Gioacchino Rossini, Il barbiere di Siviglia,
Luzerner Theater, 27. September 2020
Foto: https://www.luzernertheater.ch/ilbarbieredisiviglia
von Charles E. Ritterband
Figaro ist ein Gangster – Covid-19 hat sein Friseurhandwerk ruiniert, die Kunden lassen sich jetzt kontaktlos via Amazon rasieren, seine überschäumende Energie als Faktotum läuft leer. Bartolo, die eigentliche commedia-dell‘arte-Figur dieses Stücks, dümmlicher Dottore und lächerlicher Liebhaber einer viel zu jungen Frau, ist hier ein ernsthafter und eigentlich sehr sympathischer Wissenschafter, der seine Tochter (hier nicht sein Mündel!) aus panischer Angst vor Covid-Ansteckung mit allen nur denkbaren Sicherheitsmaßnahmen in seinem Haus einschließt – nur um am Ende selbst am Virus zu sterben. Graf Almaviva, gelangweilt und frustriert, hat von seinem gräflichen Vater wegen Covid-19 ein absolutes Berührungsverbot übernommen, das er mit den brutalen Methoden des Polizeistaats durchsetzt. Fiorello, der Strippenzieher, ist ein junger Revolutionär, der mit Hilfe des Grafen und des Mündels Rosina das Covid-Berührungsverbot sprengen will. Und Rosina, die Selbstbewusste, erkennt wütend dass sie mit ihren zarten Gefühlen für den Grafen für die politischen Machenschaften Fiorellos instrumentalisiert wird. Am Ende geht sie doch noch mit dem geliebten Grafen alias Lindoro eine „kontaktlose“ Ehe ein – der von Fiorello angezettelte Aufstand ist gescheitert, die schwarz gekleidete, furchterregende Covid-Einsatztruppe behält die Oberhand.
Der Regisseur Martin G. Berger hat im kleinen aber feinen Luzerner Theater den guten alten „Barbiere“ radikal ein hochaktuelles Stück umfunktioniert: Während sich auf der Drehbühne – eine simple, doppelspiralige Wendeltreppe (Bühne: Jakob Brossmann) – die wahnwitzige Handlung abspielt, sitzen maskierte Zuschauer und Orchestermusiker selbst mitten in dieser Handlung. Clever. Berger hat hier eine Dystopie geschaffen, eine negative Utopie, die von unserer heutigen Wirklichkeit gar nicht so weit entfernt ist.
Die Transponierung der Handlung aus dem Sevilla des 18. Jahrhunderts ins Heute, wo ein einziges Thema alles zu beherrschen scheint – Covid – ist recht gelungen. Vielleicht allerdings hat die Regie im Überschwang der Begeisterung über diesen gelungenen Gag mitunter (meistens?) zu viel des Guten auf die kleine Bühne gebracht: Leider wirkt das Spiel, an dem die Darsteller sichtlich ihre ausgelassene Freude haben, manchmal allzu turbulent und artet bisweilen in fast peinlich wirkendes Laientheater einer theaterbegeisterten Schülergruppe aus – mit allzu viel Slapstick und dick aufgetragenen sexuellen Anspielungen. Weniger wäre mehr gewesen.
Überzeugend (und technisch notwendig) die deutschsprachigen Zwischentexte des Fiorello, der neben seiner traditionellen Rolle auch jene des Erzählers übernimmt und die Handlung präsentiert. Worauf der Regisseur im Programmheft zu Recht hinweist: die Rezitative stammen ohnehin gar nicht von Rossini selbst, sie wurden, wie man heute sagen würde „outgesorced“, also einem Schreiber in Auftrag gegeben. Also konnte man genauso gut neue Texte einfügen, ohne diesem Stück Gewalt anzutun.
