Zweimal "La Bohème" in Berlin – zwei Abende, die unterschiedlicher kaum sein können

Foto: M. Rittershaus (c)
Giacomo Puccini, La Bohème

Deutsche Oper Berlin, 20. Dezember 2017
Nicholas Carter, Dirigent
Götz Friedrich, Inszenierung
Peter Sykora, Bühne/Kostüme
Elena Guseva, Mimi
Yosep Kang, Rudolfo
Siobhan Stagg, Musetta
Markus Brück, Marcello

Staatsoper Unter den Linden, Berlin, 22. Dezember 2017

Julien Salemkour, Dirigent
Lindy Hume, Inszenierung
Dan Potra, Bühne
Carl Friedrich Oberle, Kostüme
Angela Gheorghiu, Mimi
Piotr Beczala, Rudolfo
Anna Samuil, Musetta
Alfredo Daza, Marcello

von Yehya Alazem

Eine Oper in zwei Opernhäusern in einer Stadt. Innerhalb von zwei Tagen konnte man in Berlin die gleiche Oper in zwei verschiedenen Inszenierungen erleben: Giacomo Puccinis „La Bohème“ – eine der meist gespielten Opern überhaupt, besonders zur Weihnachtszeit. Am Mittwoch stand das Stück in der Bismarckstraße auf dem Programm, am Freitag Unter den Linden.

Die beiden Opernhäuser bieten zwei komplett verschiedene Interpretationen von „La Bohème“, und wenn man die Musik nicht kennt, kann man fast nicht glauben, dass man die gleiche Oper sieht. Die Inszenierung an der Deutschen Oper vom legendären Götz Friedrich liefert ein authentisches direktes Bild, während die Inszenierung von Lindy Hume an der Staatsoper viele kreative Ideen hat, aber am Ende leider nicht überzeugt.

Götz Friedrich geht vom Libretto und von der Partitur aus. Wir befinden uns in Paris mit vier jungen Männern, die für ihre Kunst leben und das Leben Tag für Tag genießen. Wir sehen im ersten Akt eine kalte, unaufgeräumte Dachwohnung, in der die Bohemiens leben, ein Volksfest auf der Straße im zweiten Akt, einen leeren Platz, Schnee und tote Bäume im dritten Akt und im vierten Akt einen grauen Keller, in dem die Tragödie mit der auf einem Bett sterbenden Mimi endet. Das Bühnenbild und die Kostüme sind einfach wunderschön! Götz Friedrich hat wirklich alles in dieser Oper eingefangen – dem Publikum fehlt es an nichts.

Wenn man Lindy Humes Inszenierung sieht ohne die Musik zu hören, würde man an eine andere Oper desselben Komponisten denken: „Manon Lescaut“. Das Freie, das Unkonventionelle und das Boheme existieren nicht. Das Bühnenbild und die Kostüme entsprechen ganz der gehobenen sozialen Klasse der Gesellschaft. Was auf der Bühne geschieht, entspricht nicht der Musik, die wir hören. Die Charaktere sind auch widersprüchlich: die Männer sind Geschäftsmänner, Musetta ist eine Glamour-Primadonna, und wer Mimi ist, ist nicht einfach herauszufinden.

Nicht nur szenisch, auch musikalisch sind die Unterschiede zwischen den beiden Vorstellungen sehr groß. Das Orchester der Deutschen Oper bietet ein herrlich frisches Spiel unter dem australischen Dirigenten Nicholas Carter. Er bringt alle feinen Elemente dieser veristischen Partitur hervor und kann zwischen den frohen und den traurigen Momenten hervorragend differenzieren.

Im Vergleich dazu hat Julien Salemkour nicht den Mut, etwas Besonderes aus der Partitur mit der Staatskapelle Berlin herauszukitzeln. Es geht ihm mehr um Transparenz und Details als um einen schönen Gesamtklang, obwohl alle Instrumentengruppen gut spielen. Aber es mangelt sehr an Dramatik im Vergleich zu dem, was Carter bietet.

In der Rolle der Mimi kann es nicht einfach sein, gegen die Sopranistin Angela Gheorghiu zu bestehen. Was sie für eine Sensualität und Innerlichkeit liefert, ist traumhaft. Sie ist vom ersten Ton an sensationell und rührt die Zuschauer in der Sterbeszene zu Tränen. An der Deutschen Oper liefert Elena Guseva auch eine wunderbare Leistung, erreicht aber nicht das Niveau von Gheorghiu. Sie hat ein dichtes warmes Timbre und eine solide Technik, die in allen Lagen überzeugt.

In der Rolle des Rudolfo erwartet man eine Weltklasseleistung an der Staatsoper, denn der Tenor ist der weltberühmte Pole Piotr Beczala. Leider bietet er eine nicht ganz überzeugende Leistung in Anbetracht seines eigentlichen Niveaus. Er hat eine wunderschöne Stimme mit unendlicher Strahlkraft und Glanz, die an Nicolai Gedda erinnert, doch an diesem Abend hat er keine gute Kontrolle beim Übergang zwischen dem mittleren und dem hohen Register, und beim hohen C knackt seine Stimme. Manchmal klingt er zu schwer beweglich – könnte das ein Ergebnis davon sein, dass er zu dramatische Rollen für seinen lyrischen Tenor gesungen hat (wie Lohengrin)?

Im anderen Haus überzeugt Yosep Kang fast vollends – Charme und Eleganz kombiniert mit einem soliden Spinto-Klang verkörpern einen in allen Lagen guten Rudolfo, aber Kang scheint ein wenig vorsichtig zu sein. Vor einem Monat hat er den Herzog im „Rigoletto“ trotz einer starken Erkältung an der Semperoper Dresden gesungen, was ein Grund für diese Unsicherheit sein könnte.

Als Musetta ist die junge australische Sopranistin Siobhan Stagg eine ausgezeichnete Besetzung an der Deutschen Oper. Die trotzige, halbverrückte Frau verkörpert sie sowohl gesanglich als auch darstellerisch ganz hervorragend. Ihre Stimme klingt erst schlank und konzentriert, sie blüht dann schnell im Raum auf. An der Staatsoper ist diese Rolle, musikalisch gesehen, total falsch besetzt – die Sopranistin Anna Samuil hat eine sehr gute Stimme, die aber für dramatischere Rollen und nicht für eine leichte Rolle wie Musetta geeignet ist. Im nächsten Monat singt die Primadonna in „Ariadne auf Naxos“ von Richard Straus, und das ist ihr Fach.

In der Rolle des Marcellos überzeugen Markus Brück an der Deutschen Oper und Alfredo Daza an der Staatsoper – beiden liefern sowohl gesanglich als auch darstellerisch feine Leistungen.

Es ist unfassbar, wie die gleiche Oper so verschiedene Erlebnisse hervorrufen kann. Aber genau deshalb lebt diese Kunstform noch immer und wird für immer leben. Jeder Opernabend ist etwas Besonderes!

Yehya Alazem, 24. Dezember 2017, für
klassik-begeistert.de

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