Don Carlo © Bernd Uhlig
Berlin, Staatsoper Unter den Linden, 16. September 2023
Premiere am 13. Juni 2004
Giuseppe Verdi, Don Carlo
Massimo Zanetti, Dirigent
Philipp Himmelmann, Inszenierung
Staatskapelle Berlin
Staatsopernchor Berlin
von Dr. Andreas Ströbl
Seit es Ideologien und Religionen gibt, werden andere unterdrückt. Seit es Imperien gibt, leiden die besiegten Völker. Und seit es Familien gibt, herrschen dort immer wieder Sprachlosigkeit und Unverständnis bis zur völligen Zerrüttung.
Philipp Himmelmanns Inszenierung von Verdis „Don Carlo“ an der Berliner Lindenoper ist nun schon fast 20 Jahre alt, aber sie ist so zeitlos-modern, dass diese Produktion auch noch in den kommenden Jahrzehnten aktuell und verständlich sein wird.
In dieser Königsfamilie fehlen Ehrlichkeit, Liebe und Empathie, dagegen bestimmen Misstrauen, die Verzweiflung am Funktionieren-Müssen und die Unterordnung eines möglichen Miteinander unter die Staatsraison das Klima dieser Herrschersippe. Die Geschichte der Oper, die in Berlin in der vieraktigen Version aufgeführt wird, ist bekannt, aber hier greift man noch schneller zur Waffe, die Pistole sitzt locker und wird auch mal als bedrohliches Requisit in erotische Spielchen integriert. Die Gewalt, ob ausgeführt oder potentiell vorhanden, prägt Handlung und Atmosphäre. Das passt hervorragend zur düsteren Musik der Oper, in der Verdi ja eine weitaus größere Kongruenz zwischen Libretto und Partitur einsetzt als in den meisten seiner anderen Opern. Hier wird nicht zum ¾-Takt gestorben oder gemordet, Moll-Tonarten und eine durchgehende Melancholie charakterisieren den musikalischen Duktus. Auch die Verwendung von Leitmotiven wie dem berühmten Freundschaftsmotiv schafft eine stärkere atmosphärische Dichte und Stimmigkeit.
Das zentrale Requisit auf der Bühne von Johannes Leiacker ist ein Tisch, der als Symbol des gemeinsamen Essens eine gezwungene Familiarität beschwört; auf ihm legt König Philipp II. auch seine Geliebte, die Prinzessin Eboli flach – anders kann man das nicht ausdrücken.
In den Kostümen hat Klaus Bruns jede Historisierung vermieden; sie entstammen allesamt der Jetztzeit und sind in ihrem Mix aus Uniformität und Beliebigkeit beklemmend unindividuell – schließlich hat die Einzelperson mit ihren eigenen Vorstellungen, Sehnsüchten oder Ideen keinen Raum in einer Gesellschaft, in der sich weltliche und kirchliche Macht gegenseitig den Rang ablaufen. Schwarz, weiß und grau sind die dominierenden Farben, nur bei zwei Personen knallt festliches bzw. machtanzeigendes Rot in die Szenerie.
In den Chorszenen kommen mögliche eigene Ausprägungen im Habitus vor einer faschistoid anmutenden Uniformierung gar nicht erst auf. Dieser Eindruck wird während der Ballade der Prinzessin Eboli noch gesteigert, indem die Hofdamen, die wie eine Mischung aus einer BDM-Truppe und einer Sicherheitsfirma daherkommen, die Szene zu einer gemeinsamen Schießübung nutzen. Das ist semantisch vielleicht etwas dick aufgetragen, passt aber zum Gesamtentwurf der Produktion.
Sehr geschickt eingesetzt sind die Aufbrüche des Raums zum Hintergrund hin durch Quadrate und Rechtecke, die sich erweitern, verengen und verschieben. Das ist unaufdringlich und mit dem Licht von Davy Cunningham perfekt abgerundet – man sieht keine Stoffbahnen oder dergleichen; das Ganze wirkt natürlich fokussierend und strukturierend wie im Film.
Musikalisch ist der Abend grandios, denn mit Massimo Zanetti steht ein Dirigent auf dem Pult, unter dem die makellos spielende Staatskapelle Berlin gleichwohl die Schwere dieser Musik dramatisch erlebbar macht wie auch die Innigkeit der lyrischen Szenen mit Delikatesse zeichnet – das ist leidenschaftlicher, warmer Verdi-Ton mit existentiellen Abgründen, sowohl in den kraftvollen Tutti-Stellen wie auch in den Solo-Passagen. Das Orchester spielt trotz der Klangfülle niemals zu laut, alles ist dynamisch perfekt ausgewogen. Das Blech ist ausgezeichnet und gibt Macht und Gewaltherrschaft klanglich eine bedrohliche Größe, während die Erste Violine und das Cello zu Beginn des dritten Aktes herzergreifend klagen.
Zu Herzen gehen auch die Stimmen, die Solo-Partien sind sämtlich hervorragend besetzt. Zwar hat die Titelfigur wenig Einzeleinsätze, aber die meistert Stefan Pop mit klarem, nur angedeutet schluchzendem Tenor bravourös. Sein Infant ist voller Schmerz und Trauer, er gibt der Figur im Spektrum zwischen Aufbegehren und Resignation gesanglich psychologische Tiefe. Wer ihn vor Kurzem als Cavaradossi in Hamburg gesehen hat, bewundert seine Wandelbarkeit und seine männliche, aber feinnervige Gesangskunst.
