La Bohème in Wuppertal: Liebe und Leid im Pappkarton – ein Meisterwerk moderner Opern-Regie!

Giacomo Puccini, La Bohème (Premiere),  Oper Wuppertal, 2. November 2019

Foto: © Jens Grossmann

„Immo Karaman und Fabian Posca entführen das Publikum in ihre ebenso detailversessen wie liebevoll erzählte Künstlerwelt aus dem Pariser Quartier Latin und werden für diese Interpretation mit stehenden Ovationen gefeiert. Wann kommt es vor, dass beim Erscheinen des Regieteams beim Schlussapplaus der Beifallssturm noch einmal enthusiastisch aufbrandet?“

Oper Wuppertal, 2. November 2019
Giacomo Puccini, La Bohème (Premiere)

von Ingo Luther

Warum ist die Erfolgsgeschichte von La Bohème an den Opernhäusern rund um den Globus seit ihrer Uraufführung 1896 in Turin ungebrochen? Warum zählt Puccinis Meisterwerk zu den am häufigsten gespielten und in Tondokumenten konservierten Opern? Wer hierauf eine Antwort sucht, der findet sie an diesem Abend im Wuppertaler Opernhaus.

La Bohème handelt von Menschen. Menschen, die lieben, leiden, sich streiten, verzweifeln, die krank werden und die letztlich sterben. Puccini erzählt seine Geschichte ohne böse Grafen, brutale Feldherren und ohne Anleihen aus der mythischen Götter- und Sagenwelten. Die Handlung zeigt das Leben von jungen Menschen – Studenten und Künstler im Pariser Quartier Latin. Musik und Szenen sind von unmittelbarer Wirkung und bilden zusammen mit dem Libretto eine absolute, symbiotische Einheit – das trifft mitten ins Herz! Eine „Empathie-Oper“ im besten Sinne. Die Musik hat einen süß-melancholischen Suchtfaktor – der einmal abhängig gewordene möchte sich am liebsten tief in einer „La-Bohème-Dauerschleife“ verlieren und nie wieder loslassen.

Immo Karaman (Inszenierung und Bühne) und Fabian Posca (Kostüme und Choreografie) wissen um die magische Wirkung des ihnen anvertrauten Werkes und setzen das Wuppertaler Publikum einem wahren Feuerwerk aus liebevoll gezeichneten Bildern und märchenhaft gestalteten Kulissen aus. Künstler und Studenten sind selten wirklich sesshaft, sie ziehen umher und ihr gesamtes Hab und Gut befindet sich dabei häufig in Pappkartons.

Karaman und Posca lassen ihre Geschichte daher in einer Kunstwelt aus Pappe, Pappkartons und Packpapier spielen, die fernab der eigentlichen Realität stattfindet. Sämtliche Requisiten entstehen auf unglaublich einfallsreiche und kreative Art aus Pappe. Tische, Stühle, Lampen, Türen, der Ofen nebst kleinem Schornstein – die kleine Künstlerbehausung Rodolfos ist eine bildgewaltige Flut aus aufwändig hergestellten Papputensilien. Einfach berührend, wenn Rodolfo seiner angebeteten Mimi als Zeichen seiner Liebe eine aus einem Blatt Papier und einer Papprolle gebastelte Rose überreicht.

Foto: © Jens Grossmann

Auch im 2. Bild und während der ausgelassenen Feierlichkeiten im Café Camus wird die Szenerie aus Pappe konsequent und in noch gesteigerter Form fortgesetzt. Die Kostüme der Beteiligten bestehen aus Packpapier, große, aus Pappe ausgeschnittene Autos werden durch das Bild getragen, Häuserwände aus Papier, Fassaden aus Pappdeckeln – nur die Protagonisten selbst tragen normale Alltagskleidung.

Hierdurch entsteht ein spannender Kontrast zwischen der spielerischen Fantasiewelt aus Pappe und der realen Welt. Die Erzählweise funktioniert auf märchenhafte Art – die Bilder entwickeln einen magischen Sog, der das Publikum spielerisch in die Geschichte eintauchen lässt. Besser kann Opernregie nicht funktionieren!

