Violetta stirbt und die Violinen flirren und flimmern fiebrig

Giuseppe Verdi, La traviata
Bayerische Staatsoper, München, 26. April 2017
Musikalische Leitung – Andrea Battistoni
Inszenierung – Günter Krämer
Bühne – Andreas Reinhardt
Kostüme – Carlo Diappi
Violetta Valéry – Sonya Yoncheva
Flora Bervoix – Rachael Wilson
Alfredo Germont – Artur Chacón-Cruz
Giorgio Germont – Leo Nucci
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper

Von Maria Steinhilber

Selbst, wenn man „La traviata“ noch nie gesehen hat, denkt man an Drama. Ja, diese Oper ist pures Drama! Am Mittwoch war die Bayerische Staatsoper mal wieder ausverkauft. Die Sopranistin Sonya Yoncheva sang die Violetta Valéry. Zuletzt hat sie diese dramatische Rolle an der Metropolitan Opera in New York verkörpert, die Zuschauer haben sie gefeiert. Viele nennen sie „die beste nach der Callas“.

Ein sehr liebliches Dirigat des 30 Jahre jungen Andrea Battistoni leitet den Abend ein. Das Bühnenbild ist interessant, passend und lebendig. Rote Türen erinnern an das Moulin Rouge in Paris, an viele kleine Türen, die zu verschiedenen Kurtisanen führen. Die Party-Gäste sind wild beschmückt, mit viel Glitzer und Seide. Violetta trägt ein weißes Kleid, an dem eine rote Blume steckt. Sie hält einen giftgrünen Cocktail in der Hand. Die Party ist im vollen Gange. „Du bist dran, Alfredo“, fordert sie diesen auf, und Alfredo stimmt ein Trinklied auf die Lust, das Leben und den Genuss an.

Artur Chacón-Cruz, der Alfredo, hat eine sehr offene Stimme; im Gegensatz zu Violetta wirkt er in den ersten zehn Minuten um einiges schwächer. Doch er singt sich im Laufe des Stückes freier, wird von Akt zu Akt besser, auch wenn er seiner Kollegin nicht ebenbürtig ist. „Der Tenor ist aber heute nicht ganz fit“, hört man Leute murmeln…

La traviata, „die vom Wege abgekommene“ Violetta, singt die Bulgarin Sonya Yoncheva. Sie hat ein solches Volumen, dass sie gefühlt das ganze Orchester zusammen singen könnte. Der dramatische Koloratursopran steht ihr vorzüglich. Oft musste sie schon für Anna Netrebko einspringen und hat sich auch dadurch einen Namen auf den Bühnen der Welt gemacht. Ein starkes Vibrato schmückt ihre Stimme, und in den hohen Lagen hat sie eine wahnsinnige Ausdruckskraft.

Ihr geliebter Tenor Alfredo ist zwei Zentimeter kleiner, und genau dieser Größenunterschied lässt sich auch auf seine heutige Darbietung übertragen. Artur Chacón-Cruz ist ein glänzender Sänger, bleibt aber stets berechenbar.

Sonya Yoncheva zielt auf den Wesenskern einer Phrase. Sie hat eine weiche und füllige Mittellage, kräftig und dramatisch singt sie die tieferen Töne. Ihre Höhe ist intonatorisch perfekt und verfügt über eine große Strahlkraft – hier steht ein Weltstar auf der Bühne. „Meine Stimme ist eine mächtige Waffe“, sagt die Bulgarin, doch viel wichtiger ist ihr noch, die Geschichte ihrer Figur darzustellen. Und diese Violetta stellt sie wunderbar dar. Starke Frauen sind genau ihre Rollen! Violetta will eine tadellose Frau sein; auch wenn sie in der Gesellschaft eine „Halbwertdame“ ist, ist sie durchaus zu bewundern. Für ihre Liebe zu Alfredo verzichtet sie auf ihr bequemes Leben. Dieses Leistungsbewusstsein und sogleich die Leichtigkeit der Violetta singt und spielt Sonya an diesem Abend fantastisch – sie verdient durchaus die Bezeichnung „kleine Schwester der Netrebko“.

Nach schon 30 Minuten geballter romantisch dramatischer Musik reißt der rote Vorhang Violetta hinter sich, sie singt ihre Arie „È strano! … Ah, fors’è lui“, hebt ihren schönen Kopf und das Scheinwerferlicht beleuchtet nur sie allein: wunderschöne Musik, kleine Lichtspiele sowie ein gehobener Kopf – das ist Drama pur. Die Menge applaudiert. Pause. Viele haben Lust auf Drinks.

