Foto: © Wilfried Hösl
Golda Schultz als Liù sorgt mit leisen eindringlichen Tönen in dieser dynamischen Oper für die absoluten Höhepunkte.
Giacomo Puccini, Turandot
Bayerische Staatsoper München, 16.07.2019
Musikalische Leitung: Thomas Søndergård
Inszenierung: Carlus Padrissa – La Fura dels Baus
Bühne: Roland Olbeter
La Principessa Turandot: Nina Stemme
L’ imperatore Altoum: Ulrich Reß
Timur, re tartaro spodestato: Alexander Tsymbalyuk
Il Principe ignoto (Calaf): Stefano La Colla
Liù: Golda Schultz
Ping: Mattia Olivieri
Pang: Kevin Conners
Pong: Galeano Salas
Von Frank Heublein
Turandot ist die letzte Oper Puccinis. Er starb vor der Vollendung dieses Werkes. Turandot überzeugt mich am heutigen Abend als Zuseher und Zuhörer emotional – gerade – so wie sie ist.
Ich werde vom Orchester musikalisch hineingeworfen in das Stück. Ebenso visuell durch die Inszenierung von Carlus Padrissa. Diese ist spektakulär, bietet Statisten und Artisten auf, nicht nur in der Breite und Tiefe des Bühnenraumes, auch in der Höhe. Und in 3D, sofern man mittig sitzt – wie ich (danke!) – und eine rot-grüne Brille vor den Einlasstoren mitnimmt.
Paddapoff! Das ist der tödliche Sog der Turandot! Ich erlebe diesen Sog in 3D (Brille auf!), er saugt mich ein in dieser Inszenierung.
Trotz aller Kräfte des Chors (Chor, Extra-Chor, Kinderchor mit toller Leistung) – das Orchester überwiegt zu Beginn. Meine Befürchtung zerstiebt sogleich, dass in dieser orchestralen Dynamik Stimmen untergehen könnten. (M)ein Glück.
Turandots Sog erliegt Calaf (Stefano la Colla), der Held, der im Erblicken der Prinzessin die Scheuklappen der Liebe anlegt. Darin ist Puccinis Calaf Wagners Siegfried gar nicht so unähnlich. Feuerring oder Kopfabschlagen? Das sind unbedeutende Differenzierungen.
„Mein“ Calaf – Stefano la Colla – hält dem Orchester locker stand. Ein strahlender Tenor mit warmem Timbre. Keine Note singt er diesen Abend angestrengt, jederzeit hat er stimmliche Kraft in petto. Groß.
Trotz aller Beschwörungen von Liù (Golda Schultz) und dem wiedergefundenen Vater Timur (Alexander Tsymbalyuk), Calaf will Held sein, Turandot erobern. Musikalisch ist der erste Akt aggressiv, laut, expressiv. Calaf halt ein! Es soll kein weiterer Mensch den tödlichen Rätseln Turandots zum Opfer fallen. Ping, Pang und Pong versuchen, ihn davon abzuhalten, sie reüssieren nicht.
Den Ruhepol im ersten Akt setzt Golda Schultz‘ Liù mit ihrer Arie „Signore, ascolta!“. Die unterdrückten eigenen Gefühle der Liebe, die Sorge um Vater Timur und den für sie als Dienerin unerreichbaren Sohn Calaf vermag Golda Schultz stimmlich wunderbar zu transportieren. Kann sie Calaf umstimmen? Nein, auch sie vermag es nicht. Calafs liebende Scheuklappen erkennen nicht die Liebe Liùs. Sonst, ach! wär‘s auch keine Oper, kein Dramma per musica.
Die Stimmen passen gut zusammen. Dirigent Thomas Søndergård leitet das Orchester souverän, dynamisch, agil. Er harmonisiert Orchester und die Stimmen. So können diese sich – eine Herausforderung bei Turandot und gerade im ersten Akt – behaupten gegenüber der orchestralen Wucht.
Der zweite Akt beginnt beruhigt. Die Hofbediensteten Ping, Pang und Pong sinnieren: Sie hoffen, sehen, verzweifeln. Viele Köpfe werden abgeschlagen, sie behalten ihre Köpfe, immerhin.
Der Kaiser Altoum, Turandots Vater, will keine weitere Leiche verantworten. So wird Calaf erneut und wieder ohne Erfolg ins Gewissen gesungen, er soll sich nicht den tödlichen Rätseln Turandots aussetzen. Stimmlich singt Ulrich Reß den Kaiser sehr gut, er ist für mich einen kleinen energetischen Hauch schwächer als die anderen Solisten, ich werde durch seine Arie emotional nicht vollständig gepackt.
