Spannung. Außer in der Ouvertüre hat das Orchester nicht wirklich weitere Glanzmomente. Der Künstlerische Leiter und Musikdirektor des Orchestre Nationale d‘ Île de France tritt beim Schlussapplaus pariserisch elegant auf, doch seine Arbeit im Graben trägt leider nicht wirklich viel Glamour zu diesem ansonsten sehr gelungenen Opernabend bei.

Seit Jahren arbeitet der Regisseur Olivier Py erfolgreich mit dem Bühnenbildner Pierre-André Weitz zusammen. Während Weitz‘ Kostüme in Pastellfarben und in großer indivuellen Ausgestaltung bei jedem einzelnen Mitglied des Chores extrem ansprechend sind, hat er beim Bühnenbild kein ganz so glückliches Händchen. Es bewegt sich sehr viel, die Szenerie ist visuell abwechslungsreich und kann in vielen Formen und gut choreographiert bespielt werden.

Doch manches wird ohne tiefergehendes Programmstudium nicht deutlich: Wieso sieht der gräfliche Palast genauso arm und grau und trist aus wie der Rest der Kulissen? Wieso ist alles grau, außer den bunten Werbetafeln und dem roten Königsmantel Jeans zum Schluss? Was sollen die Unterwäsche-Werbetafeln bedeuten? Irgendwann hat man als Zuschauer genug von den ewig farblosen Szenerien.

Die Inszenierung von Olivier Py gefällt, hat Aussage und viel Charakter, besonders im zweiten Akt, als die sich drehende Bühne zu einem großen Kriegskarussel und zu einer wunderbaren Veranschaulichung der Schrecken des Krieges wird. Im Überlebenskampf heißt es: Jeder gegen jeden. Jeder für sich. Viele sind Opfer und Täter zugleich. Eine Ballerina in weißem Nachthemd wird zur visuellen Perle der gesamten Oper: Herrlich schön tanzt sie durch die sich drehenden und dann schneller drehenden Kriegskulissen. Immer wieder kann sie sich dank ihrer Geschicklichkeit versuchten Übergriffen durch herumwütende Soldaten entziehen. Doch auch sie kann zur Täterin werden, bleibt nicht unschuldig. Einer noch schutzloseren Gestalt versucht sie das karge Essen zu entreißen. Es scheint, als könnte sie mit ihrer Raffinesse und Beweglichkeit als einzige dem sie umgebenden Rausch aus Gewalt und Tod entkommen.

Doch falsch. Auch sie wird irgendwann kalt erschossen und landet in einem der Särge, der in einer sehr eindrücklichen Szene in einem kostanten und immer dichteren Strom von links nach rechts über die Bühne getragen wird.

Welch‘ starkes Antikriegs-Bild! Die ehemals Unterdrückten sind jetzt am Drücker, jetzt haben sie die Waffen in der Hand und agieren genauso brutal wie zuvor ihre Unterdrücker. „Tanzen wir auf ihren Gräbern! Blut!“

Gewalt und Gegengewalt. Und Rache. Eine ewige Spirale, in der alle verlieren.

Hier werden die Werbetafeln erstmals leicht verständlich eingesetzt: Sie zeigen links und rechts jeweils Jerusalem. Diese treffende Verbindung zum scheinbar unendlichen Nahost-Konflikt wird in dieser Szene von einem Zuschauer mit heftigsten Buh-Rufen quittiert.

Das Publikum kommentiert diesen zweiten Akt voller Gewalt, Vergewaltigung und Tod am Ende mit selten lauten und zahlreichen Buh-Rufen. Genauso laut und zahlreich sind die Bravo-Rufe und der Applaus. Dieser zweite Akt ließ offenbar keinen Zuschauer kalt. Es war ein sehr bewegender und kraftvoller Akt mit großer Wirkung. Das allein ist sehr stark und ein großer Regie-Erfolg!

Ganz zum Schluß wird der zwischenzeitlich entthronte Graf wieder an die Macht gebracht. Alles bleibt beim Alten wie auch schon im Intermezzo der ebenso blutigen und ungerechten Herrschaft des „Propheten“ und Revolutionärs Jean de Leyde.

Sebastian Koik, 17. Dezember 2017, für
klassik-begeistert.de

Musikalische Leitung Enrique Mazzola
Inszenierung Olivier Py
Bühne, Kostüme Pierre-André Weitz
Licht Bertrand Killy
Chöre Jeremy Bines
Kinderchor Christian Lindhorst
Dramaturgie Jörg Königsdorf, Katharina Duda
Jean de Leyde Gregory Kunde
Fidès Clémentine Margaine
Berthe Elena Tsallagova
Zacharie Derek Welton
Jonas Gideon Poppe
Mathisen Noel Bouley
Graf Oberthal Seth Carico
Chor der Deutschen Oper Berlin
Kinderchor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Opernballett der Deutschen Oper Berlin

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