"Tosca" an der Mailänder Scala: Alles vorhanden – außer der Netrebko

Giacomo Puccini, Tosca,  Teatro alla Scala Mailand, 22. Dezember 2019

Foto: © Marco Brescia & Rudy Amisano

Saioa Hernández ist eine ganz fantastische Floria Tosca. Ihr berühmtes „Vissi d’arte“ war eine berührende Glanzleistung und der unbestreitbare musikalische Höhepunkt dieses Abends an der Scala.

Teatro alla Scala di Milano, 22. Dezember 2019

Giacomo Puccini, Tosca

von Charles E. Ritterband

Die Italiener mögen’s dramatisch – und wo mehr als in der Tosca, vielleicht Puccinis großartigstem Meisterwerk: Da schwebt am Ende die Diva nach ihrem Todessturz von der Engelsburg (natürlich verkörpert von einer identisch kostümierten Stunt-Woman) angestrahlt von zahlreichen, gebündelten Scheinwerfern zum allgemeinen Staunen der aufmarschierten Soldaten effektvoll gen Himmel.

Und wenn die Tosca den brutalen Polizeichef Baron Scarpia mit dem vom Esstisch entwendeten Messer ersticht, gibt sie’s ihm gleich doppelt und dreifach. Sie sticht zur Sicherheit mehrfach zu, auch auf den bereits am Boden röchelnden Bösewicht, und gibt ihm dann noch den Rest, indem sie ihn erwürgt. Und dann, begreiflicherweise unter Schock, erlebt sie die Mordszene gleich nochmals als Vision – mit ihrem Double als Akteurin. Und, sehr stimmig, unter den Häschern Scarpias herrscht genau ähnlich viel handgreifliche Brutalität wie er sie seinen Opfern angedeihen lässt – da geht man höchst unzimperlich mit den Kollegen um.

Spektakulär, aber sehr traditionell das Bühnenbild (Giò Forma). Da ersteht vor unseren Augen, dunkelgrau, düster-deprimierend aber mächtig und komplett bis ins allerletzte Detail die Römer Kirche Sant’Andrea della Valle aus dem ersten Akt, die sich doch in Wirklichkeit etwas farbiger und vor allem barock-lichtdurchströmt präsentiert.

Und Scarpias Residenz, der prunkvolle Palazzo Farnese, glänzt mit klassizistischer Pracht, Fresken, Goldstuck und herrlichen antiken Möbeln. Nur das Bühnenbild im dritten Akt erwies sich als szenischer Fehltritt. Da säumten noch die Fassaden der Kirche aus dem ersten Akt die Bühne, bis sie dann, als es auf derselbigen dramatisch und blutig wurde, mit schwarzen Vorhängen verhängt wurden.

Hätte man gleich tun sollen – die dekorativen Bögen und Säulen waren völlig unmotiviertes Beiwerk und lenkten szenisch unmotiviert von der Plattform der Engelsburg ab. Diese wurde beherrscht von einem gewaltigen Engel, besser gesagt: Von den überdimensionierten Flügeln dieses Engels (der dem Gebäude ja den Namen gibt) – Flügel, die sich durch einen gut gemachten aber ziemlich kitschig wirkenden optischen Trick plötzlich in Bewegung setzen and sanft auf und ab zu schlagen beginnen.

Das ist ziemlich unnötig – außerdem verstellen die mächtigen Flügel im dritten Akt die ganze Bühne und drängen das dramatische Geschehen an den Rand.

Eine bewegende und vor allem bewegte Tosca: Nicht nur in die Engelsschwingen im dritten Akt kam Bewegung – nein, das gesamte Bühnenbild im ersten Akt befand sich in permanentem Umbruch: Der im Übrigen ganz ausgezeichnete, aus Turin stammende Regisseur Davide Livermore, der die Personenführung hervorragend im Griff hat, wollte offenbar einen 3D-Filmeffekt erzielen und zeigte uns den Innenraum von Sant’Andrea della Valle aus allen Perspektiven, vor allem auch die Attavanti-Kapelle, in welcher der entwichene politische Gefangene Angelotti vorübergehend Zuflucht findet.

Da werden alle Register der Bühnenapparatur gezogen: Drehbühne, riesige Versatzstücke fahren auf und ab und quer durch den Bühnenraum, die Vorderbühne, dann die Hauptbühne senkt sich tief hinab…

Als die Sache dann beim Schlussapplaus kurz ins Stocken gerät (technische Panne), hat man von den oberen Plätzen staunend Gelegenheit, die überaus aufwendige technische Apparatur zu bestaunen, die in dieser Inszenierung großzügig zum Einsatz kommt. Vielleicht allzu großzügig – dem Regisseur ist sichtlich die Freude an der groß dimensionierten technischen Spielerei durchgegangen. Des Guten eindeutig zu viel.

Sinn machte das allerdings schon, als unterhalb von Scarpias Arbeitszimmer die Folterkammer mit dem blutüberströmten Cavaradossi sichtbar wird, während der Wüstling oben seine Avancen gegenüber der schönen Sängerin betreibt.

Cavaradossis Madonnengemälde ist eine technisch geschickte Projektion, in der sich die Augen der Maria Magdalena – die ja bekanntlich das eifersüchtige Misstrauen seiner Geliebten Tosca erregen – wunschgemäß von blau auf dunkel umfärben bis dann, wer weiß warum, das gesamte Bildnis plötzlich mit grauen Klecksen beschmiert wird.

