Foto: © Dirk Bleicker
Händel, Hasse, Vinci: Ihre Welt scheint so weit weg. Man verlässt den Konzertsaal und tritt ins Heute. Social Media, Globalisierung, Freiheit, Komfort … Nur: Stecken unter all dem nicht immer noch der alte Adam, die alte Eva mit ihren Lastern und Tugenden, Hoffnungen und Ängsten? Man stelle sich Lady Gaga auf einer barocken Opernbühne vor. Das passt erstaunlich gut.
von Gabriele Lange
Wenn’s nervenaufreibend wird oder ich meine Gedanken ordnen muss, höre ich Barockmusik. Und so sitze ich in unserem Hotelzimmer in Venetien und spiele „Mio caro Händel“, ein Album von Simone Kermes. Ihre mühelos in die Höhen schwebende Stimme füllt den Raum, während ich auf dem Handy nach aktuellen Infos zur Verbreitung des Coronavirus suche – und auch, als wir unsere Sachen packen, um vorzeitig heimzukehren.
Das sich leerende Hotel, die Gesichtsmasken der Einkaufenden und die Straßensperren einige Kilometer vom Urlaubsort entfernt demonstrieren, wie schnell das Fundament unseres vergleichsweise bequemen Lebens bröckeln kann. Krieg, Verzweiflung, Katastrophen, Kälte, Not, unerschwingliche oder unerreichbare medizinische Versorgung – für meine und die folgenden Generationen wirkt das alles weit weg. Uns geht’s doch gut…
Wer allerdings bereit ist, mit offenen Augen auf die Welt jenseits unserer Komfortzone zu blicken, wusste immer schon, wie privilegiert wir sind. Zurzeit.
Doch selbst wenn man versucht, ohne Scheuklappen durchs Leben zu gehen – es fühlt sich anders an, wenn die Realität tatsächlich Risse in die schützende Blase reißt. Da gleitet man eben noch entspannt durch den Thermalpool – und jetzt soll man darüber nachdenken, wie man mit dieser plötzlich sehr persönlichen Bedrohung durch eine globale Epidemie umgeht.
Himmel und Hölle
Unser „normales“ Sicherheitsgefühl wäre für einen Menschen aus dem Barock wohl ein unerreichbares Paradies. Seuchen bedrohten auch die Privilegierten, eine Hungersnot war für die Mehrheit nur eine Missernte entfernt … Umso mehr beeindruckt mich, wie in dieser Zeit eine Musik von solch überirdischer Schönheit entstehen konnte. Und mich fasziniert, wie sich im Barock vermeintlich unvereinbare Extreme zu einem harmonischen Ganzen fügen: Wut, Verzweiflung, Trauer, Liebe, Eros – die ganz großen Gefühle werden intensiv ausgedrückt, wilde Koloraturen scheinen manchmal jede Grenze zu sprengen. Und doch ist alles eingebunden in eine klare Struktur, die Form gibt, ohne einzuschränken. Und wie schlimm auch die Enttäuschung, die Angst, die Verlassenheit, die Not einer Figur ist – die Musik trägt mich in andere Sphären. Händel, Hasse, Scarlatti, Vivaldi und andere beherrschten die Kunst, Hoffnung, Licht, Gelassenheit in Noten zu gießen – und das Leben zu feiern.
Unser Leben in Mitteleuropa hat sich besonders in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg scheinbar unendlich weit von der Realität der Menschen im Barock entfernt. Auch religiöse Überzeugungen spielen keine wesentliche Rolle mehr. Vor einer konkreten Hölle fürchtet sich, auf eine Belohnung im Paradies wartet nur eine Minderheit.