Foto: © Jens Grossmann

Mit zunehmender Tristesse und dem Fortschreiten von Mimis Tuberkulose hält immer mehr Realität Einzug in das Bühnenleben. Schon der große, blaue Drache im zweiten und zu Beginn des dritten Bildes signalisiert das drohende Ende des lebensfrohen, unbeschwerten Parts der Geschichte – Krankheit, Leiden und Tod vertreiben die spielerische Leichtigkeit. Die Dinge nehmen zunehmend wieder sächliche Gestalt an und so werden am Ende die Erinnerungen und die Relikte der glücklichen Stunden in Pappkartons gepackt und nach und nach von der Bühne getragen. Das Leben geht an einem anderen Ort, in anderer Form, weiter. Zurück bleibt allein die tote Mimi. Das Schöne im Leben ist der Vergänglichkeit unterworfen, am Ende bleibt der Tod als finale Realität zurück.

Immo Karaman hat bereits in der Wuppertaler La Bohème von 1999 als Regieassistent fungiert – die damals klassische und wenig kreative Sicht auf das Werk ersetzt er 20 Jahre später mit einer kurzweiligen, fesselnden Interpretation, die Platz für eine neue, zeitgemäße Sicht auf das Werk freilegt. Kunstvoll und ohne jeden Kitsch bettet er die romantische Liebe zwischen Rodolfo und Mimi in ein fein gesponnenes Netz vom Erwachsenwerden, Selbstfindung und der Sinnsuche junger Menschen ein.

Zu dieser Deutung von Puccinis Dauerbrenner passt ein junges, unverbrauchtes und begeisterungsfähiges Team auf der Bühne. Hier gelingt der Wuppertaler Oper an diesem Premierenabend der nächste Geniestreich: Kann man die Künstlerfreunde Rodolfo, Schaunard, Marcello und Colline sowie deren weibliche Begleiterinnen Mimi und Musetta als eine homogene, fein aufeinander abgestimmte und glaubwürdig miteinander agierende Gruppe junger Menschen auf die Bühne projizieren? Man kann!

Aleš Jenis ist ein Marcello von jugendlicher Leichtigkeit und ungestümer Kraft. Der slowakische Bariton verkörpert den Maler mit klangschönem, temperamentvollem Timbre und einem samtenen Glanz. Auch an der Mailänder Scala, der New Yorker MET, der Deutschen Oper Berlin und einer Vielzahl von europäischen Häusern zählt Jenis daher zu den gern gesehenen Gästen. Mit Simon Stricker und Sebastian Campione als Schaunard und Colline  kann die Wuppertaler Oper zwei weitere Freunde aus der Pariser Künstler-WG aus dem eigenen Ensemble heraus besetzen. Dies gelingt auf einem gleichbleibend hohen Niveau.

Foto: © Jens Grossmann

Ebenfalls zum Wuppertaler Ensemble gehört seit der Saison 2016/2017 der junge Koreaner Sangmin Jeon. Die Tatsache, dass er  2012 in Mailand beim „Luigi-Illica-Wettbewerb“ als beste Puccini-Stimme ausgezeichnet wurde, kann als Fingerzeig in seiner Karriere verstanden werden. Sein Rollendebut als Rodolfo gerät zu einem Höhepunkt an diesem Abend.

„Che gelida manina“ – mit den ersten Berührungen von Mimis Hand beginnen die wohl am meisten mit dem Einsatz von Tempotaschentüchern begleiteten Momente der Musikgeschichte, die in der Vereinigung der Stimmen in „Oh soave fanciulla“ ihren Höhepunkt finden. Sangmin Jeon vermag diese einzigartigen Gänsehautmomente zu transportieren. Mit seinem schlanken, ungeheuer gefühlvollen Tenor verströmt er genau jene jugendliche Unbekümmertheit, aber auch innere Zerrissenheit, die Puccini seinem männlichen Hauptdarsteller in La Bohème zugedacht hat. Bravo!

Ihm zur Seite steht mit Li Keng eine junge Sängerin aus Taiwan, der man die harte Ausbildung an der römischen Stimmenschmiede Santa Cecilia anhört. Wo schon Beniamino Gigli und Cecilia Bartoli zu gesanglichen Sternenflügen ansetzten, hat sich Li Keng die Grundlagen für eine internationale Karriere erarbeitet. Sie ist noch in der höchsten Lage zu den zartesten Phrasierungen fähig und bezaubert das Publikum mit ihrem berauschenden Rollendebüt in der Rolle der Mimi. Ihr jugendlicher Sopran ist von betörender Leuchtkraft und von einer beeindruckenden Reinheit. Li Keng und Sangmin Jeon verkörpern ein junges Puccini-Traumpaar, das jede Minute des kaum enden wollenden Schlussapplauses rechtfertigt. Vielleicht ist die Wuppertaler Bühne an diesem Abend die Startrampe für zwei hoffnungsvolle Karrieren?