Jetzt erst erfolgt der Auftritt Turandots. Ein guter dramatischer Kniff des Librettos, dieses späte, aktive, singende Auftreten der Titelfigur Turandot. Die verzweifelte Hoffnungslosigkeit der Personen am Hof wird expressiv über eineinhalb Akte ausgebreitet. Worin ist diese begründet?
Turandots Arie klärt den Zuhörer auf. An diesem Abend ist das der Moment, in dem sich meine Armhärchen aufstellen. Eine Paradearie, bei der die Sopranistin glanzvoll strahlend liebt oder stirbt, das ist diese Arie eben nicht. Sie ist weitaus schwieriger und anspruchsvoller. Denn was treibt Turandot an? Empörung, Degout. Männer sind Abschaum! Nichts für sie! So abgrundtief ist sie empört, dass sie alle anderen im Reich in diese hoffnungslose Verdammnis hinabzieht. Nina Stemme singt, in lichter Höhe auf der Bühne schwebend, diese absolute Ablehnung fulminant.
Es folgt der dramatische Höhepunkt der Oper. Im HipHop würde man die Rätselszene „Battle“ nennen. Ich halte die Luft an, denn Nina Stemmes Sopran ist ebenso dominant wie Stefano la Collas Tenor. Als Turandot und Calaf sind beide stimmlich auf höchstem Niveau, grandios anzuhören. Klar, präzise. Bestens unterstützt vom Bayerischen Staatsorchester.
Handlungstechnisch siegt Calaf. Er löst die Rätsel, ist großmütig dazu. Fair? Das findet der Kaiser nicht so ganz, das höre ich ihm zumindest stimmlich expressiv an. Calaf gibt der Prinzessin Turandot von seiner Seite ein Rätsel auf: Löst sie es bis zum Morgengrauen, muss sie ihn nicht zum Manne nehmen. Dann wird er als weiterer abgeschlagener Kopf enden.
Der dritte Akt: Turandot überdreht, bedroht jeden mit dem Tod. Um nicht Calafs Frau werden zu müssen, muss sie seinen Namen ergründen. Nur eine kennt des Rätsels Lösung. Es ist Liù. Sie wird ergriffen. Gefoltert. Turandot ist gnadenlos – Nina Stemme singt genau so: energetisch.
Puccini plante am Ende der Oper „ein großes Duett. Die zwei Wesen, fast aus der Welt, werden durch die Liebe zu Menschen, und diese Liebe muss am Ende alle auf der Bühne in einem großen Orchesterschluss ergreifen.“
Diese Aufführung erfüllt Golda Schultz‘ Liù-Arie „Tu, che di gel sei cinta“ (Du bist von Eis umgürtet) genau das im Kopf des Zuhörers: Im Tod der liebenden Liù entsteht das Leben, bricht das Eis, Turandot und Calaf werden Liebende. Als 3D-Effekt inszeniert sehe ich ying und yang auf mich zuschweben: Anfang und Ende, der Tod Liùs gebiert die Liebe Turandots.
Nicht durch Aggressivität und Power – in persona Nina Stemme und Stefano la Colla exzellent gesungen – nein, durch die zarte Reinheit Liùs. Zu Recht erhält Golda Schultz dafür den aufbrausendsten Applaus des Abends für diesen emotional leisen aber ergreifendsten Moment.
Emotional steht mir – in dieser Inszenierung – dieser leise Schluss so viel näher als Puccinis Vorstellung des Endes. La forza del destino. Eben: große Oper.
Frank Heublein, 17. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de
Das Drama von Carlo Gozzi, auf dem diese Oper aufbaut, verfälscht die Dichtung Nizamis. Warum vermag Calaf die Rätsel zu lösen? Er sucht vorerst den Rat von Weisen, die ihm sagen, nicht seine brennende Liebe zu Turandot darf sein Hauptmotiv sein, sondern das Mitleid mit den vielen jungen Männern. Die Opfer müssen ein Ende nehmen. Es sind im Original auch keine Rätsel, die er lösen muss. Es sind gegenseitige Geschenke, die feinfühlich auf das Empfangene eingehen. Warum ist die Prinzessin so grausam? Das ist im Original nicht das Thema. Man bedenke, in der frühen Geschichte war eine Erkundungsfahrt über das Meer oft lebensgefährlich. Wie viele Männer sind mit ihren Einbäumen nicht zurückgekehrt! Die Aussage der Dichtung: Das Glück lässt sich nicht direkt suchen.
Lothar Schweitzer