In der Mitte des zweiten Aktes tritt Giorgio Germont, der Vater Alfredos, auf. Der Bariton Leo Nucci ist neben Sonya Yoncheva die größte Attraktion des Abends. Seine Stimme ist der Sopranistin ebenbürtig. Er spielt den alten Vater ausdrucksstark und authentisch, humpelt auf der Bühne herum und macht nur sachte und geruhsame Bewegungen. In seiner Stimme liegt eine große Ausdruckskraft, sein Spiel ist so graziös, dass das Publikum ihm die Rolle eines alten Vaters zu 100 Prozent abkauft. Tatsache ist, dass dieser Sänger stolze 75 Jahre auf dem Buckel hat. Er verdient großen Respekt für seine Leistung. Er ist der beste männliche Sänger und singt seinen 35 Jahre jüngeren Tenor-Kollegen ordentlich in die Tasche. So erntet er auch neben Yoncheva den meisten Applaus.

Sonya Yoncheva sagte in einem Interview mit der Metropolitan Opera New York, dass die Szene mit Alfredos Vater eine ihrer Lieblingsszenen sei. „Außer Alfredo habe ich niemanden auf der Welt“, singt sie und schlägt die Bitte des Vaters, von ihrer Liebe abzulassen, ab. Der riesig große Kronleuchter, der noch zu Beginn hoch oben auf der Bühne hing, ist jetzt nur noch halb bedeckt und nach unten gesunken. Violettas Figur beginnt langsam auf ihre schlimmsten Tage zuzueilen …

Der Chor der Bayerischen Staatsoper spielt eine wichtige Rolle. Er ist mitreißend und groß. Und er kann die leisen Partien auch im genügend leisen Pianissimo singen. Neben den vielen Duetten und Konversationen mischt der Chor das Geschehen großartig auf. Nur einmal, im Finale des zweiten Aktes, vereinen sich Soli und Chor zu einem kunstvollen Ensemblesatz – der großartige musikalische Höhepunkt. Die Solisten und der Chor, die großartige und sehr verständliche Inszenierung mit ihrem Mix aus schrillen Kostümen und einer nicht zu voll gestellten Bühne sowie das Orchester wirken so eingespielt, dass die Konzentration nie auf nur einem Part liegt, sondern alles wunderbar ineinander fließt.

„Addio! Ach alles ist nun vorbei“, singt Valerie auf dem Sterbebett. Sie stirbt in unsagbarer Schönheit, die Violinen flirren und flimmern fiebrig. Bestürzt sinkt Sonya Yoncheva zu Boden, und kurz steigen mir Tränen ins Gesicht. Der Kronleuchter ist nun ganz gesunken. Ein bewegender Abend und eine noch bewegendere Oper gehen zu Ende. Heute wie auch damals im Pariser Théâtre des Italiens in der Saison ab 1856/57. Damals entfielen 54 von 87 Vorführungen auf die Verdi-Trilogie: „Rigoletto“, „Der Troubador“, „La traviata“. Das Publikum kann von diesen Opern nicht genug bekommen. Verdis Musik ist laut Georges Bizet eben manchmal aufreizend, aber nie langweilig! Auch das erklärt ein rappelvolles Opernhaus an diesem Mittwochabend.

Danke für diesen wertvollen Abend, liebe Oper, Addio und bis zum nächsten Mal!

Maria Steinhilber, 26. April 2017 für
klassik-begeistert.de

Ein Gedanke zu „Giuseppe Verdi, La Traviata, Sonya Yoncheva, Leo Nucci, Andrea Battistoni,
Bayerische Staatsoper, München“

  1. „Die beste nach der Callas.“ So ein Unsinn. Ziemlich sicher hat keiner von denen, der sowas sagt, die Callas je gesehen oder kann das beurteilen. Ich persönlich habe jedenfalls nie eine bessere Violetta gesehen als Sonya Yoncheva, und ich habe in 30 Jahren so einige erlebt, darunter Anna Netrebko, die Koloraturen nicht gut singen kann. Traviata ist Yonchevas absolute Paraderolle, da sitzt und gurgelt und passt einfach alles. Nur leider steht zu befürchten, daß sie sich bald ihre Stimme ruinieren wird, denn nun singt sie schon Tosca und Elisabetta. Was Nucci angeht – es gibt im Augenblick keinen, dem diese Rolle besser passen würde. Allein wie der phrasiert! Da wird jedes Portamento exakt gesungen, wie es da steht und sich gehört. Bravi!
    W. Eck

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