Foto: © Jens Grossmann

Mit Ralitsa Ralinova als Musetta komplettiert ein weiteres Wuppertaler Ensemblemitglied die Reihe der Protagonisten. Ihre Nominierung als beste Nachwuchssängerin 2019 in der Fachzeitschrift Opernwelt sagt alles über die in Bulgarien aufgewachsene Sopranistin aus. Nach ihren Interpretationen der Gilda in Rigoletto und der Micaëla in Carmen ersingt sich Ralinova mit ihrer Musetta die nächste Stufe auf der Karriereleiter. Ihr „Quando me’n vo“  im Café Camus begeistert mit stimmlicher Eleganz, Leidenschaft und  weiblicher Raffinesse. Eine Leistung mit Sternchen!

Foto: © Jens Grossmann

Auch die kleineren Rollen sind auf erfreulichem Niveau besetzt: Ob Adam Temple-Smith als Parpignol, Marcel Van Dieren in der Doppelrolle als Benoit und Alcindoro oder Oliver Picker als Sergeant, Hak-Young Lee als Zöllner und Sookwang Cho als Händler – an diesem Abend trägt jeder Einzelne zum ausgewogenen und hochklassigen musikalischem Niveau bei.

Was wäre eine La Bohème ohne ein angemessenes musikalisches Fundament aus dem Orchestergraben? Julia Jones ist eine Tonmalerin und Geschichtenerzählerin von beeindruckender Intensität. Sie lässt das Wuppertaler Sinfonieorchester die Feinheiten der Partitur in wunderbaren Farben ausleuchten. Nur selten geht das Temperament mit der britischen Generalmusikdirektorin durch und für kurze Zeit besteht die Gefahr, die jungen Stimmen mit den Fluten aus dem Orchestergraben zu überspülen, dann dimmt Julia Jones die enorme Kraft des Klangkörpers schnell wieder auf ein erzählendes, tonmalerisches Level. Das ist grandios und zu jeder Zeit ein musikalischer Genuss allererster Güte. Insbesondere durch ihre gefeierten Interpretationen im italienischen Fach arbeitet sich Julia Jones sukzessive in die Championsleague der europäischen Szene vor.

Man fragt sich nun, gibt es an dieser Premiere von La Bohème in Wuppertal denn gar nichts auszusetzen? Wo finden sich Unstimmigkeiten, Fehler oder qualitative Einbrüche? Es gibt sie schlichtweg nicht! Immo Karaman und Fabian Posca entführen das Publikum in ihre ebenso detailversessen wie liebevoll erzählte Künstlerwelt aus dem Pariser Quartier Latin und werden für diese Interpretation mit stehenden Ovationen gefeiert. Wann kommt es vor, dass beim Erscheinen des Regieteams beim Schlussapplaus der Beifallssturm noch einmal enthusiastisch aufbrandet?

An diesem Abend in Wuppertal ernten sämtliche Beteiligte den verdienten Lohn für eine authentische, jugendlich-frische und schlüssige Sichtweise auf Puccinis Jahrtausend-Werk. Und der Opernliebhaber verlässt das Haus an der Kurt-Drees-Straße mit dem wunderbaren Gefühl, dass es auch in der vermeintlichen Provinz glanzvolle Sternstunden zu erleben gibt. Dieser besondere Abend in Wuppertal fällt ganz sicher unter diese Kategorie.

Die weiteren Termine: 10. und 29.November., 7., 14. und 26. Dezember 2019, am 12. Januar 2020, 22. März 2020 und am 4. April 2020. Wer nicht dabei war, hat definitiv einen absoluten Opern-Höhepunkt in NRW verpasst – unbedingt hingehen!

Ingo Luther, 3. November 2019, für
klassik-begeistert.de

 

Musikalische Leitung, Julia Jones

Regie und Bühne, Immo Karaman

Kostüme und Choreografie, Fabian Posca

Dramaturgie, David Greiner

Rodolfo, Sangmin Jeon

Schaunard, Simon Stricker

Marcello, Aleš Jenis

Colline, Sebastian Campione

Benoit / Alcindoro, Marcel Van Dieren

Mimi, Li Keng

Musetta, Ralitsa Ralinova

Parpignol, Adam Temple-Smith

Chor, Markus Baisch

Chor und Extrachor der Wuppertaler Bühnen,

Kinder – u. Jugendchor der Wuppertaler Bühnen

Sinfonieorchester Wuppertal

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