Foto: © Magali Dougados
Grand Théâtre de Genève, 28. Februar 2020
Giacomo Meyerbeer, Les Huguenots
von Jürgen Pathy
Chancen sollte man nutzen, wenn sie sich einem bieten – vor allem, wenn sie so selten sind. Mit „Les Huguenots“ bringt das Grand Théâtre de Genève ein Meisterwerk auf die Bühne, das in Genf vor rund neunzig Jahren zum letzten Mal aufgeführt wurde. Kein Wunder. Meyerbeers Grand Opéra zu stemmen, stellt ein jedes Opernhaus vor große Herausforderungen – finanziell als auch organisatorisch. Rund zwanzig Solisten, eine Schar an Statisten, ein überdimensionaler Chor und ein voll besetzter Orchestergraben sind vonnöten, um dieses opulente Spektakel, das rund vier Stunden dauert, überhaupt auf die Beine zu stellen. Damit das Ding zieht, wirkt und begeistert, erfordert es noch dazu eine handvoll hervorragender Gesangssolisten, einen umsichtigen Dirigenten inklusive großartigem Orchester. In Genf stehen zum Glück alle zur Verfügung.
Mit Marc Minkowski hat Intendant Aviel Cahn einem Kenner der französischen Oper vom Barock bis zur Romantik die musikalische Leitung anvertraut. Ein Erfolg auf allen Linien! Was Marc Minkowski und das Orchestre de la Suisse Romande an diesem Abend aus dem Orchestergraben zaubern, verdient das Prädikat “hervorragend“. Von den ersten Geigen, über die Solisten an der Klarinette und Querflöte, bis hin zum Solo-Cellisten, der regelmäßig musikalische Zitate einstreut, die stark an Bachs Cello-Suiten erinnern, alles hervorragende Musiker. Musikgenuss auf höchstem Level!
Überhaupt decken die „Hugenotten“, wie Meyerbeers 1836 uraufgeführte Oper auf Deutsch genannt wird, ein breites Spektrum der Musik ab. Verdi und Bach treffen auf Richard Wagner, könnte man es vereinfacht ausdrücken – vor allem im Orchestergraben. Doch nicht nur das berauschende Elixier, das Marc Minkowski aus dem Graben strömen lässt, lässt Assoziationen mit Richard Wagner zu, auch der tiefe Schlund in der Genfer Oper erinnert stark an das Bayreuther Festspielhaus. In kaum einem anderen Opernhaus auf dieser Welt wurde der Orchestergraben derart tief in den Boden getrieben. Selbst aus Reihe 7 im Parkett, erblickt das Auge keinen einzigen Musiker des Orchesters. Um da ordentlich Dampf zu erzeugen, muss im Genfer Orchestergraben genauso mächtig eingeheizt werden, wie im „mystischen Abgrund“ in Bayreuth. Kesselmeister Marc Minkowski zeichnet sich dabei als exquisiter Heizer aus, der die Dynamiken fest im Griff hat und seine Sänger auf einem samtweichen Klangteppich hofiert. Niemals zu laut, niemals zu leise, immer fein ausbalanciert und von herrlicher Harmonie geprägt. Ein Traum für jeden Sänger.
Die danken es dem Großmeister mit sensationellen Leistungen. In der Partie des Raoul de Nangis besticht Mert Süngu in allen Lagen. Obwohl ihm von der Regie einige Hürden in den Weg gelegt wurden, lässt es sich der gebürtige Türke kaum anmerken, dass er die Partie an diesem Abend zum ersten Mal singt. Ganz im Gegenteil! Im Stile eines großen „Tenore die grazia“, der elegant zu phrasieren vermag, mit einer flexiblen Stimmführung vertraut ist und ein süßes, enorm helles Timbre sein eigen nennt, gestaltet er die anspruchsvolle Partie mit schier unersättlichen Kräftereserven. Mert Süngü lässt diese Monsterpartie, die jeden lyrischen Tenor vor eine Herausforderung stellt, wirken, als gäbe es nichts Leichteres auf dieser Welt.
Nicht weniger überzeugend, Rachel Willis-Sørensen als Valentine. In der ebenso schwierigen, wie gewichtigen Partie, in der die gebürtige Amerikanerin eine katholische Adelstochter spielt, die sich unsterblich in den Protestanten Raoul verliebt, kann Willis-Sørensen mehr als nur reüssieren. Nicht nur die vielen hohen Cs, die noch dazu oft sehr lange gehalten werden müssen, meistert die erfolgsverwöhnte Sopranistin scheinbar spielend leicht, auch die absteigende chromatische Skala der Partie, die über eine Tessitura von knapp 2,5 Oktaven erfordert, beherrscht sie wie aus dem Effeff. Am Ende lautstarker Jubel!
Zurecht übertroffen wird dieser nur bei einer Sängerin, deren Leistung an diesem Abend als intergalaktisch bezeichnet werden kann: Léa Desandre. Was die junge Französin aus ihrem zarten Körper zaubert, ist phänomenal! Nahtlos und bruchlos schwingt sie sich zu den höchsten Koloraturgirlanden empor, schwebt mit der Anmut einer Libelle über die Bühne und verliert trotz Schmelz und Hingabe niemals die Kontrolle über ihren Mezzo-Sopran, der in einem hellen Timbre leuchtet. Die Hosenrolle des Urbain dürfte im Augenblick kaum besser zu besetzen sein.
Anna Durlovski komplettiert das erfolgreiche Frauen-Trio und kann in der virtuosen Koloraturpartie der Marguerite de Valais ebenso überzeugen. Michele Pertusi beeindruckt als Marcel, Laurent Alvaro als Le Comte de Saint-Bris und Alexandre Duhamel als Le comte de Nevers. Durch die Bank eine großartige Sängerbesetzung.
Einzig der Regie wegen, muss sich Intendant Aviel Cahn, der das Genfer Opernhaus seit dieser Saison leitet, der Kritik stellen. Um Meyerbeers „Les Huguenots“ zu inszenieren, benötigt es keine vagabundierenden Zombies, Requisiten oder Sänger, die wie tragikomische Figuren aus einem Woody Allen-Film agieren. Die sorgen zwar für den einen oder anderen Schenkelklopfer, lassen den Bezug zur Geschichte jedoch völlig vermissen. Mit den „Hugenotten“ greift Meyerbeer das historische Drama über den Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken auf. Weshalb das Regieduo Jossi Wieler & Sergio Morabito dieses Drama, das im Gemetzel der Bartholomäusnacht gipfelt, an einem Hollywood-Set der 1930er-Jahre ansiedeln, bleibt nicht nur undurchsichtig, sondern schwachsinnig. Regietheater „par excellence“.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 1. März 2020, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at