Foto: © Marie-Laure Briane
Staatstheater am Gärtnerplatz, 2. Januar 2020
Giacomo Antonio Domenico Michele Secondo Maria Puccini, La Bohème
von Stefanie Schlatt
Arm aber sexy: Unter diesem Slogan, mit dem vor einigen Jahren der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit seiner Stadt das Image eines charmanten Taugenichts verpasste, inszeniert der Regisseur Bernd Mottl seit März 2019 am Münchner Gärtnerplatztheater den Puccini-Klassiker La Bohème.
Und tatsächlich wird man schon beim Betreten des Theatersaals mit dem Shabby Chic der deutschen Hauptstadt konfrontiert. Der offene Bühnenvorhang gibt den Blick auf eine schwarz-weißbekritzelte Wand frei, die an typische Berliner Hinterhöfe erinnert – ein wirkungsvoller Kontrast zum pittoresken Ambiente des Gärtnerplatztheaters in der bayerischen Landeshauptstadt. Ein schöner Clash von Städteklischees.
Dass diese Neuinszenierung des Opern-Evergreens, der seit der Uraufführung 1896 schon Dutzende Male neu aufgelegt wurde, so pfiffig und kurzweilig wirkt, ist sicherlich vor allem der kontrastreichen Dramaturgie und Bühnenbildgestaltung zu verdanken: Hier trifft Proletariat auf Schickeria. Überkandidelte Belle-Époque-Bohemiens werden zu Millennials, die sich wie Gangster-Rapper benehmen, aber italienische Arien schmettern. Der promiske und hedonistische Reigen, den der französische Schriftsteller Henri Murger Mitte des 19. Jahrhunderts in seinen „Szenen aus dem Pariser Leben“ so mitreißend beschrieb, dass Puccini darin Potenzial für einen musiktheatralischen Blockbuster roch, muss auch auf die Generation Y noch cool wirken.
Bemerkenswert ist auch der Kontrast zwischen dem elegant gekleideten Publikum im Saal und den Kostümen des Ensembles auf der Bühne, das ebenso gut direkt vom geselligen Zusammensitzen auf den Stufen des Gärtnerplatztheaters hereingekommen sein könnte. Überhaupt ist der Münchner Gärtnerplatz eigentlich der allerbeste Schauplatz für diese Oper – quasi ein bayerisches Quartier Latin, wo sich die Bohos der Stadt treffen.
Vor allem unterhaltsam und lustig soll La Bohème in dieser Inszenierung sein, was die vielen kleinen Slapstick-Momente (tolpatschige Entsorgung eines Stinkekäses, eine Pommesschlacht, Musettas Hündchen-Dressurnummer mit vier Barmännern im Café Momus etc.) beweisen, die dennoch sparsam genug über die vier Bilder der Oper verteilt sind, um den an sich tragikomischen Stoff nicht zum Klamauk verkommen zu lassen.
Jedenfalls habe ich in der Vorstellung am 2. Januar 2020 sowohl herzliches Lachen als auch gerührtes Weinen miterlebt.
Die Rollen der vier Studenten Schaunard, Rodolfo, Colline und Marcello sind stimmig besetzt – mit jungen Sängern, die nicht nur ihr musikalisches Handwerk sicher beherrschen, sondern auch eine frische und charismatische Bühnenpräsenz an den Tag legen. Mária Celeng gibt auch im zweifelhaften Berghain-Outfit eine betörende Musetta ab, Camille Schnoor als taffe Ausreißer-Göre mit überraschend inbrünstigen Gesangsqualitäten (Stichwort Kontraste) eine interessante Neuinterpretation der ätherischen, schwindsüchtigen Mimi des Originals der Oper.
Der sympathische Dirigent Howard Arman führt das Gärtnerplatzorchester ohne Klimbim durch die Partitur, was in Kombination mit der leicht gedämpften Akustik im Graben den Gesang auf der Bühne umso mehr zur Geltung bringt. Sehr schön war deswegen zu sehen, dass er beim Schlussapplaus wiederholt dem Publikum durch Gesten zu verstehen gab, seine Musiker bitte auch gebührend zu beklatschen.
Nach inzwischen fast einem Jahr auf dem Spielplan scheint das ganze Ensemble dieser Inszenierung bestens aufeinander eingestimmt zu sein. La Bohème ist noch bis April 2020 am Gärtnerplatztheater zu erleben.
Stefanie Schlatt, 3. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at