Todsünden und Tugenden
Doch das heißt nicht, dass die Idee der Sünde deshalb keine Relevanz mehr hat. Ganz im Gegenteil, findet Simone Kermes, deren Händel-Arien mich in Abano beruhigt haben. Ihr neues Album „Inferno e Paradiso“ stellt die sieben Todsünden in den Mittelpunkt: Hochmut, Geiz (Habgier), Wollust (Ausschweifung), Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit (Feigheit, Ignoranz) sind für sie ganz aktuelle Themen – angesichts von Klimakatastrophe, Artensterben, Terroranschlägen und Kriegsrhetorik. Als Gegenpol und hoffnungsvollen Kontrapunkt setzt sie sieben Stücke zu den korrespondierenden Tugenden Demut, Geduld, Wohlwollen, Keuschheit, Tapferkeit, Mildtätigkeit, Mäßigung.
Sie verdammt keinesfalls die Lust am Exzess. Sie möchte jedoch daran erinnern, dass es notwendig ist, Ausschweifung mit Mäßigung auszubalancieren.
Kermes, die ihre Programme sorgfältig zusammenstellt, hat mehrere Jahre an diesem Projekt gearbeitet. Zunächst versuchte sie, zu allen Sünden und Tugenden passende Stücke aus dem Barock zu finden. Bei der Recherche stieß sie unter anderem auf Johann Adolf Hasses Arie „Non ha piú pace“ – ihre Fassung ist zugleich eine Welt-Ersteinspielung. Neben Arien von Händel, Vivaldi, Caldara, Bononcini, Broschi, Albinoni, Vinci und Bach gibt es einige Premieren, die dem unaufmerksamen Hörer zunächst zum Teil entgehen dürften. Als mein Mann mir vor einigen Tagen beim Frühstück mit Entdeckerstolz „Fields of Gold“ vorspielte, war ich ratlos. Bei „Stairway to Heaven“ ging mir ein Licht auf, bei „Pokerface“ war ich schlicht begeistert – und bei den aberwitzigen Koloraturen und Spitzentönen zu „aber bitte mit Sahne!“ zugleich amüsiert und hingerissen. Kermes schlägt die Brücke zwischen Barock und Moderne, indem sie die Songs von Sting, Led Zeppelin, Lady Gaga und Udo Jürgens mit Perfektion (und Humor) ins barocke Gewand kleidet.
Simone Kermes: Stairway to Heaven
Das Original von Led Zeppelin
Für die Übertragung und barocke Instrumentierung ist der finnische Arrangeur Jarkko Riihimäki verantwortlich. Das von Kermes gegründete Orchester Amici Veneziani spielt die Songs auf Originalinstrumenten.
Das Ergebnis überzeugt. Die furchtlose Sängerin, die unter anderem bereits ein Projekt mit der Avantgarde-Sängerin Mona Mur und FM Einheit von den Einstürzenden Neubauten verwirklicht hat – und die Spaß daran hat, als Zugabe auch mal „Atemlos“ zum Besten zu geben –, bleibt bei den neuen Arien ganz bei sich. Sie geht bis an die Grenzen, hält sich aber streng an die barocken Strukturen. Und plötzlich merkt man, dass es bei „Stairway“, das meiner Generation vor allem als Vorwand für engeren Körperkontakt unter der Discokugel im Pfarrkeller diente, eigentlich um die Vorstellung geht, dass alles käuflich ist. Man spürt die Sanftmut in Stings „Field of Gold“ noch intensiver, stellt sich Gaga im exzentrischen Kostüm als Alcina vor – und Rubens‘ Modelle bei der harten Arbeit an ihren üppigen Figuren.
Simone Kermes: Pokerface
Das Original von Lady Gaga
Ich habe Simone Kermes zu „Inferno e Paradiso“ einige Fragen gestellt.
Sie haben sich gefreut, endlich mal solche Stücke singen zu können. Mögen Sie auch das Original der Wollust-Arie von Lady Gaga? Hören Sie sie vielleicht sogar privat? Was halten Sie von ihr?
