Foto: La Traviata, LAC © Dr. E. Ritterband
Das elegante Kulturzentrum LAC (Lugano Arte e Cultura) ist Schauplatz sehenswerter Ausstellungen (gegenwärtig Paul Klee), exquisiter Konzerte und, selten, von Opernaufführungen – zuletzt war hier „Il barbiere di Siviglia“ zu sehen. Mit der „Traviata“ hat das LAC sich den Platz im Olymp der internationalen Opernwelt gesichert: Das hervorragende Orchestra della Svizzera Italiana, einer der führenden Klangkörper des Landes, unter der dynamischen Stabführung von Markus Poschner und ein Ensemble exzellenter Sängerinnen und Sänger machten die Aufführung dieser populären Oper zum Erlebnis – Regie (Carmelo Rifici) und Bühnenbild (Guido Buganza) machten sie zum Gesamtkunstwerk, das sich nahtlos in den Stil der Architektur des LAC einfügte.
LAC Lugano Arte e Cultura, 2. September 2022
Giuseppe Verdi, La Traviata
von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)
Die „Traviata“, wegen unzulänglicher Interpreten und der anspruchsvoll-heiklen Thematik bei ihrer Uraufführung am 6. März 1853 ein eklatanter Misserfolg, wurde alsbald – neben „Carmen“ – zur populärsten und meistgespielten Oper auf sämtlichen Bühnen der Welt. Das ist natürlich, für die Häuser und Freiluftbühnen, ein unschätzbarer Vorteil – für die Regisseure hingegen eine stetige Herausforderung: Wie die allseits bekannte Handlung immer wieder neu, mit packenden Ideen, Interpretationen und Bühnenbildern inszenieren, ohne dieser phänomenalen und so überaus anspruchsvollen Oper Gewalt anzutun? Stets droht in der Kulisse das berüchtigte „Regietheater“; als Zuschauer oder Kritiker wecken die allzu bekannten Opern Erwartungen und (oft berechtigte) Befürchtungen.
In Lugano durften wir eine Aufführung erleben, die in der Eleganz der Bühnenbilder mit ihren transparenten, raffiniert beleuchteten Schleiervorhängen, der fantastischen Kostüme und der Choreographie die luxuriöse Eleganz dieses ultramodernen Kulturpalastes unmittelbar an der Seepromenade mit ihrer atemberaubend schönen Landschaft widerspiegelte. Natürlich ist die Akustik des nicht allzu großen, vollständig mit Holz ausgekleideten Zuschauerraums genauso perfekt, wie man es von diesem Gebäude (und der Schweiz…) erwartet – und die Perfektion zog sich durch den Orchestergraben bis hin zur Bühne.
Doch die Inszenierung (Regie Carmelo Rifici, Bühnenbild Guido Buganza), ein ästhetisch ausgefeiltes Gesamtkunstwerk zweifellos, gab einiges zu denken und zu rätseln. Chor und Tänzer – beides erstklassig – hatten wohl eine Art Jagdgesellschaft darzustellen, darauf deuteten ein pirschender Jäger (auch Alfredo polierte im Landhaus im zweiten Akt ein Jagdgewehr) und mehr noch die als englische Jäger kostümieren Choristen im dritten Akt hin. Diese ersetzten die üblichen, dem spanischen Souvenir-Shop entsprungenen Flamenco-Tänzerinnen und Stierkämpfer an Flora Bervoix’ rauschendem Fest (worüber man einen Seufzer der Erleichterung ausstieß). Die Jagdgesellschaft hatte wohl in dieser so sozialkritischen Oper die skrupellose, vergnügungssüchtige Oberschicht zu präsentieren, welche „Jagd“ auf das schutzlose Individuum macht – in diesem Falle die „Gesellschaftsdame“ Violetta Valéry. Eine originelle, intelligente Variante.
Das Programmheft bestätigt diese Vermutung, ist doch in den Anmerkungen zur Inszenierung die Rede von einer männlich dominierten, gewalttätigen Gesellschaft und ihrer Heuchelei. Es handle sich, wird weiter erklärt, um ein „imaginiertes 18. Jahrhundert“.
Dann gab es noch weiteres zu rätseln: Über ein weiß gekleidetes Mädchen vor allem, das in nahezu allen Szenen als stumme Beobachterin präsent war. Das Mädchen, so die Regie, verkörpere den zweiten Aspekt der Violetta, nämlich der Unschuldigen, welche der Rolle des Opfers nicht entkommen könne. Die „Traviata“ sei „kein sanfter Traum“, sondern eine grausame und zynische Geschichte.
Weiter werden unter dem programmatischen Motto „Licht und Schatten“ kleine Karussells von scherenschnittartigen Figuren gezeigt, die riesige Schatten werfen – von dem kleinen Mädchen neugierig und fasziniert beobachtet. Unter anderem sind da zwei Bösewichte („ein alter Mann, vielleicht der Tod“, heißt es in den Programmheft-Erläuterungen). Wieso aber dieser alte Mann unverkennbar die Züge einer grässlichen antisemitischen Karikatur eines bösen, hässlichen Juden mit allen sattsam bekannten bösartig überzeichneten Merkmalen trägt, welche aus dem Nazi-Propaganda-Organ „der Stürmer“ stammen könnte, bleibt schleierhaft. Man möchte niemandem etwas unterstellen – vielleicht hat man es sich bei dieser Darstellung unreflektiert allzu einfach gemacht. Vielleicht aber war auch, wie bei allem anderen in dieser doch dezidiert intellektuellen Inszenierung, doch ein Hintergedanke dabei. Aber welcher? Diese Oper hat ja nicht das Allergeringste mit dem Thema Juden und Antisemitismus zu schaffen.
Unzweideutig und überaus positiv waren jedoch die gesanglichen Leistungen: Myrtò Papatanasiu meisterte die stimmlich und emotional so überaus anspruchsvolle Partie der Titelfigur mit Bravour und leidenschaftlicher Hingabe, mit einer farbenprächtigen und doch kraftvollen Stimme. Als kongenialer Partner, mit wunderbarem Timbre, Präzision und tenoralem Schmelz Airam Hernández als Alfredo Germont. Mit virilem und warmem Bariton, zu Recht umjubelt Giovanni Meoni in der Rolle des Vaters Giorgio Germont. Eine denkwürdige Aufführung, die ästhetischen Genuss auf allen Ebenen vermittelte – und gleichzeitig einiges zu denken gab.
Dr. Charles E. Ritterband, 5. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Dirigent: Markus Poschner
Regie: Carmelo Rifici
Bühne: Guido Buganza
Violetta Valéry: Myrtò Papatanasiu
Alfredo Germont: Airam Hernández
Giorgio Germont: Giovanni Meoni
Orchestra della Svizzera Italiana
Bühnenmusik: Civica Filarmonica di Lugano (Dirigent: Franco Cesarini)
Coro della Radiotelevisione Svizzera
Chormeister: Andrea Marchiol
Giuseppe Verdi, La Traviata, Staatsoper Hamburg, 17. März 2022
Giuseppe Verdi, La Traviata, Arena di Verona, 02. September 2021
Giuseppe Verdi, La Traviata, The Royal Opera London, 21. Dezember 2019