Der Schluss des ersten Aktes mit den berauschenden, mächtigen Chören und dem üppig-farbenprächtigen Aufzug des gesamten Kirchenpersonals war phänomenal, schlicht überwältigend – selbst für das verwöhnte Publikum an der Scala.

Ich mache eine Wette, dass mindestens die Hälfte der elegant gekleideten Milanesi im Zuschauerraum (die ausländischen Besucherinnen und Besucher nicht eingerechnet) die erheblichen Kosten für einen Platz in der Scala nicht gescheut haben, um die phänomenale Netrebko als Tosca zu sehen und zu hören.

Saioa Hernandez. Foto: Lourdes Balduque

Die Diva hatte, wie sich herausstellte, zwei Tage vor der Vorstellung abgesagt. Hätte man sich fast denken können. Doch das vornehme Mailänder Publikum nahm diese Enttäuschung stoisch, ja heroisch hin und ließ sich nicht das Geringste anmerken – ganz im Gegenteil: Die als mehr als nur würdiger Ersatz herbeigeholte Saioa Hernández wusste, was sie der großen Netrebko schuldig war und wurde vom Mailänder Publikum zu Recht umjubelt.

Die aus Madrid stammende Sopranistin verlieh dieser Tosca nicht nur eine faszinierende Persönlichkeit zwischen divenhafter Eifersucht, Koketterie bis hin zum blanken Heroismus – sie war vor allem stimmlich eine überwältigende Floria Tosca: Mit warmer, samtener, eher tief liegender Stimme, die Flirt, Leidenschaft und Verzweiflung in subtilem Wechsel mit perfekt dosiertem, immer präzise beherrschtem Gesang auf die Bühne brachte.

Das Publikum hatte am Ende dieser spektakulären Vorstellung wahrlich nicht den geringsten Grund zur Enttäuschung – Saioa Hernández ist eine ganz fantastische Floria Tosca. Ihr berühmtes „Vissi d’arte“ war eine berührende Glanzleistung und der unbestreitbare musikalische Höhepunkt dieses Abends an der Scala.

Ihr Partner, der Italiener Francesco Meli, hatte als Mario Cavaradossi noch im ersten Akt eher Mühe, sich neben der in Bühnenpräsenz und Stimme so starken Hernández zu behaupten. Aber seine stimmliche Kraft und Leidenschaft erhielten im zweiten Akt Gelegenheit zu brillieren: In seinem grandiosen patriotisch-musikalischen Ausbruch angesichts der Meldung über den Sieg Napoleons in der Schlacht bei Marengo über die Österreicher (Juni 1800) nachdem sich das Blatt gewendet hatte.

Meli stieg dann zur Höchstform in der kurzen aber berühmten Arie „E lucevan le stelle“ auf, in die er allen tenoralen Schmelz hineinlegte. Das Publikum dankte es ihm mit herzlichem Applaus.

Stimmlich erstklassig trat der aus Livorno stammende Carlo Cigni als der entwichene politische Gefangene Cesare Angelotti auf: Kraftvoll und doch beherrscht seine Stimme, die das Geschehen im ersten Akt zeitweilig dominierte.

Doch bekanntlich braucht diese Oper zwei phänomenale Sänger – neben dem Tenor natürlich: den Bariton Scarpia und natürlich die Titelfigur Tosca. Dieser Bariton, der Italiener Luca Salsi, verkörperte stimmlich mit einer sonoren, diabolisch tiefen Stimme und schauspielerisch durch zahlreiche Nuancen den Bösewicht perfekt. Sein plötzlicher Auftritt in der fröhlich-ausgelassenen Atmosphäre der Kirche, nachdem der (im zweiten Akt dann revidierte) Sieg der Österreicher über Napoleon verkündet wurde, ließ einen unweigerlich erschaudern.

Nicht nur die gewaltige Musik Puccinis – vergleichbar in diesem Augenblick nur dem Sturm zu Beginn von Verdis Otello – sondern auch die Präsenz und die großartige, machtbesessene Stimme dieses Scarpia ging wohl jedem durch Mark und Bein.

Ja, und der Hirtenknabe in der Morgendämmerung des dritten Aktes (Gianluigi Sartori) machte seine Sache präzise und mit Hingabe – berührend. Ein scharfer Kontrast zwischen dieser Unschuld in pastoralem Ambiente (Agnus Dei) und dem Bösen, das sich in diesem Akt kurz darauf abspielen sollte: Der Dämon Scarpia tut seine Wirkung über seinen eigenen Tod hinaus, indem die angebliche Schein-Hinrichtung Cavaradossis nicht mit Platzpatronen, sondern mit scharfer Munition durchgeführt wird…

Das Orchester der Scala unter dem Weltklasse-Dirigenten Riccardo Chailly war in Hochform – kraftvoll, dann wieder zart, subtil und bewegend. Ein Klangkörper von allererstem Rang, der die Scala Abend für Abend unter die allerersten Häuser weltweit reiht. Auch wenn der Weltstar Netrebko dieser (auch ohne sie grandiosen) Vorstellung ferngeblieben ist.

Charles E. Ritterband, 23. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dirigent: Riccardo Chailly
Regie: Davide Livermore
Bühne: Giò Forma
Kostüme: Gianluca Falaschi
Floria Tosca: Saioa Hernández
Mario Cavaradossi: Francesco Meli
Scarpia: Luca Salsi
Il Sagrestano: Alfonso Antoniozzi
Un pastore (der Hirtenknabe): Gianluigi Sartori
Cesare Angelotti: Carlo Cigni
Coro e Orchestra del Teatro alla Scala

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert