Giuseppe Verdi, Aida
Deutsche Oper Berlin, 29. September 2017
von Yehya Alazem
Soll man sie hassen oder soll man sie lieben? Soll man denken, dass sie das Erlebnis zerstört hatte oder soll man ihr dafür danken, dass sie das Erlebnis verstärkt hatte? Benedikt von Peters Inszenierung der Aida an der Deutschen Oper ist einfach verwirrend. Sie könnte möglicherweise neue Ideen und Perspektive hervorbringen, das reicht aber nicht aus, denn sie widerspricht der Partitur und dem Libretto in fast jeder Szene.
Die Inszenierung ist zeitlos, aber das meiste deutet auf die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Bühnenbild von Katrin Wittig ist ganz einfach und ändert sich im Laufe des Stücks fast nie. Einige Schwarzweißfernseher liegen auf den Boden, und an den Wandseiten hängen noch einige. Auf den Fernsehschirmen sieht man ein Gesicht, aber wessen Gesicht dies ist, ist unklar. Auf der Bühne steht auch ein Tisch, auf dem eine Tischlampe und viele Bücher über Ägypten liegen.
Wenn man ins Auditorium hineingeht, ist man erstaunt und fragt sich: „Wo ist das Orchester?“ Diese Frage wird nicht beantwortet, bevor die Vorstellung beginnt – das Orchester ist hinter der Bühne! Dann kommt die natürliche Zusatzfrage: „Wo ist dann der Chor?“. Bei dem ersten Einsatz hört man die Stimmen des Chors von überall – der Chor sitzt mit dem Publikum im Parkett und auf den Rängen!
Auf der Bühne dürfen nur die drei Kernpersonen der Oper sein: Radames, der schon vor dem Vorstellungsbeginn am Rand der Bühne sitzt, Amneris und Aida. Ramfis, der König, der Bote und Amonasro, singen aus den Rängen.
Die Inszenierung ist eigentlich nicht so kompliziert zu verstehen, ist aber dennoch ein Rätsel. Amneris ist mit einem Ägyptologen (Radames) verheiratet, der bei Tag und Nacht nur in seinen Fantasien lebt, ohne an irgend etwas anderes zu denken. Sie will nur das normale tägliche Leben, die Wohnung aufräumen, das Essen vorbereiten und Dank und Aufmerksamkeit von ihrem Ehemann bekommen.
Radames will nur in seinem ewigen Traum bleiben. In seinen Büchern über Ägypten ist er ertränkt. Die ganze Zeit hält er ein weißes Kleid einer ägyptischen Prinzessin und fühlt die Sehnsucht nach ihr. Wer ist dann die Aida? Sie ist als Hauptfigur der Oper total versäumt und existiert im Realen überhaupt nicht – sie ist einfach ein Geist. Nach einer kurzen Zeit versteht man, was sich eigentlich ereignet: Es gibt nur Radames und Amneris im Drama. Alles anderes gibt es nur im Kopf des Radames.
Es ist ein Kampf zwischen der Realität der Amneris und der Irrealität des Radames. Egal in welcher Szene es läuft, auf der Bühne ist die Beziehung zwischen dem Ehepaar im Fokus. Anstatt ein Ballett zu sehen, sehen wir im zweiten Akt nur einen Paarstreit. Während des Triumphmarschs bringt Amneris die „Aida-Trompeten“ auf die Bühne, um Radames aus seinem Traum zu erwecken, und sie fängt an, Bilder von Krieg und Armut auf seine Vorderseite zu hängen. Versucht sie dann, ihn zu erwecken? Sinnloser und nichtssagender kann man diese Triumphszene nicht inszenieren.
Die Stimmen des Chors, des Königs, des Ramsis und aller anderen sind Geisterstimmen. Im zweiten sowie im dritten Akt taucht die Stimme Amonasros auf, als Geist für die Geistfiguren. Da geht es einfach zu weit weg – wir sind in der Fantasie der Fantasie!
Im vierten Akt hat Radames seine letzte Chance, aus dem Traum zu erwachen und ins normale Leben zu gehen. Am Ende der Oper gibt Amneris vor, Selbstmord mit einem Messer zu begehen. Aber wenn Radames sich nach dem Schlussduett mit Aida aufstellt, stellt sich Amneris auch auf. Sie gehen aufeinander zu und halbwegs wird das Licht ausgeschaltet, und da endet die Vorstellung.
Was ist aber die Grundidee der Inszenierung? Der Weg zur glücklichen Ehe? Oder der Traum des Orientalismus? Oder ist sie eine autobiographische Abbildung des Lebens Verdis, der mit Giuseppina Strepponi verheiratet war, aber zu viel an Maria Stolz dachte, die die Rolle der Aida in der Mailänder Erstaufführung gesungen hatte? Mann kann die Inszenierung auf viele Arten interpretieren und verschiedene Schlussfolgerungen ziehen – am Ende bleibt sie der Musik gegenüber nichtssagend, widersprüchlich und respektlos.
Man muss jedoch dem Regisseur dafür danken, dass er einen Weg zu einem fantastischen musikalischen Erlebnis gebahnt hat. Die Nutzung des ganzen Zuschauerraums schafft eine „ Blase“, in der das Publikum der Musik ganz nahe ist.
Der italienische Dirigent Giampaolo Bisanti bot ein furioses, detailreiches Dirigat des Orchesters der Deutschen Oper Berlin. Das Orchester brachte das Orientalische deutlich hervor, besonders die Holzbläser im ersten Akt und während des Balletts. Da spielten die Musiker kompakt und raffiniert und wurden auch von den Celli mit Feuer beantwortet. Es mangelte auch nicht an Sensibilität – die Violinen spielten die Pianissimi im Preludio und die noch leiseren Pianissimi am Ende der Oper zauberhaft schön.
Der Chor war einfach magisch! Die Profis sangen mit transparenter Harmonik und schwebender Glasklarheit in den ersten zwei Akten und schicksalsvoller Spannung vor und während des Schlussduetts.
Der spanische Tenor Jorge de León stellte einen robusten, muskulösen Radames dar. Obwohl er manchmal eindimensional und schwerbeweglich klang, hatte er eine glanzvolle Durchschlagskraft in seiner Stimme und eine stabile Höhe. Er sang die „Celeste Aida“ mit großer Leidenschaft und sein „Sacerdote, io resto a e“ am Ende des dritten Aktes hätte das Dach wegblasen können.
Eine bessere Mezzosopranistin als die Russin Anna Smirnova konnte Radames als seine Ehefrau Amneris nicht finden. Sie hat eine ziemlich helle Stimme für eine Mezzosopranistin, weshalb sie manchmal zu angestrengt im tiefen Register erklang. Aber sie konnte die Gefühle der Amneris glaubwürdig differenzieren. In der ersten Szene des vierten Aktes bot sie eine souveräne Dramatik mit großem Selbstvertrauen, und in den weichen Momenten hatte sie eine wunderschöne Sentimentalität.
Der Star des Abends war vor allem die Titelheldin, die leider in dieser Inszenierung ungerechterweise zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Die russische Sopranistin Tatiana Serjan hat sich in den letzten Jahren einen großen Namen gemacht. Heute ist sie eine der gefragtesten Sängerinnen in ihrem Fach – sie singt in dieser Saison auch noch im Théâtre des Champs-Elysées in Paris, an der Wiener Staatsoper und am Mariinski-Theater im russischen St. Petersburg.
Ihre Stimmenkontrolle ist einfach stratosphärisch! Wie sie sich in dieser Partie mit ihrer Gestaltungskraft und einer unglaublichen Atemtechnik von Pianissimo zu Fortissimo bewegte, war unfassbar. Die Legati und Pianissimi waren die der Klasse einer Montserrat Caballé. Sie sang so entspannt, als ob sie eine Rolle für Anfänger gesungen hätte und nicht die schwierigste Sopranrolle von Verdi. Ihr außergewöhnlich warmes Timbre und ihre glitzernde Höhe sind perfekt geeignet für diese Rolle. In der Nil-Arie konnte man die Tränen nicht zurückhalten.
Noel Bouley sang einen kraftvollen, bösen Amonasro. Seine Stimme erinnert in dieser Rolle ein wenig an Sherrill Milnes. Ante Jerkunica und Ievgen Orlov waren auch überzeugend als der König respektive Ramfis.
Dieser Abend war dank den Musikern einer der besten Verdi-Abende, die man erleben kann. Der Regisseur und sein „Regietheater“ konnten der Musik des Meisters nicht im Weg stehen. An diesem Abend, war der Komponist der Sieger. Viva Verdi!
Yehya Alazem, 30. September 2017, für
klassik-begeistert.de