„Ich höre sehr viel Independent-Rock und alte Rockmusik. Die Originalversion von Lady Gaga finde ich nicht so ideal. Aber der Titel ist sehr bekannt, man kann dazu tanzen und Spaß haben. Seit ich allerdings Lady Gagas Film „A Star is born“ gesehen habe, hat sie für mich alle Klasse dieser Welt. Sie ist eine Sängerin – eine tolle Sängerin und Schauspielerin. So modern, so politisch, so energisch, einfach fantastisch – großes Kino! Ich bewundere sie. Ich würde sie gern treffen und mit ihr Koloraturen singen. Wäre doch spannend zu sehen, wie hoch sie kommt mit ihrer Stimme!“
Sie sagen, dass Sie nicht viel von Opern-Pop-Crossover halten. Was genau stört Sie daran, wenn Opernsänger versuchen, im Pop- oder Rock-Stil zu singen?
„Das kann Kitsch werden, da gibt es dann zu viel Vibrato. Die Stimmen klingen in diesem Kontext altmodisch. So geht das nicht! Es muss doch natürlich klingen – und leicht.“
Haben Sie Lust, Beispiele zu nennen, wo das besonders schiefgegangen ist?
„Das macht man nicht unter Kollegen… Aber ich konnte fast nichts ernst nehmen.“
Sie wollten keine Crossover-Versionen aufnehmen, sondern das moderne Material konsequent in den Barock übertragen. Wie konnte das überzeugend gelingen?
„Das Arrangement ist so wichtig! Es muss von hoher Qualität sein und genau für den Sänger passen. Jarkko Riihimäki hat das für mich perfekt umgesetzt. Er ist genial.“
Ich wäre begeistert, wenn es mehr solche Übertragungen gäbe – haben Sie und Jarkko Riihimäki schon daran gedacht, weitere Songs als Barockarien zu adaptieren?
„Ich wünsche mir mehr. Die vier auf dem Album sind zu wenig. Ursprünglich hatte ich übrigens sieben geplant. Schließlich sind es sieben Todsünden und sieben Tugenden. Die Plattenfirma hatte da erst mal Bedenken. Aber jetzt konnte ich in den Kritiken lesen, dass auch andere Lust auf mehr haben. Ein zweites Album von diesem Projekt mit modernem Material wäre eine schöne Idee.
Wir fahren seit ein paar Jahren Barock-Konzerten und -Opernaufführungen in Deutschland hinterher und haben das Gefühl, dass die Besucherzahlen abnehmen. Haben Sie auch diesen Eindruck – und falls ja, woran könnte das liegen?
„Ja, es gibt da Unterschiede beim Publikum. Es kommt darauf an, wer der Solist ist und wo man hinfährt. Ich kann nicht sagen, dass meine Zahlen schwinden – sie wachsen eher an. Vor allem habe ich zunehmend auch junges Publikum. Ich hoffe, das steigert sich weiter. Aber man muss kämpfen – und das Publikum muss akzeptieren, dass eine solche Veranstaltung auch etwas kostet, dass damit viel Arbeit und Risiko verbunden ist.“
Simone Kermes hat ihr Schicksal schon lange in die eigenen Hände genommen. Sie managt sich selbst, sie organisiert ihre Konzerte, sie hat ihr eigenes Orchester – sie trägt Verantwortung und Risiko. Das gibt ihr die Freiheit, ihre künstlerischen Visionen zu verwirklichen, sich ihre Partner und Projekte selbst auszusuchen. Ab Mitte März geht sie mit „Inferno e Paradiso“ auf Tour. Ich bin gespannt, wie sie das Album live umsetzen wird.
Gabriele Lange, 02. März 2020, für
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Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die Carmen führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr dagegen ein. Sie startete dann erst mal ein Geschichtsstudium. Die Magisterarbeit über soziale Leitbilder im Spielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu stören, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Als Textchefin in der Computerpresse erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets. Sie versuchte derweil, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die Computerpresse erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen später ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Lehrer-Kurs zum Thema Medienkompetenz. Musikalisch mag sie sich auch nicht festlegen. Die Liebe zur Klassik ist über die Jahre gewachsen. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt noch so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de .