Das gilt auch für seinen Freund Rodrigo, den Alfredo Daza mit virilem, kernigem Bariton gibt. Was im Freundschaftsduett und der Kerkerszene wirklich gesagt wird, illustrieren er und Pop stimmlich, denn entweder hat die Personenregie die beiden etwas im Stich gelassen oder, was eher anzunehmen ist, die Reduktion ist hier ein Stilmittel, um Beziehungslosigkeit anzudeuten – trotz all dem, was im Libretto steht. Dieser Marquis Posa ist voller Anteilnahme, Begeisterung und freundschaftlicher Nähe.
Machtbewusstsein, Kälte und fehlendes Liebesvermögen prägen die Figur Philipps. II., von René Pape seit der Premiere eindrucksvoll verkörpert. Hat man den großen Bass in den vergangenen Jahren mitunter etwas angeschlagen erlebt, so gibt er diesem König doch die ganze notwendige Fülle und einen ausgesprochen differenzierten Ausdruck. Er formt mit dem ganzen Spektrum an Dynamiken und Höhen diese Figur, die von Unbarmherzigkeit bis zum Eingeständnis seiner Angreifbarkeit und Todessehnsucht alles in sich trägt. Mit feinen Crescendo-Skalen schafft er sensible Übergänge innerhalb der Stimmungen und Aussagen.
Sein Gegenüber ist stimmlich und von der Hierarchie her der Großinquisitor – hier kämpfen zwei Bässe um die Macht und Falk Struckmann bietet dem König auf beängstigende Weise Paroli. Der Sänger muss nicht viel tun; seine starke, ja mächtige Stimme zeigt an, wer letztlich das Sagen im Staate hat. Bei seinem ersten Auftritt wirkt er wie ein Mafioso mit Priester-Collar, am Ende erscheint er in Kardinalsrot, um jeglichen Restzweifel an seiner durch eine unbarmherzige Gottheit legitimierte Stellung auszuräumen.
Ekaterina Gubanova als Eboli beeindruckt in ihrem beweglichen Mezzosopran, der girrende Erotik, intrigantes Agieren und aufrichtige Reue darzustellen vermag. Sie ist ebenso bühnenpräsent wie zurückgenommen, wenn es die Handlung erfordert.
Die große Überraschung des Abends ist der spontane Einsatz der Sopranistin Gabriela Scherer, weil Adriane Queiroz an diesem Morgen ohne Stimme aufgewacht ist und die Königin Elisabeth von Valois nur stumm spielen kann. Hand aufs Herz – bei dieser hier klar mangelnden Personenregie hätte sie die Rolle auch komplett übernehmen können. Sie singt die Partie kristallklar, lässt Hoffnung überzeugend aufblühen und gibt gleichermaßen der finalen Todessehnsucht, die eben auch sie schließlich übermannt, eine bedrückende Stimme.
Grigory Shkarupa als Mönch bzw. Kaiser Karl V. inkognito ist der dritte Bass und rundet das Ende mit all seiner Illusionslosigkeit auch gesanglich ab.
Den Solistinnen und Solisten, die im übrigen allesamt in Duett, Terzett und Quartett ausgewogene Einheiten bilden, steht der ebenso ausdrucksstarke wie akkurat singende Chor unter Leitung von Daniel Juris gegenüber. Die Produktion ist ja nun über Jahre bewährt, aber alles wirkt frisch und energiegeladen.
Zentrale und auch in dieser Inszenierung härteste Szene ist das Autodafé, bei dem der königlichen Familie die Ketzerverbrennung gleichsam als Unterhaltung zum Essen dient. Allein Don Carlo erträgt es irgendwann nicht mehr und er verlässt den Tisch, um sich nicht gleich übergeben zu müssen. Die Stimme von oben steht hier als elegante Sängerin, nämlich Viktoria Randem im bordeauxroten Kleid neben der Tafel, um das widerliche Schauspiel völlig zu entlarven. Wer sich mit frühneuzeitlichen Hinrichtungsmethoden befasst hat, wird zustimmen, dass auch das Aufhängen nackter, ausgepeitschter Leiber, die man zuvor mit Benzin übergossen hat – die Münder der Delinquenten haben die Schergen brutal mit Klebeband verschlossen, damit das Schreien das Diner nicht stört – nur ein harmloser Abklatsch dessen ist, was sich Kirche und Herrscher alles haben einfallen lassen. Die Kombination von Tod und Tafel, Speise und Nacktheit wirkt so, als hätte Peter Greenaways Film „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ von 1989 dazu Pate gestanden; auch hier geht es um Machtmissbrauch und die verzweifelte Suche nach Liebe; das Ende ist denkbar grausam.
Man kann hier gar nicht ehrlich genug sein und bei allem inflationären Zeigen von Nacktheit auf den Bühnen der Welt ist dies Mittel hier einzig angemessen und aufrichtig. Ein „Buh!“ gibt es dafür anschließend von jemandem, der die Wahrheit nicht erträgt und wird – Ehrensache! – sofort mit einem „Bravo!“ des Rezensenten erwidert.
Am Ende sitzt die durch den Tod des Infanten und seines idealistischen Freundes zusammengeschrumpfte Kernfamilie mit dem Großinquisitor am Teetisch. Die Plätzchen dazu bleiben einem im Halse stecken.
Abgesehen von zahlreich und herzlich gespendetem Szenenapplaus belohnt das Berliner Publikum die Leistungen aller Mitwirkenden mit frenetischem Beifall.
Dr. Andreas Ströbl, 17. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Giuseppe Verdi, Don Carlos Wiener Staatsoper, 27. September 2020