Auch das Orchester musste sich eine – doch immerhin schon an der Kammeroper München und der Mailänder Scala erprobte – Bearbeitung gefallen lassen, die allerdings nach Meinung dieses Rezensenten nicht wirklich gelungen ist: Rossinis fulminante Orchesterbegleitung zu seiner Opera Buffa wurde auf der Luzerner Bühne von Alexander Krampe auf ein Kammerensemble reduziert – was zwar die maskierten Musiker den Corona-konformen Abstand einhalten lässt, aber musikalisch nicht wirklich funktioniert. Da war ein störendes Zuviel und ein nicht minder störendes Zuwenig: In dieses kleine, sich tapfer und durchaus sehr musikalisch durch Rossinis Partitur durchkämpfenden Ensemble des renommierten Luzerner Sinfonieorchesters (sorgfältiges Dirigat: Alexander Sinan Binder) wurden zwei höchst unpassende Instrumente eingefügt: ein Marimbaphon, das man sonst eher in der karibischen Musiktradition verorten und ein Akkorden, das man üblicherweise in der Luzern so malerisch einrahmenden alpinen Bergwelt vermuten würde.
Dafür fehlen die Pauken, die man bei der köstlichen Arie des intriganten Don Basilio „La calunnia è un venticello“ aus der 2. Szene des 1. Aktes– ein Lüftchen, das sich bekanntlich zum Donnerschlag steigert – ebenso schmerzlich vermisst wie später in der 9. Szene des 2. Aktes beim Gewitter, in dessen Getöse die Entführung der Rosina stattzufinden hat. Ersatzlos gestrichen wurde die Gesangstunde mit dem berühmten, von Rosina vorgetragenen Lied von der „vergeblichen Vorsicht“, das ja der Oper einst den Originaltitel gegeben hatte: „Almaviva o sia l’inutile precauzione“. Doppelt vergeblich waren in dieser Inszenierung allerdings die Covid-Vorsichtsmaßnahmen des Virologen: Weder konnten sie das Stelldichein seiner Tochter mit dem Grafen verhindern, noch das erbarmungslose Zuschlagen des Virus, das ja am Ende seinen eigenen Tod verursachte.
Diese Inszenierung mag streckenweise den Charakter eines wildgewordenen Schülertheaters aufgewiesen und die musikalische Bearbeitung nicht restlos überzeugt haben – die sängerischen Leistungen waren durchwegs phänomenal. Der „Barbiere“ war ja immer schon eine „Nummernoper“ (und damit eine Art Vorläufer des Musicals avant la lettre) und man konnte selbst in dieser denkbar ungewöhnlichen Inszenierung durchaus diese großartigen Musiknummern genießen und den teils unerfreulichen Rest ausblenden.
Wer der Star dieses Abends war, ließ sich beim besten Willen nicht ausmachen. Die Rosina der russischen Sopranistin Diana Schnürpel war brillant, ihre Koloraturen (ihre Spezialität!) präzise, kraft- und kunstvoll. Der Südafrikaner Vuyani Mlinde verlieh dem Don Basilio einen herrlich warmen Bass und der Bündner Flurin Caduff (der einzige Schweizer in diesem internationalen Ensemble) gab als Bartolo einen überaus wohlklingenden, samtenen Bassbariton. Mit fulminantem Belcanto der südkoreanische Tenor Hyojong Kim als Graf Almaviva (alias Lindoro) und mit großer stimmlicher Stärke sein Landsmann Eungkwang Lee als Figaro. Der Wiener Robert Maszl, der den Fiorello verkörperte, brachte in seiner Doppelfunktion als Erzähler viel Charme und als kämpferischer Aufrührer an der Seite des Figaro tenoralen Schmelz auf die Bühne. Die bolivianische Sopranistin Camila Meneses glänzte mit souveräner stimmlicher Meisterschaft und temperamentvollen Spiel als Berta, Haushälterin des Bartolo. In dieser Inszenierung ist sie sinnvollerweise die Assistenzärztin im weißen Kittel, die dem Virologen Bartolo zur Seite steht.
Dr. Charles E. Ritterband, 1. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de, klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.ch
Inszenierung: Martin G. Berger
Dirigent: Alexander Sinan Binder
Bühne: Jakob Brossmann
Rosina: Diana Schnürpel
Don Basilio: Vuyani Mlinde
Bartolo: Flurin Caduff
Graf Almaviva (alias Lindoro): Hyojong Kim
Figaro: Eungkwang Lee
Fiorello: Robert Maszl
Berta: Camila Meneses
Musikalische Bearbeitung für Kammerorchester: Alexander Krampe
Herrenchor des Luzerner Theaters
Luzerner Sinfonieorchester